30. September 2015

"Juliane" von Arno Grohs

Juliane, eine Waise, versucht mit Anfang 20 ihr Leben in den Griff zu bekommen. Nach erfolgreicher Ausbildung zur Näherin zerbricht ein Traum und sie steht erneut auf der Straße. Rückschläge wechseln sich mit negativen Erfahrungen ab.

Zu allem Überfluss fühlt sich die junge Frau beobachtet und verfolgt. Juliane leidet unter den psychischen Belastungen und als ihr, durch die Eröffnung eines unerwarteten Testaments, einiges klar wird, ist das zu viel für sie. Juliane findet sich in der Psychiatrie wieder und muss erneut von vorne beginnen. Zum Glück gibt es Menschen, die auf sie aufmerksam geworden sind und andere, die ihr Halt geben.

Rückblicke in die Kindheit, unerwartete Wendungen und gefühlvolle Momente wechseln sich ab und führen durch ereignisreiche Zeiten in Julianes Leben.

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Leseprobe:
Tränen rannen ihre eingefallenen Wangen hinab. Verärgert wischte die junge Frau sie achtlos mit dem Handrücken weg.
»Verdammt! Reiß dich am Riemen, Juli!« Sie hielt den, vor Wut zerknüllten, vom Regen durchweichten Brief in zitternden Händen. Vor einer Woche hatte ihr Freund sie verlassen, sie waren erst ein paar Monate zusammen gewesen. Die ersten Wochen der Beziehung waren berauschend. Rainers Zärtlichkeiten hatten ihrer Gefühlswelt keine Pause gegönnt. Sie hatte es wie eine Flut empfunden, die ihre Sinne überschwemmte, die Zeit genossen und auch die kleinste Zuwendung aufgesogen. Währenddessen war ihr Selbstwertgefühl sprunghaft gestiegen.
Dann fiel Juliane eine Änderung an Rainers Verhalten auf. Er wurde schroff, vereinzelt bedrohlich. Liebkosungen nahmen ab, Tage der gemeinsamen Unternehmungen hatte es nicht mehr gegeben. Rainer hatte begonnen zu trinken und zeitweise Aggressionen an ihr abgebaut.
Trotz allem, die Beachtung wog alle Demütigungen auf. Vernachlässigung, es gab nichts Erniedrigenderes. Julianes Versuche, ihn zur Rede zu stellen, waren misslungen. Im Gegenteil, Lustlosigkeit hatte sich in Aggressivität verwandelt. Apathie hatte in solchen Situationen Schutz bedeutet. Durch sie war der Schmerz kontrollierbarer. Es gab ihr die Möglichkeit, Demütigungen zu überstehen. Sie hatte gelernt, die Angst abzuschalten, Blutergüsse zu überschminken. Sie erinnerte sich daran, als Kind ähnliche Situationen überstanden zu haben. Früh hatte sie gelernt, Anfeindungen und Schläge einzustecken. Rückzug und Passivität waren ihre Mittel gegen die Unterdrückung gewesen.
Irgendwann hatten ihre Peiniger die Lust verloren und von ihr abgelassen.
Juliane sah auf das Knäuel Papier in ihrer Hand und biss die Zähne aufeinander. Das war der dritte Job, den sie innerhalb eines Jahres verloren hatte. Auf keinen Fall wollte sie jetzt in ihrer Wohnung sitzen. Sie warf die Kündigung achtlos auf die Straße, schlug den Kragen der leichten Regenjacke hoch, öffnete den Schirm und bewegte sich in Richtung Innenstadt. Die Geschäfte waren noch geöffnet, durch die Schaufenster fiel weißlich gelbes Licht auf die verwinkelte Fußgängerzone. Je näher sie dem Stadtzentrum kam, desto entspannter wurde sie. Hier war mehr Betrieb, Passanten hetzten scheinbar ziellos von einem Geschäft in das nächste. Juliane vermied es, die Läden zu betreten, sie durchschritt nur die Lichtkegel, die, aus den Schaufenstern und Eingangstüren der Konsumtempel, nach ihr zu greifen schienen. Wie zufällig berührte sie den ein oder anderen Kunden am Arm. Diese flüchtigen Berührungen genügten ihr, um sich zu fangen. Sie mussten genügen, das hatten sie immer.
Zwei Stunden später sperrte sie ihre Wohnung auf und legte den nassen Schirm in die Badewanne. Die Schuhe streifte sie achtlos an der Garderobe im Flur ab. Ermattet ließ sich Juliane in den Sessel, der direkt am Fenster vor der Heizung stand, fallen. Sie angelte eine Decke vom Sofa und hüllte sich darin ein. Den Kopf an die hohe Lehne geschmiegt, fielen ihr die Augen zu.

»Ist das die Neue?«
»Jepp, is heute Morgen angekommen. Soll wohl so ne Art Springer sein.«
»Springer? Wie oft?«
»Der Alte sagte was von `fünfter Einrichtung`.«
»Ok, wir werden ihr zeigen, wo´s langgeht.«
Die beiden Jungen grinsten wissend. Sie beobachteten das Mädchen, welches mit zerschlissener Trainingstasche und nassem Regenmantel eine erbärmliche Figur abgab. Eine Frau führte die Neue in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter ihnen beiden. Die Jungen schlenderten betont desinteressiert vorbei und warfen einen beiläufigen Blick auf das Namensschild, das neben der Tür angebracht war. Es bestand aus einem Alurahmen, in den zwei Einschübe gefräst waren. In einem davon steckte ein Zettel mit dem handgeschriebenen Namen eines Mädchens.
»Juliane«, meinte der eine Junge spöttisch.
»Frischfleisch!«, kommentierte der andere verächtlich. Beide trollten sich in Richtung Essenausgabe.
Die spartanische Einrichtung des Zweibettzimmers bestand aus Schränken, Holzstühlen und einem mickrigen Tisch, der zwischen den Betten eingezwängt stand. Das einzige Fenster zeigte, an der Stirnseite des Zimmers, hinaus in den Garten.
Es hatte angefangen zu dämmern, dichte Wolken zogen ihre Bahn über den bleigrauen Himmel.
»Jetzt rubbeln wir die Haare trocken und räumen die Sachen in deinen Schrank.« Die Erzieherin griff nach Julianes Kleidungsstück. Sie hängte es an einen der zwei Haken, direkt neben der Zimmertür. Das Mädchen saß auf dem Bett und hielt den Kopf gesenkt. Sie umklammerte ihre Tasche mit beiden Armen, als wolle sie ihr einziges Hab und Gut niemals wieder loslassen. Die Frau betrachtete sie ein paar Augenblicke und setzte sich auf den hölzernen Stuhl gegenüber dem Bett. Sie legte die Hände ineinander und meinte,
»Komm´ erst einmal in Ruhe an. Ich weiß, an eine neue Umgebung muss man sich immer erst gewöhnen aber du wirst sehen, man kann es hier gut aushalten. Natürlich gibt es wie überall auch Regeln, aber du bist ein intelligentes Mädchen und wirst schnell herausfinden, wie der Hase läuft.« Sie machte eine Pause, um Juliane die Möglichkeit zu geben, auf das Gesagte zu antworten. Das Mädchen hielt den Kopf immer noch gesenkt und den Mund geschlossen.
»In der Schublade«, die Erzieherin zeigte auf den Tisch, an dessen Unterseite sich ein Schubfach befand, »findest du alle Regeln. Die Zeiten für die Essenausgabe, wann das Licht ausgeschaltet wird, den Plan des Gebäudes und alles Weitere, was man wissen muss. Lies sie in Ruhe durch. Heute Abend bringe ich dir etwas zu essen, du musst also nicht in den Speisesaal kommen. Ich lasse dich jetzt erst einmal alleine, damit du dich in Ruhe akklimatisieren kannst.« Damit stand sie auf und verließ den Raum, ohne sich noch einmal umzudrehen.

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29. September 2015

"Willkommen im Luhg Holiday" von Christine Erdic

Als Familie Kohlmann wegen eines vorausgesagten Schneesturms ganz spontan im Hotel Luhg Holiday einkehrt, ahnt sie noch nicht, was sie dort erwartet. In dem alten unheimlichen Haus scheint nichts mit rechten Dingen zuzugehen und schon bald finden sich die drei Kinder und ihre Eltern im unglaublichsten Abenteuer ihres Lebens wieder.

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Leseprobe:
Das Luhg Holiday lag einsam am Waldrand und es war das einzige Hotel weit und breit. Wäre das morsche Holzschild mit den Lettern Luhg Holiday nicht gewesen, hätten wir es wohl gar nicht entdeckt. Und vielleicht wäre das besser gewesen.
Da es bereits dämmerte und ein Schneesturm angesagt war, entschlossen wir uns jedoch, dort einzukehren und nach zwei Doppelbettzimmern zu fragen. Also parkten wir direkt vor dem recht verkommen aussehenden Haus und stiegen zögernd aus dem Wagen. Alle bis auf einen. Mein kleiner Bruder Jan grinste und hüpfte vorwitzig auf einem Bein die alte Holztreppe hoch, auf die verschlossene Eingangstür zu.
“Sieht nach Abenteuer aus”, stellte er zufrieden fest.
Nachdenklich folgte ich ihm und betrachtete mit eher gemischten Gefühlen den alten Türklopfer aus Messing, der wie eine Teufelsfratze aussah. Irgendetwas in mir schien mich zu warnen. Meine Eltern waren da weniger skeptisch und schoben mich energisch vorwärts, zumal sich gerade ein starker Wind aufmachte. Jan betätigte wie wild den Türklopfer.
“Es scheint niemand da zu sein. Da brennt ja auch gar kein Licht”, murmelte er enttäuscht. Tatsächlich rührte sich nichts im Haus.
“Wahrscheinlich wird das Hotel nur im Sommer genutzt. Wer außer uns ist auch so verrückt, bei solch einem Wetter durch diese Einöde zu fahren? ”, murrte Angela, die als Letzte ausgestiegen war. Sie war mit ihren vierzehn Jahren das älteste von uns drei Kindern, dann folgte ich, gerade mal elf Jahre jung und schließlich unser neunjähriges Nesthäkchen Jan.
Angela war die Vernünftige und in meinen Augen auch die Langweilige. Eben wollten wir schon umdrehen und uns zurück auf den kurzen Weg zum Auto machen, da tat sich plötzlich doch noch was. Knarrend öffnete sich die Tür und ein kleines verhutzeltes Männchen stand da mit einer Laterne in der Hand. Ja, es war wirklich eine Laterne mit einem Kerzenstummel darin. Entgeistert schaute ich auf ihn hinab, er war nicht viel größer als Jan und stand in schlechter Haltung leicht vornübergebeugt.
“Der Glöckner”, wisperte Jan kichernd hinter vorgehaltener Hand.
Das Männchen hatte einen blau-weiß gestreiften Pyjama an und trug dazu eine passende Zipfelschlafmütze, unter der ein zerknittertes Gesicht mit überdimensional großen Lauschlöffeln hervorlugte.
“Was wollt ihr?”, fragte es unfreundlich mit leicht krächzender Stimme.
“Wir suchen eine Unterkunft für die Nacht”, erwiderte Papa, nachdem er sich von seinem ersten Schrecken erholt hatte.
“Natürlich wollen wir keine Unannehmlichkeiten bereiten …”
“Unannehmlichkeiten, papperlapapp”, unterbrach ihn das Männlein verärgert.
“Erst wird man mitten in der Nacht aus dem Bett geholt und dann heißt es: keine Unannehmlichkeiten bereiten. Pah!”

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17. September 2015

"Die Mutter des Marionettenkaisers" von Ulla Schmid

Die Mutter des Marionettenkaisers erzählt die Geschichte verschiedener Akteure im untergehenden Rom um 475 n. Chr. Im Mittelpunkt steht Servilia Gracchus, die spätere Mutter des jungen Kaisers Romulus, die sich bald des Mordes an ihrem früheren Geliebten Julius Aemilius, einem einflussreichen Politiker, verantworten muss. Westrom ist schon lange am Ende seiner Weltherrschaftszeit angekommen. Auf dem Kaiserthron wechseln sich die Kaiser, die fast alle keine Macht mehr ausüben in kürzester Zeit ab. Zumeist werden sie gewaltsam gestürzt, verbannt oder ermordet. Die Macht in Händen halten die Heermeister.

Eine Vorentscheidung fällt bei der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 nach Christus. Einem weströmischen Heer mit Verbündeten aus germanischen Stämmen steht Attila mit seinen Verbündeten, ebenfalls aus germanischen Stämmen, gegenüber. Westrom kann diese Schlacht für sich entscheiden, erleidet aber große Verluste. Der Untergang ist einfach nicht mehr aufzuhalten. Es ist eine Zeit großer Umbrüche und in diese Zeit der Umbrüche platzt Orestes, Vertrauter, Gesandter und Sekretär des Hunnenkönigs Attila einige Jahre nach dem Tod Attilas.

In dieser Zeit versucht Servilia Gracchus ihr Leben in Ordnung zu bringen, wird aber des Mordes an ihrem ehemaligen Geliebten, einem einflussreichen, reichen Senator und Frauenhelden, verdächtigt. Orestes gelingt es, durch einen Trick den wahren Mörder zu entlarven und die Unschuld Servilias zu beweisen. Aus beiden wird ein Paar und die Geburt des Sohnes Romulus macht das Glück perfekt. Orestes landet mit seiner kleinen Familie im Palast und steigt die Karriereleiter hoch – und damit beginnt auch schon sein Untergang. Ein Germane im weströmischen Offiziersrang, Odoaker, wird zur großen Gefahr für Orestes und seine kleine Familie.

Und dann ist da noch Markus, ein junger Römer, der Servilia aufrichtig liebt …

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Leseprobe:
Nun erhoben sich die für das römische Reich so wichtigen germanischen Hilfstruppen und forderten Land – und ausgerechnet Odoaker war ihr Anführer. Odoaker hatte sich schon immer für seine Landsleute eingesetzt und eines Tages war er verschwunden. Orestes ahnte, wohin es Odoaker verschlagen hatte, und was er wohl plante, und doch war er überrascht. Es sollte nicht lange dauern, bis Odoaker an der Spitze der Aufständischen vor dem Kaiserpalast auftauchte.
Den Palastwachen gab er barsch zu verstehen: »Ich möchte sofort in den Palast geführt werden zu demjenigen, der die Macht innehat, und das ist sicher nicht dieses Jüngelchen namens Romulus Augustulus.«
Die Palastwachen bebten vor Zorn, was von Odoaker mit Zufriedenheit bemerkt wurde. Und doch mussten die Römer schon lange hinnehmen, dass andere Völker eben so mit ihnen umgehen konnten. Dafür ließen sie Odoaker über Gebühr lange warten, bis er zu Orestes geführt wurde. Odoaker war sowieso nicht bester Laune, und er glaubte vor Zorn platzen zu müssen. So stand das Treffen unter keinem guten Stern.
Orestes war die Hauptperson, aber Romulus stand neben seinem Vater und neben diesem Paulus. Das Gespräch führten Odoaker und Orestes und eine bitterböse Bemerkung des Odoaker, wer denn nun Kaiser sei, trieb nicht nur dem Romulus die Verlegenheitsröte ins Gesicht. Zum ersten Mal begriff der Junge, dass er nur eine Marionette seines Vaters war. Dieser und Odoaker maßen sich mit zornigen, ablehnenden Blicken.
»Ich bin gekommen, um für die germanischen Hilfstruppen Land in Italien zu fordern. In den germanischen Hilfstruppen dienen sehr gute Soldaten und du könntest bei einem Angriff auf Rom auf sie zurückgreifen; sie sind sehr zuverlässig. Du weißt sicher, dass es sich Rom nicht leisten kann, auf die Dienste der Hilfstruppen zu verzichten. Wir wollen nur ein Stück Land, das wir bebauen können, und uns integrieren.«
War es wirklich nur die Landforderung? Es soll fast ein Drittel der Reichsfläche gewesen sein. Orestes lächelte spöttisch. Wusste er wirklich nicht, dass Odoaker Recht hatte? Auf jeden Fall wusste er schon, dass er Odoakers Forderung nicht nachkommen würde. Allerdings musste er Zeit schinden. Auf jeden Fall hätte er mit den Angehörigen der Hilfstruppen sicher leben können und das geforderte Land wäre für das Reich nicht »verloren« gewesen.
Odoaker ahnte um die Gedanken des Orestes und gab ihm barsch zu verstehen: »Du weißt doch sehr genau, dass du meine Forderung nicht ablehnen kannst.«
»Gib mir noch drei Tage Bedenkzeit«, begann nun Orestes überheblich. »Ich werde dir dann sagen, wie ich mich entschieden habe.«
Odoaker bebte vor Zorn, und er sah, wie Romulus das Haupt senkte. Der Junge hatte sich überhaupt nicht geäußert. Dieser Orestes schien wirklich noch nicht begriffen zu haben, dass er es sich nicht leisten konnte, die Hilfstruppen vor den Kopf zu stoßen. Odoaker konnte sicher sein, dass Orestes seiner Forderung nicht nachkommen würde.
»Verlass dich drauf, dass ich mit den Hilfstruppen, die vor dem Palast warten, in drei Tagen wiederkomme, und glaube mir, du kannst es dir nicht leisten, uns abzuweisen. Bedenke die Folgen“, sagte Odoaker eindringlich.
Orestes grinste ihn höhnisch an. Auf keinen Fall würde er dem Ansinnen der Hilfstruppen nachgeben. Paulus indessen sah es als besser an, dem Ansinnen des Odoaker und der Hilfstruppen nachzukommen. Mit seinen wirklich guten Argumenten konnte er Orestes nicht überzeugen.
Nach drei Tagen stand Odoaker vor Orestes und er wusste schon, was Orestes ihm sagen würde: »Ich habe mich entschieden, eurem Ansinnen nicht nachzugeben. Die Hilfstruppen erhalten hier in Italien kein Land.«
»Nun, dann musst du die Konsequenzen auch tragen«, meinte Odoaker. »Du bist wirklich nicht klug, Orestes. Dass du so ein Dummkopf bist, hätte ich nicht gedacht.«
Mit den Worten »Du kannst jetzt gehen und komm mir nie mehr unter die Augen« warf Orestes den Odoaker hinaus.
Odoaker starrte ihn böse an: »Du wirfst mich jetzt hinaus, aber ich komme wieder und ich komme nicht alleine. Die Hilfstruppen gehorchen mir aufs Wort. Das wirst du noch bitter bereuen.«
Es sollte nicht lange dauern, bis Odoaker mit den Hilfstruppen reagierte.
Eines Morgens stürmte Paulus mit gehetztem Gesichtsausdruck in das Büro seines Bruders. So dringend war es, dass er nicht einmal anklopfte, was er sonst immer tat: »Schau mal aus dem Fenster«, forderte er ihn auf.
Orestes konnte sich nicht denken, was Paulus eigentlich von ihm wollte. Draußen standen die Hilfstruppen in Reih und Glied. Orestes starrte Paulus an.
»Du kannst rausschauen, wo du willst. Sie haben den Palast umstellt, Odoaker führt sie an. Sie führen nichts Gutes im Schild und sie machen schon Anstalten, den Palast zu stürmen. Warum hast du auch das Ansinnen der Hilfstruppen abgelehnt?«, meinte nun Paulus. »Hättest du doch nur auf mich gehört.«
»Bei welchen Truppenteilen der Hilfstruppen steht Odoaker?«, fragte Orestes tonlos.
»Wozu willst du das wissen? Was hast du davon, wenn du das weißt?«, gab Paulus barsch zurück. »Es nützt uns jetzt nichts mehr, aber er steht am Haupteingang des Palastes. Komm mit, dann kannst du dich überzeugen.«
Zusammen stürmten sie an ein Fenster, das über dem Haupteingang lag. Sie hörten die harte Stimme des Odoaker, der in diesem Moment den Befehl zur Stürmung des Palastes bellte. Die Hilfstruppen setzten sich gut aufgestellt rasch in Bewegung. So waren in früheren Zeiten die römischen Legionäre marschiert – diese Zeiten waren schon sehr lange vorbei.

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16. September 2015

"Hyänen im Nebel" von Jerry Black

Es ist ein lauer Sommerabend in der verschlafenen Küstenstadt Corinth, als über die vermeintliche Idylle urplötzlich das Grauen hereinbricht.

Ein mysteriöser Lieferwagen richtet in der Straße ohne Vorwarnung ein Blutbad an; Panik bricht aus, denn das Massaker war erst der Anfang.

Unerwartet finden sich die Überlebenden in einer surrealen Welt wieder, die von wilden Hyänen und einem alles umhüllenden Nebel heimgesucht wird.

Die Bewohner stehen vor einem Rätsel, nur Schriftsteller Samotta erkennt, dass eine höhere Macht hinter den Ereignissen steckt. Doch als umliegende Städte durch den Nebel bereits vollkommen bedeckt sind, bleibt nicht mehr viel Zeit, das Grauen aufzuhalten.

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Leseprobe:
»Sally?«
Ein Grummeln.
»Sally, bist du wach?«
Ein lautes Grummeln: Lass mich schlafen.
Klark. Seine Stimme riss sie aus dem Schlaf, obwohl er eigentlich mit seinen Kumpels aus der Nachbarschaft beim Pokern sein müsste. Sein Atem roch nach Bier und Zigarren. Die teuren spanischen, die Mr. Harper, der Musiker, stets großzügig verteilte. Mit einem Auge schielte sie zum Wecker, der Viertel nach elf anzeigte. Noch recht früh für einen Freitagabend. Ihre verklebten Lider wollten sich dem Befehl zum Öffnen nicht beugen. Keine Katastrophe dieser Welt würde rechtfertigen, dass sie auf das Drängen ihres Mannes reagiere. Warum auch? Immerhin hatte Klark zu fünfzig Prozent Entscheidungsbefugnis und er war der Mann im Haus. Er war doch stets so gut darin, komplexe Probleme mithilfe seines analytischen Denkens - Klark legte enorm Wert darauf, das dauernd zu betonen - in kürzester Zeit zu lösen. Warum also sollte sie seine Frage beantworten? Nein, es gab nichts, wofür sie sich hätte umdrehen müssen. Nichts, das wichtig genug gewesen wäre, ihre bequeme Position aufzugeben. Sie tat so, als hätte sie nichts mitbekommen, schmatzte kurz, um den trockenen Mund etwas anzufeuchten, und schlief weiter.
Klark Leopold überlegte kurz, ob er sie schütteln solle. Doch letztlich war es nicht so wichtig, also ließ er von ihr ab. Ihren Schlaf hatte sie sich nach einem anstrengenden Tag mit den Kindern wohlverdient. Und ›anstrengend‹ war bei Tim und Tom noch sehr liebevoll ausgedrückt. Seine beiden Rabauken konnten manchmal wütende Monster sein und ihre Mutter ohne Umschweife in den Wahnsinn treiben. Gerade jetzt, im Sommer, da im Garten das große aufblasbare Bassin aufgestellt war. Der Rasen hatte sich in eine riesige Schlammpfütze verwandelt und Sally konnte kaum in Ruhe eine Seite eines ihrer Schmöker lesen, ohne die Kinder wegen irgendwas ermahnen zu müssen. Wasserbomben und Spritzpistolen gehörten zum alltäglichen Arsenal der kleinen Soldaten, die es verstanden, ihr Terrain mit allen Mitteln zu verteidigen. Ganz zu schweigen von der Wäsche, deren Aufhängen Sally sich hätte sparen können, hätte sie gewusst, dass diese den Brüdern als Schutzwall diente, der sie vor den selbst gebauten Schlammgeschützen bewahrte, wenn sie sich damit bewarfen. Nicht zu vergessen das Geld, das täglich für Eis und Hotdogs draufging, wenn die Kinder loszogen, um bei Trevor Banks, der sein kleines Geschäft am Ende der Two Lights Road hatte, einzukaufen. ›Nein‹ zu sagen gehörte noch nie zu Sallys Stärken, was sich in diesen Tagen deutlich in ihrer Brieftasche bemerkbar machte. Ja, Sally hatte allerhand zu tun gehabt in letzter Zeit. Darum richtete Klark fürsorglich die Bettdecke, ließ seiner Frau ihren Frieden und legte sich auf seine Seite zurück.
Sie hat es nicht gehört, dachte Klark und konzentrierte sich, zwischen dem tosenden Lärm des Windes ein weiteres Poltern wahrzunehmen. Gespannt starrte er zur Decke, die von außen durch Scheinwerfer eines parkenden Autos erleuchtet wurde. Nichts. Nur der Wind pfiff durch die Dächer der Häuser. Die Schatten der Bäume tanzten im Scheinwerferlicht, Silhouetten huschten vorbei und hinterließen einen gespenstischen Eindruck. Ein großer Sturm zieht auf, dachte Klark, der immer noch hoffte, ein weiteres Rumpeln zu hören, um den Ursprung zu lokalisieren. War da vorhin überhaupt was? Oder war es doch nur der Wind? Was, wenn es ein Dachziegel war, der auf seinen Wagen geknallt war? Eine schreckliche Vorstellung. Gerade jetzt, da Sally auf der Suche nach einem neuen Job war und momentan nur er das Geld nach Hause brachte. Als Lehrer in der Cape Corinth Grundschule war er maximal ein Durchschnittsverdiener. Es reichte vorn und hinten nicht. Obendrein wuchsen die Zwillinge unaufhörlich und brauchten ständig neue Kleidung. Jetzt noch eine Reparatur? Das fehlte noch! Die vielen Versicherungen, die Raten für den Wagen, die Raten für das Haus. Im Moment wuchsen Klark die Kosten über den Kopf und das war, dachte er, bei 1,92 Meter Körpergröße schon beachtlich. Wenigstens seinen Sinn für Humor hatte er nicht verloren.
Leises Schnarchen und zufriedenes Schmatzen signalisierten Klark, dass seine Frau einen ruhigen Schlaf hatte, worum er sie maßlos beneidete. Er hingegen lag wach im Bett und kämpfte mit Schlaflosigkeit. Zu sehr rumorte es in seinen Armen und Beinen, als dass er Ruhe finden würde. Dieses Ziehen, dieses Brennen, dieser unaufhörliche Drang, sich bewegen zu müssen. Es wird Zeit, endlich mit Dr. Hopefield zu sprechen, dachte er. Sally drängte ihn schon seit Wochen. Er gehöre in Behandlung, solle endlich herausfinden lassen, was ihn wachhält, bevor er nach stundenlangem Starren vor Erschöpfung einschläft. Er wusste, dass sie recht hatte. Sie hatte immer recht. Wäre da nicht Klarks Faulheit, was Arztbesuche anging. Doch es war schlimmer geworden und mittlerweile litten sowohl seine Familie als auch sein Job darunter, dass er tagsüber vor Müdigkeit und Erschöpfung kaum noch zu gebrauchen war. Er würde gehen, nun endlich, sagte er sich, gleich Montagmorgen. Oder vielleicht Dienstag, dann könnte er Montag noch die geplanten restlichen Schülervorträge über den Bürgerkrieg abhandeln. Wobei dienstags die Lehrerkonferenz tagt, weshalb eine Untersuchung am Mittwoch vorzuziehen wäre. Allerdings war für Mittwoch eine Sportveranstaltung mit allen Klassen geplant, deshalb … In dem Moment merkte er, dass er schon wieder versuchte, den Gang zu Doc Hopefield aufzuschieben. Er ertappte sich dabei, unbewusst mit allen Mitteln vermeiden zu wollen, von dem alten, grauhaarigen Grobian in weißem Kittel auseinandergenommen zu werden. Um das zu erreichen, verdrängte er sogar unterbewusst die Tatsache, dass heute sein letzter Arbeitstag war, er die kommenden drei Wochen seinen Sommerurlaub genießen durfte und an Dinge wie Lehrerkonferenz oder Schülervorträge nicht zu denken war. Er grinste im Halbdunkel und stellte sich vor, mit Sally diese Unterhaltung geführt zu haben. Dann wurde sein Grinsen breiter, gefolgt von einem Gähnen. Oh, ein Gähnen, dachte Klark und freute sich, die Schreckgespenster Dachziegel und Wagenreparatur unbewusst beiseitegeschoben zu haben. Er streckte kurz Arme und Beine unter der Decke, so, dass seine Muskeln beinahe verkrampften - was bei seinen Beschwerden unheimlich gut tat. Er spürte, dass die Müdigkeit langsam über die Symptome zu siegen schien, und fühlte sich bereit, sich vom Schlaf überrumpeln zu lassen.
Ein letzter Blick auf den Wecker verriet, dass seit Sallys Grummeln bereits eine Stunde vergangen war. Wenn bloß dieses Scheinwerferlicht nicht wäre, dachte er. Über den nahenden Sturm hätte er hinweghören können, aber die Lichter des parkenden Wagens warfen ein grelles Licht an die Decke, was sich durch seine geschlossenen Augen bohrte. Er fragte sich kurz, welcher seiner Nachbarn wohl vergessen hatte, die Scheinwerfer auszuschalten, stellte aber im selben Moment fest, dass es ihn nicht interessierte.
Vom Trugschluss des Gähnens getäuscht, schossen Gedanken wie Blitze durch sein Gehirn: Die Kosten! War es ein Dachziegel? Die Kosten! Doc Hopefield und seine schwieligen Hände. War es ein Dachziegel? Die Kosten! Schluss jetzt, sagte er sich und öffnete die Augen. Gepiesackt von wirren Gedanken und gestört durch das Scheinwerferlicht gab Klark die Hoffnung auf, vielleicht diese Nacht ruhig schlafen zu können. Mittlerweile hatten sich die drei getrunkenen Flaschen Foster’s in seinem Blut verflüchtigt und schieden als Schlummertrunk aus. Er richtete sich auf und blickte zu Sally hinüber. Sie schlief nach wie vor tief und fest, die Glückliche. Der Wecker hatte für Klark die bittere Mitteilung parat, dass es bereits Viertel nach zwölf war und somit der Samstag begonnen hatte. In vier Stunden würden die Kinder mit einer Schüssel Cornflakes und einer Tasse Kakao vor dem Fernseher sitzen und eine weitere Folge Masters of the Universe ansehen, um diese irgendwann im Tagesverlauf im Garten nachzuspielen. Sie würden Helme aus Plastik tragen, abgebrochene Stöcke zu Schwertern machen und die Wasserpistolen in ihrer Fantasie zu Lasergeschossen werden lassen. Auf die Frage, warum sie ihre Jungen um diese unmenschliche Zeit fernsehen ließen, hatten Klark und Sally Leopold stets lächelnd dieselbe Antwort parat: So lassen die kleinen Teufel uns am Leben.
Seit den Sechzigern hatte sich einiges getan im Fernsehprogramm. Jetzt gab es Nickelodeon, dessen Trickserien samstags und Sonntags und manchmal auch in den Ferien zu unmenschlichen Zeiten begonnen und den Kindern zeigten, wie eine muskulöse Tunte in Hotpants einem lebenden Skelett den Garaus machte. Was für eine kranke Welt, dachte Klark und räusperte sich, weil er ein Lachen unterdrücken wollte. Er musste es unterdrücken, um nicht lauthals zu kreischen.
Mit einem Satz trat Klark die Bettdecke vorn über den Bettrand. Schnell, aber nicht so schnell, dass Sally davon wach würde. Er schnaubte und versuchte, die inneren und äußeren Umstände seiner Schlaflosigkeit gelassen zu sehen, dann stand er vorsichtig auf. So, dass sein Abdruck in der Matratze sich langsam hob und keine unnötigen Vibrationen verursachte. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und dehnte die Achillessehne soweit es ging. Für den Moment tat ihm das unheimlich gut, doch sowie er wieder eine normale Position einnahm, kehrten seine Beschwerden in den Waden zurück. Verdammt seid ihr, ich hack euch alle ab, fluchte er im Geist und wünschte sich, dass endlich Montag würde. Für einen endlich normalen Schlafrhythmus würde er sich mittlerweile auch von Hopefields alten, schwieligen Pfoten begrapschen lassen. Das Licht war hell genug, dass Klark sich im Zimmer zurechtfand. Die meisten Schritte tat er ohnehin intuitiv. Zwei nach vorn, drei nach links, dann über einen großen Berg frischer Unterhosen und Socken steigen. Nur manchmal sah er noch zu Boden, um nicht barfuß irgendwo dagegen zu stoßen. Dass Schmerzen im kleinen Zeh unerträglich sein konnten, wusste er aus Erfahrung. Seine Schritte sahen akrobatisch aus, beinahe wie bei einem stolzierenden Storch. Sie waren aber notwendig, weil das Aufräumen der Unterwäsche mit Arbeit verbunden gewesen wäre. Es war also bequemer, einfach drüberzusteigen. Irgendwann würde der Berg aus Unterwäsche so hoch sein, dass Sally sich darüber aufregen würde. Dann würde es Zeit, aufzuräumen. Vorher konnte Klark sich nur schwer dazu durchringen. Da er wegen seiner nervösen Blase wenigstens einmal pro Nacht die Toilette aufsuchen musste, war die Abfolge dieser paar Meter im Dunkeln kein Problem für ihn. Nur manchmal musste er sich beim Storchengang abstützen, nämlich dann, wenn er etwas zu viel getrunken hatte. Doch heute lag alles in einem gesunden Rahmen. Außerdem war er hellwach und nicht etwa wie sonst im Halbschlaf, was die Orientierung erschwert hätte.

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15. September 2015

"Die Vorgängerin" von Tine Sprandel

Ein Todesfall erfordert schnelles Handeln: Die Boutique für Tracht und Loden in Wörgl braucht eine neue Filialleiterin. Für die Rosenheimerin Sigrid kommt der Ortswechsel gerade recht, denn nach der Trennung von ihrem Mann sucht sie einen Neuanfang, um als Single ihr Leben zu gestalten. Doch der Tod der Vorgängerin und das mysteriöse Verhalten der Kundschaft überlagern jeden ihrer Schritte. Nur wenn der Fall aufgeklärt ist, wird sie heimisch werden, folgert Sigrid und beginnt zu ermitteln.

Die Spuren führen sie durch das Tiroler Unterland bis ins Kitzbüheler Nachtleben. Sie erfährt, dass sie von einem Callboy Gelassenheit lernen kann, ein Privatdetektiv sich nicht immer wie ein Privatdetektiv benimmt und die Honoratioren mitsamt ihrer Ehefrauen in Wirklichkeit nur an Landbesitz denken. Versteckt sich in diesem Spinnennetz aus Halbwahrheiten sogar ein Mörder?

Gleich lesen: Die Vorgängerin: Kriminalroman

Leseprobe:
Die Katze gerettet, die Mappe unter dem Arm saß Sigrid später am Abend vor dem Ofen.
Neben sich eine Tasse Tee. Eine Portion Nudeln im Bauch horchte sie in die Dunkelheit.
Das Feuer prasselte gegen die Stille an. Die Katze ersparte ihr das Gefühl der Einsamkeit.
Sie hatte sich vom Regal heben lassen, war ihr in die Stube gefolgt, schnurrte und verschwand wieder nach draußen. Sigrid wusste, dass sie in der Dunkelheit ihrem Nachtgeschäft nachging. Klare Abläufe, klare Wege. Vielleicht suchte sie Mäuse, vielleicht kontrollierte sie ihr Revier.
Auf jeden Fall wusste die Katze, wo sie hingehörte.
Sigrid hatte auch Katzenfutter im Regal gefunden. Neben den Pflanzenschutzmitteln.
Eigenartige Welt. Es kam also regelmäßig jemand her, um das kleine Vieh zu füttern. Und um Pflanzenschutzmittel zu holen.
Die Mappe wirkte heilig. Verboten. Fremd. Wenn sie Frau Häringer gehörte, durfte sie sie ansehen. Schließlich war sie ihre Nachfolgerin. Wenn sie jemand anderem gehörte, legte sie sie zurück und vergaß alles, was darin stand. Abgemacht.
Es war wichtig, dieses Dokument zu lesen.
Sie presste es an die Brust und las doch nicht. Was wenn es nicht Frau Häringer gehörte und doch brisantes Material enthielt? Woran erkannte man beweisträchtiges Material? Mit Pflanzenschutzmitteln kannte sie sich nicht aus.
Sie legte die Mappe auf den Tisch und nahm einen Schluck Tee. Sie schlug den orangefarbenen Deckel zurück und fand als Erstes ein Foto.
Eine blonde Frau mit ordentlich zurückgekämmten Haaren lächelte sie an. Ungefähr Mitte dreißig. Schlank, etwas zu schlank. Eine Großaufnahme bis zum Busen. Ein rosa Dirndl schob ihn hoch und holte aus ihm heraus, was herauszuholen war. Eine Kette mit Amulett zierte das Dekolletee. Die Spitze der Bluse, nein die ganze Bluse war von feinster Qualität, eine Qualität, die sie in ihrem Laden verkauften. Das Dirndl hätte auch von dort sein können – oder von wo anders her. Rosa war im letzten Jahr die Trendfarbe gewesen. Obwohl Sigrid letztes Jahr noch Herrenmode verkaufte – diese Art Trends blieben ihr nicht erspart.
Sie drehte das Foto um, eine Aufschrift fehlte. Es könnte Iris Häringer sein – oder auch nicht. Sie müsste Maria fragen. Lieber doch nicht. Oder im Zeitungsarchiv wühlen. Sicher war bei den Berichten über den Mord auch ein Foto der Toten dabei.
Sigrid legte in Gedanken eine Liste an.
Die Mappe enthielt außerdem Zeichnungen. Viele Zeichnungen. Auf klitzekleinen Zetteln, in winzigen Strichen, Detail für Detail zeigten sie das Bärenhaus von allen Seiten. Auch von hinten, den kleinen Hof, den Schuppen, die Regale mit Paketen und Kübeln und Töpfen und Tuben.
Auf größerem Papier wuchsen Landschaften, Berge und Wolken. Diese Zeichnungen waren nicht so interessant. Sigrid starrte darauf, um herauszufinden, warum. Die Kleinen überschütteten sie mit netten witzigen Ideen. Der Ofen war nicht einfach ein Ofen, sondern er hatte ein Gesicht bekommen. Erst beim zweiten Blick zu erkennen. Fünf statt vier Beine trugen den Küchentisch. Das fünfte Bein war reich verziert und erinnerte an eine Schlange.
Die verschnörkelte Signatur konnte Sigrid nicht entziffern. War das ein I oder ein T? Sigrid entschied sich für „I. H“.
Iris Häringer. Das war doch ein Fingerzeig!
Die Bildunterschriften sprachen in Rätseln.
„Bürgermeister Willi schwimmt in der Heizung.“ Das Bild zeigte einen langen Bergrücken und in der Ferne ein Dorf.
„Primaballerina Christina übergibt sich auf dem Vogelkäfig.“
Auf dem Bild waren nur Felder und Wiesen zu sehen, ein einsamer Vogel zog seine Bahnen über einem wolkenverhangenen Himmel.
„Dirndlmeitschi Horst schreibt in den Topfdeckel.“
Ein Bach schlängelte sich durch ein beschauliches Tal am Ende ein Schornstein.
„Blitzdenker Alois küsst für die Bratwurst“. Dieses Bild war leer.
„Schlabbertasse Paulina pfeift einen Wandschrank“, titelte ein Stillleben aus Tasse und Pfeife.
Das Einzige, das ein bisschen den Worten entsprach. Aber keinen Sinn ergab. Gar keinen.
Das alles ergab keinen Sinn.
Sollte sie jetzt die Topfdeckel und Wandschränke absuchen? Sollte sie alle Horsts, Paulinas und Willis befragen? Den Bürgermeister verdächtigen?
Oder war Frau Häringer einfach nur verrückt?
Deswegen wird man doch nicht umgebracht.
Aber – so sagte sich Sigrid streng – schließlich war sie nicht hierher gekommen, um den Mörder zu finden. Sie wollte nur wissen, was ihrer Vorgängerin zugestoßen war, um den Schatten über ihrem neuen Leben als Verkäuferin in einem Dirndlgeschäft abzuschütteln.
Hatte die Häringer Angehörige? War die Polizei hier oben gewesen?
Die Mappe gehörte den Angehörigen.
Sie würde sie mitnehmen und ihnen geben.
Ordentlich.
Anständig.
Nett.
Doch vorher.
Bevor sie ordentlich anständig und nett werden würde, würde sie sich ein Notizbuch kaufen und alle Zeichnungen kopieren. Weil sie so einzigartig waren.

Im Kindle-Shop: Die Vorgängerin: Kriminalroman

Mehr über und von Tine Sprandel auf ihrer Website.

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14. September 2015

"Das Erbe der Weltenspringer" von Klaus Hartmann

Frank stellt seine mächtige Gabe in den Dienst der Menschheit, doch als er beginnt, unbequeme Fragen über die Vergangenheit zu stellen, schickt der Vatikan den fanatischen Bischof Lee Wang Cho aus, um ihn in die Schranken zu weisen …

Dies ist die Geschichte des schüchternen Kfz-Mechatronikers Frank, der im katholischen Waisenheim aufwuchs und von einem eigenen Ferrari träumt. Als er mit dem Durchbruch seiner besonderen Fähigkeit aus seiner Beschaulichkeit herausgerissen wird, findet er Halt bei der kecken Bäckereifachverkäuferin Sandra, in die er sich unsterblich verliebt. Anfangs von der Polizei und dem Militär gejagt, findet er bald einflussreiche Freunde, die seinen Dienst an der Menschheit effektiv organisieren und ihm dabei den Schutz seiner Anonymität bieten. Doch vor der großen Pein, die das Schicksal für ihn bereithält, können sie ihn nicht bewahren. Obwohl er seiner Bestimmung mehr als einmal entflieht, muss er dennoch das grandiose Scheitern der Menschheit ertragen. Sollte dies das Ende sein …?

Ein aufwühlender, wendungsreicher Roman im Genre Urban Fantasy mit einem Hauch Science-Fiction, bei dessen Lektüre die Grenzen der Realität verschwimmen und Sie am Ende nicht mehr wissen, in welcher Welt Sie sich befinden.

Gleich lesen: Das Erbe der Weltenspringer

Leseprobe:
»Herr Brechtberg, bitte nennen Sie zunächst ihre persönlichen Daten, bevor Sie mit ihrer Lebensgeschichte beginnen.«
»Natürlich. Ich heiße Frank Brechtberg, bin am 12.05.1990 in Berlin geboren und werde nächsten Monat zweihundert Jahre alt. Ich bin …«
»Momeeent«, stoppte Wintherberg Franks gerade begonnenen Redefluss. »Niemand wird zweihundert Jahre alt, wenn ich Ihnen das auch gönnen würde. Wenn Sie am 12. Mai 1990 geboren sind, dann werden Sie … zweiundsiebzig Jahre alt, was man ihnen übrigens nicht ansieht.«
»Danke, junger Mann«, sagte Frank Brechtberg. »Sie haben recht, ich sehe jünger aus. Vielleicht wie einundsiebzigeinhalb.« Er zwinkerte seinem Gegenüber schelmisch zu. »Mir ist klar, dass Sie mir zweihundert Jahre nicht abnehmen. Sie werden mir vieles nicht glauben, wie ich bereits erwähnte. Dennoch ist alles wahr, auch das Alter. Es ist nur eine Frage des Zusammenrechnens.«
»Aber …«
»Glauben Sie, dass Sie schon einmal gelebt haben?«
»Ach so meinen Sie das. Sie glauben an die Wiedergeburt.«
»Wiedergeburt? Nein. Ich wurde, so weit ich weiß, nur einmal geboren – wenngleich, wenn ich so darüber nachdenke, kann ich mir nicht sicher sein.«
»Sie sprechen in Rätseln.«
»Haben Sie bitte Geduld mit mir. Sie werden es am Ende verstehen.«
»Ich will es versuchen. Machen wir also bei den Daten weiter, bitte.«
»Wenn Sie gestatten, beginne ich jetzt lieber dort, wo es interessant wird. Alles andere werden Sie ganz nebenbei erfahren. Meine Erinnerung ist übermächtig und sucht nach einem Ventil, besonders jetzt, da ich mich schon darauf eingestellt habe, alles noch einmal zu erleben. Ja, noch ein weiteres Mal …« Franks Blick rückte in weite Ferne. Er hatte sich im Sessel zurückgelehnt und wirkte total entspannt. Jetzt schloss er auch noch die Augen und seinem Gast blieb gar nichts anderes übrig, als zuzustimmen. Einen langen Moment war es totenstill im Raum, während sich die Erinnerungen verdichteten und eine längst vergangene Zeit auferstehen ließen. Dann begann Frank leise zu sprechen:
»Es begann an dem Tag, als ich im Park erwachte ...

Im Kindle-Shop: Das Erbe der Weltenspringer

Mehr über und von Klaus Hartmann auf seiner Facebook-Seite.

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