16. Mai 2019

'Silent Guy: Lautlos in mein Herz' von Lisa Torberg

Kindle | Tolino | Taschenbuch
Tom ist unwahrscheinlich attraktiv – aber er stottert. Seine Mutter erträgt ihn deshalb nicht und wirft ihn bei der erstbesten Gelegenheit raus. Er leidet schweigend. Das ändert sich auch nicht, als er die Laufstege der Welt erobert. Mit den Gagen finanziert er sich sein Studium – und mit Ende zwanzig macht er endlich das, was er liebt. Fernab vom Rampenlicht designt er für AJ-Fashion seine eigene Kollektion, ohne in Erscheinung zu treten. Aber dann stirbt sein Geschäftspartner ...

Was tun, wenn man nach und nach fast alle Menschen verliert, die man liebt? Charly weiß es: sich in der Arbeit vergraben. Jeder berufliche Erfolg befriedigt ohnehin mehr, als ein Mann es jemals tun könnte. Und Gefühle werden grundsätzlich überbewertet. Dass dem doch nicht so ist, merkt sie, als ihr Onkel stirbt. Sie verlässt Kalifornien und fliegt nach London, um AJ-Fashion zu übernehmen. Dort trifft sie auf Tom ...

Weitere Bücher von Lisa Torberg auf ihrer Autorenseite.

Leseprobe:
»Ich verstehe von Mode so wenig wie ihr von Immobilien.« Mit einem Seufzen lehne ich mich auf dem Sofa zurück und rücke den Laptop auf meinen Knien zurecht.
»Schlechter Vergleich, du Supermaklerin.« Tine, die auf dem rechten Bild des geteilten Bildschirms zu sehen ist, streicht sich eine vorwitzige Haarsträhne aus dem Gesicht. »Weingüter wie dieses hier sind auch Immobilien.« Ihre unbestimmte Handbewegung macht mir wieder einmal klar, wie weit wir voneinander entfernt leben. Zurzeit absolviert sie ein Praktikum in der Toskana. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut, dass sie bald wieder in den Staaten sein würde – und jetzt ...
»Jede Frau versteht etwas von Mode«, unterbricht Chris von der Ranch in Montana meine Gedanken. Sie beugt sich vor und einen Moment lang nimmt ihr rechtes zwinkerndes Mandelauge die gesamte linke Bildschirmhälfte ein. »Sogar ich, obwohl ich hier in der Pampa weiß Gott keine High Heels oder elegante Abendkleider brauche.«
Mit verschränkten Armen starre ich auf meine beiden Freundinnen. »Ihr wollt mich nicht verstehen!«
»Doch, das tun wir!« Die Antwort kommt synchron.
»Du willst uns klarmachen, dass du es vorziehst, weiterhin sechzig Wochenstunden für diesen Idioten zu arbeiten.« Tines Locken wippen auf und nieder, da sie ihre Worte mit einem heftigen Nicken unterstreicht. »Es ist ja auch wirklich toll, dass man sieben Tage pro Woche irgendwelchen affektierten Geldsäcken Luxusimmobilien zeigen darf und nur ein Viertel der Kommission erhält, weil der Rest auf dem Konto dieses Donald-Trump-Verschnitts landet.«
Ich muss schmunzeln. Sie weiß, wovon sie spricht. Im Gegensatz zu mir kennt sie die Welt der Reichen und Superreichen seit ihrer Geburt. Und Harold Higgins, der gerissenste Immobilienhai von Los Angeles, für den ich arbeite, sieht tatsächlich aus wie der Klon des Präsidenten.
»Immerhin zahlt er mir ab Januar ein Fixum«, wende ich ein, »und wenn ich jeden Monat auch nur eine Villa verkaufe, verdiene ich richtig gut.«
»Was zuletzt vor einem halben Jahr passiert ist, weil er den Abschluss auf dem Golfplatz tätigte, nachdem du die Verhandlungen geführt hast«, erwidert sie lakonisch.
»Falsch. Letzte Woche habe ich endlich das sündteure Anwesen in Hollywood an einen Berater des arabischen Kronprinzen verkauft. Zwölf Millionen.« Als ich die Summe ausspreche, läuft mir ein prickelnder Schauer über den Rücken. Immerhin macht meine Kommission einhundertachtzigtausend Dollar aus.
»Könnt ihr mir bitte sagen, warum ihr über Dinge sprecht, die nicht mehr aktuell sind?«, fragt Chris mit irritierter Stimme und fixiert mich. »Wolltest du nicht unsere Hilfe, um zu entscheiden, was du anziehen sollst, wenn ...«
»Wann?«, falle ich ihr ins Wort.
»An dem Tag, an dem du dich in London den Mitarbeitern von AJ-Fashion präsentierst. Deinen Mitarbeitern! Obwohl du deinen Onkel seit Jahren nicht mehr gesehen hast, hat er dir sein Lebenswerk hinterlassen. Ein Unternehmen mit einem Jahresumsatz, gegen den selbst der Wert einer Vierzig-Zimmer-Villa verblasst. Du kannst dort nicht einfach in Jeans und Turnschuhen auftauchen, lässig mit der Hand winken wie Angelina Jolie nach einem ihrer Charity-Trips in Afrika und darauf hoffen, dass sie dich ernst nehmen. Diese Typen sind Engländer!«
Tine nickt zustimmend. »Chris hat recht. Briten sind von Natur aus vorsichtig, abweisend und davon überzeugt, dass wir Amerikaner einer Subkultur angehören. Ab dem Moment, in dem du zum ersten Mal die Schwelle der Firmenzentrale von AJ-Fashion übertrittst, musst du ihnen beweisen, dass sie sich irren. Und deshalb wirst du ausschließlich englische Designerklamotten tragen.« Nachdenklich tippt sie mit dem ausgestreckten Zeigefinger an ihre Lippen. In ihren Augen blitzt es auf und sie zwinkert mir zu. »Am besten beginnen wir mit Jimmy Choos für die Füße. Schwarz, klassisch, elegant und der Jahreszeit angepasst ...«



Mit geschlossenen Lidern liege ich auf dem zum Bett umgebauten Sitz der First Class und denke an den Videochat mit Tine und Chris. Der Plan, den wir ausgearbeitet haben, ist perfekt.
Die schwarzen High Heels sind in meinem Handgepäck, ebenso die Dessous, die Strümpfe und das angeblich knitterfreie Kleid mit der passenden Jacke, die ich in aller Ruhe im Hotel anziehen wollte. Wohlgemerkt nachdem ich nach der Ankunft in Heathrow mit dem Taxi dorthin fuhr und eincheckte. Laut meinem Zeitplan bleibt mir eine gute Stunde, um die Erinnerung an den Transatlantikflug unter der Dusche abzuspülen. Danach werde ich frisch wie eine Rose, makellos gekleidet und perfekt geschminkt das Erbe meines Onkels antreten. Das war der Plan. Dass mir die British Airways einen Strich durch die Rechnung machen würde, stand nicht im Programm. Trotz der überstürzten Entscheidung, von heute auf morgen nach Europa zu ziehen, sah es kurz nach dem Start in L. A. nicht so aus, als ob irgendwas schiefgehen könnte. Im Gegenteil. Bis dahin hat alles reibungslos geklappt ...



Am Montag rief mich ein Anwalt aus London an und teilte mir den drei Tage zurückliegenden Tod von Onkel Jim und seine Anordnungen mit. Anders konnte man seine Forderung, nicht an seinem Begräbnis teilzunehmen und die AJ-Fashion innerhalb weniger Tage zu übernehmen, nicht nennen. Ich war auch nicht erstaunt, da wir alles schon vor langer Zeit besprochen hatten – damals, als er sich auf die Insel im Indischen Ozean zurückzog, um in Ruhe und Abgeschiedenheit um Tante Anne zu trauern. Nur hatte ich nicht damit gerechnet, dass dieser Moment, der mein Leben von Grund auf ändern sollte, nicht erst in zwanzig oder dreißig Jahren eintraf.
Deshalb fielen Tine und Chris Dienstag auch aus allen Wolken. Normalerweise schafften wir es nur mit Mühe, jeden zweiten Sonntag zu videochatten. Der Zeitunterschied zwischen Europa und Amerika erschwerte unseren Kontakt, und nun hatte ich sie mit den Worten »Wir müssen uns sofort hören« kontaktiert. Sie konnten nicht glauben, dass ich ihnen nie erzählt hatte, dass ich irgendwann die AJ-Fashion erben würde. Im Jahr vor dem Tod meiner Tante Anne war ich zum letzten Mal in London gewesen und mein Kontakt mit Onkel Jim beschränkte sich seither auf kurze Telefonate zu Weihnachten und zum Geburtstag. Außerdem erhielt ich von ihm alle drei Monate die Quartalsberichte der AJ-Fashion. Im Grunde genommen hörte ich von meinem Onkel Jim Harrington öfter als meinem Vater.
Die einzigen Menschen, die mir wirklich nahestehen, sind Tine und Chris. Seit wir vor zehn Jahren zufällig in der letzten Klasse der Highschool in Washington aufeinandertrafen, sind wir unzertrennlich; sofern man das sein kann, wenn man über den halben Erdball verteilt lebt. Das Schicksal hat Tine und mich mit siebzehn in die Hauptstadt verschlagen, beide aus dem gleichen Grund. Unsere Mütter waren beide innerhalb weniger Wochen gestorben. Tine hielt es nicht mehr daheim aus, und ich hatte kein Zuhause mehr. Chris war bereits mit vierzehn dort gelandet, weil ihre Eltern ihren Horizont erweitern wollten. Sie sollte städtisches Flair atmen und das Benehmen derjenigen lernen, die nicht in einem Sattel geboren und zwischen Rinderherden aufgewachsen waren. Dass die Snobs auf der exklusiven Schule die mandeläugige Tochter eines Rinderzüchters aus Montana wie den letzten Dreck unter ihren Schuhen behandelten – zumindest bis Tine auftauchte und ihre Freundin wurde –, ahnten ihr Vater und ihre Mutter nicht. Genau genommen wissen sie bis heute nichts von alldem, was Chris bis zu dem Moment ertragen musste, in dem wir zufällig in derselben Klasse landeten. Wir drei Außenseiterinnen hatten zueinandergefunden, und es gibt nichts, was wir nicht voneinander wissen.
Und doch hatte ich ihnen nie erzählt, dass ich eines Tages die AJ-Fashion erben sollte. Warum auch? Onkel Jim war acht Jahre jünger als mein Vater, der irgendwo in Afghanistan Truppen befehligt und auf den Fotos, auf deren Rückseite er mir alljährlich seine Weihnachtsgrüße mitteilt, immer noch kohlschwarze Haare hat. Ganz zu schweigen von dem muskulösen, sehnigen Körper, den auch der Tarnanzug nicht verbirgt. Seit Monaten habe ich nichts mehr von ihm gehört und weiß nur, dass er am Leben ist, weil ich keine gegenteilige Nachricht erhalten habe. Dafür ist die aus London eingetroffen, die mir den Tod meines einzigen anderen Verwandten mitgeteilt und die Verantwortung für Hunderte von Menschen in die Hände gelegt hat.
»Ich bin nicht so weit, diese zu übernehmen. Wahrscheinlich wäre ich auch in zwanzig Jahren nicht dazu bereit«, erklärte ich meinen Freundinnen, die auf einem Bildschirm nebeneinander zu sehen waren. Sie widersprachen mir. Ihre Zuversicht, dass ich sehr wohl dazu in der Lage war, fühlte sich an, als ob sie mit mir in einem Raum und nicht Tausende Kilometer weit weg wären. Tine und Chris sagten mir, wie ich vorgehen sollte. Noch in derselben Nacht schrieb ich dem Anwalt, der meinen Flug nach London buchte.

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