5. März 2018

'Jene Tage in St. Germain' von Annette Hennig

Kindle (unlimited) | Taschenbuch
Liebe versteht alles
Liebe erträgt alles
Liebe verzeiht alles


Die junge, begabte Goldschmiedin Marie-Luise Schneider aus Leipzig reist 1955 mit dem festen Vorsatz nach Paris, dort Kontakte zur Künstlerszene zu knüpfen. Doch schon an ihrem ersten Abend in der Stadt der Liebe kommt alles ganz anders. Die Zwanzigjährige verliebt sich Hals über Kopf in den adretten Sébastien.

Zusammen verbringen sie wundervolle Tage und atemberaubende Nächte, bis Sébastien ihr gesteht, dass er nicht frei für sie ist. Verzweifelt und innerlich zerrissen fährt Marie-Luise nach Deutschland zurück, nicht ohne die Hoffnung, dass sich Sébastien eines Tages zu ihr bekennt.

Fortan kehrt sie jedes Jahr für ein paar Tage nach Paris in die Arme ihres Geliebten zurück. Wird sich ihr Wunsch von einem gemeinsamen Leben an der Seite Sébastiens erfüllen?

Band 1 der St. Germain-Dilogie.

Leseprobe:
Saint-Germain, 2014
Laut schrillte das altmodische Telefon. Der Ton hallte zu dieser nachtschlafenden Stunde gellend durchs Haus und drohte sämtliche Bewohner aufzuwecken. Über den Flachbildschirm des neuen Fernsehapparats flimmerten die Bilder der letzten Spätnachrichten. Eine Katastrophe schien in den vorangegangenen Tagen die nächste gejagt zu haben, wenn man der Berichterstattung der jungen Nachrichtensprecherin Glauben schenken durfte – und das durfte man durchaus: Die Bilder, die zu den Ausführungen der jungen Frau gehörten, sprachen eine deutliche Sprache.
Jean-Luc schreckte auf und blickte sich verwirrt im Zimmer um. Wieder einmal war er irgendwann im Laufe des Abends in seinem gemütlichen Fernsehsessel eingedöst. Er atmete befreit auf, als das Telefon endlich Ruhe gab. Die alte Standuhr, die in der Zimmerecke vor sich hin tickte, zeigte die letzte Stunde des Tages an. „Sowas! Wer wagt es, zu dieser Stunde anzurufen?“, brummelte der alte Mann. Dann rappelte er sich im Sessel hoch und griff nach dem Glas, das vor ihm auf einem kleinen Tischchen stand. Der letzte Schluck Bier war schal geworden. Trotzdem führte Jean-Luc das Glas an die Lippen und trank es aus. Er verzog den Mund und schüttelte den Kopf über sich selbst. Wann hatte er sich eigentlich angewöhnt, alles auszutrinken und aufzuessen, auch wenn er genau wusste, dass es ihm nicht schmecken würde?
Als das Telefon wieder zu klingeln begann, erschreckte er abermals. „Mon Dieu! Was soll denn das?“ Murrend schlurfte er in seinen Pantoffeln zum Apparat. Er hätte schon lange auf seinen Enkelsohn hören und so ein neumodisches Teil anschaffen sollen, das man mit sich herumtragen konnte. „Bequemer wär’s“, brummelte er. Doch er wusste genau, was sein Enkelsohn mit seinem schönen alten Telefonapparat vorhatte. Verscherbeln wollte er das nostalgische Ding, da war sich Jean-Luc sicher. „Der Junge denkt, ich bin senil und durchschau ihn nicht“, murmelte er.
Während er den Hörer von der Gabel nahm, rieb er sich stöhnend den schmerzenden Rücken.
„Ja!“, rief er unwirsch. Gleich darauf vernahm er eine aufgeregte Stimme: „Pépé, ich bin‘s!“
„Was? Wer?“ Erschrocken riss er die Augen auf, als ihm dämmerte, dass die Stimme zu seinem Enkelsohn gehörte.
„Rufus, Junge, was ist denn passiert?“ Was hatte der Bengel wieder angestellt? Und von wo rief er zu dieser Stunde an?
„Reg dich nicht auf, Großpapa. Es ist alles in Ordnung. Ich ... ich bin in der Stadt. In ... in einem Club. Und ich weiß nicht, wie ich nach Hause kommen soll“, stotterte der Knabe am anderen Ende der Leitung.
„Wie? In was für einem Club? Und wie bist du denn dorthin gekommen?“ Jean-Luc verstand nicht.
„Ach, Pépé, das erklär ich dir alles später. Kannst du kommen und mich abholen?“ Die Stimme des Jungen hatte einen piepsigen Klang angenommen. „Bitte“, hörte der alte Mann seinen Enkel flehen.
„Wohin soll ich kommen?“
Als Rufus seinem Großvater den Weg zu dem kleinen, mondänen Club beschrieb, vor dessen Tür er schlotternd, nur mit Hose und T-Shirt bekleidet stand, lächelte Jean-Luc still. Langsam ging er hinüber in sein Schlafzimmer, nachdem er den Hörer zurück auf die Gabel gelegt hatte. Sollte der Bursche ruhig ein wenig auf ihn warten und in der Kälte der Nacht frieren! Er hatte es verdient. Im letzten Jahr hatten Jean-Lucs Tochter und sein Schwiegersohn schon einige Kämpfe mit dem Kind ausgefochten. Pubertät nannten sie es, was den Jungen befallen haben sollte. Zu seiner, Jean-Lucs Zeit, hatte es diesen hochtrabenden Ausdruck noch nicht gegeben. Doch er war damals genauso wie sein Enkelsohn gewesen: jung, lebenshungrig, unbeschwert, den Kopf voller verrückter Ideen. Immer würde das in diesem Alter so sein, daran änderte sich gewiss auch in hundert Jahren nichts. Egal, welchen Namen man der Sache gab.
Ohne Eile schlüpfte der alte Mann in Hose und Hemd. Dann nahm er im kleinen Flur der Wohnung seine Jacke vom Haken und den Autoschlüssel vom Schlüsselbrett neben der Tür. Leise zog er die Tür hinter sich zu, und noch leiser schlich er die Treppen hinunter. Tochter und Sohn bewohnten das Obergeschoss, und er wollte vermeiden, dass die beiden ihn hörten. Sofort würden sie Lunte riechen und in das Zimmer ihres Sohnes schauen. Und dann gäbe es wieder ein Donnerwetter, dessen war er sich sicher. Und er – er wäre wie immer mittendrin in dem Schlamassel. Oft genug hielt seine Tochter ihm vor, er stelle sich schützend vor Rufus, der das gar nicht verdient habe, und untergrabe ihre Autorität. „Autorität! Pah!“ Kopfschüttelnd setzte sich Jean-Luc hinters Steuer seines alten Renault und ließ den Motor an. Wieder und wieder musste er starten, bevor der altersschwache Motor rund lief und das ersehnte Tuckern erklang. Genau wie bei mir, dachte Jean-Luc und schmunzelte. Auch er brauchte von Jahr zu Jahr länger, um morgens in die Gänge zu kommen. Mit der flachen Hand klopfte er auf das Armaturenbrett. „Gut gemacht, alter Junge!“ Dann fuhr er in gemächlichem Tempo an.
Gut zwanzig Minuten später erreichte Jean-Luc sein Ziel. Schon von Weitem sah er den erleuchteten Schriftzug über der Tür des Clubs. Er fand nach einigem Suchen eine freie Lücke am Straßenrand, in die sein kleines Vehikel gerade so hinein passte. Wie hasste er diese Sucherei nach einem Parkplatz – und wie hasste er es, wenn er merkte, dass seine Fähigkeiten in puncto „sportliches Fahren“ nicht mehr die waren, auf die er einst so stolz gewesen war. Aus Frust ließ er den Motor kurz aufheulen, bevor er den Wagen ausstellte. Wie ein großer Junge grinste er dabei über das ganze Gesicht.
Neugierig schaute er sich um. Wann war er zuletzt in dieser Gegend gewesen? War er überhaupt schon jemals hier entlanggegangen? Er konnte sich nicht erinnern. Und wo war Rufus? Hatte er nicht gesagt, er stehe vor der Tür und friere wie ein Schneider? Da hatte der Bengel wohl wieder einmal arg übertrieben. Sicher hatte er ihn antreiben wollen. „Na warte, Bürschchen!“
Jean-Luc zog den Reißverschluss seiner Jacke bis zum Hals hoch und stieg aus. Seine Blicke wanderten zu diesem Tanzclub hinüber, den er nicht kannte. Das sei zurzeit der Angesagteste in ganz Paris, hatte Rufus ihm neulich erklärt.

Im Kindle-Shop: Jene Tage in St. Germain.
Mehr über und von Annette Hennig auf ihrer Website.

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