18. Oktober 2019

'Humboldt und der kalte See' von Jana Thiem

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Als der Postbote tot im Straßengraben sitzt, ahnt Humboldt noch nicht, dass die Sache viel verzwickter ist. Denn erst kurz darauf erfährt er, dass die im Vorjahr aus dem Olbersdorfer See geborgene Leiche ein ehemaliger Schulfreund des Postboten war. Und dass die beiden zu einer unzertrennlichen Viererclique in den Achtzigern gehörten. Hat es der Mörder auf dieses Kleeblatt abgesehen? Aber warum verleugnen die beiden verbliebenen Mitglieder die Freundschaft von damals?

Zu allem Übel gefährdet die neue Kollegin, Fallanalytikerin Ziska Engel, die beschauliche Zusammenarbeit in Humboldts Team. Und dann quälen den Hauptkommissar schreckliche Gewissensbisse. Hat er sich doch nach einer gemeinsamen Nacht mit der Journalistin Christin Weißenburg nicht wieder bei ihr gemeldet.

Leseprobe:
Mittwoch, 20. Februar 2019

Als er den mächtigen Felsen sah, musste er unweigerlich an die Theaterschauspielerin denken, die vor etwa zwei Jahren unfreiwillig am Jungfernsprung des Oybin herabgesegelt und später auf seinem Tisch gelandet war. Das war wieder einer der Fälle gewesen, die ihn besonders herausgefordert hatten und bei denen er mit Humboldt Hand in Hand arbeiten musste, um dem Täter das Handwerk zu legen.
Rechtsmediziner Dr. Lorenz Richter bremste den Wagen ab und rollte langsam durch den Ort. Dabei schob er seinen Kopf weit bis an die Frontscheibe heran, um den imposanten Berg näher betrachten zu können. Im Winter sah es hier völlig anders, aber nicht weniger interessant aus. Waren bis eben noch auf dem Gipfel die Ruinen des Klosters und der Burg zu sehen gewesen, erkannte Richter jetzt die bienenkorbähnliche Gestalt des Felsens. Fast hätte er es verpasst, seinem Navi zu folgen und rechts in die Hauptstraße einzubiegen. Kurz darauf kam er an einem der Aufstiege auf den Oybin vorbei, der auch zur kleinen Bergkirche führte, die sich eng an den Felsen schmiegte. Wäre er in Stimmung gewesen, hätte er sicherlich nach seiner Arbeit noch einen kleinen Spaziergang unternommen. Aber im Moment war er einfach zu gespannt, was ihn hier erwarten würde. Und vor allem, ob es wirklich notwendig war, dass er sich von Dresden aus die eineinhalb Stunden auf den Weg gemacht hatte.
Schon von Weitem sah er das Einsatzfahrzeug stehen. Ein Beamter sprach mit einer wild gestikulierenden Person, die in einem blauen BMW saß und anscheinend in die gesperrte Straße einfahren wollte. Ein anderer kam auf ihn zu. Richter ließ die Scheibe herunter und sofort drang die eisige Kälte hinein.
„Hier können Sie gerade nicht durch“, sagte der Beamte und legte grüßend den Zeigefinger einer Hand an seine Dienstmütze. Sein Atem wirbelte weiße Wolken auf.
„Ich denke doch“, sagte Richter. „Dr. Lorenz Richter, Rechtsmediziner. Ich werde erwartet.“ Er zeigte seinen Ausweis.
„Na dann, ab in die Hölle“, antwortete der Beamte schief grinsend. Wieder hob er grüßend die Hand und winkte Richter durch.
Die Gesten des BMW-Fahrers wurden noch wilder, als Richter auch den zweiten Beamten passierte und schräg rechts abbog.
Aus den Augenwinkeln nahm er ein Straßenschild mit der Aufschrift Hölleweg wahr. Daher also der schräge Kommentar des Beamten.
Als die Straße immer schmaler wurde, ließ Richter das Auto an einer Gabelung stehen. Er war sich nicht sicher, ob er am Ende des Weges wenden musste oder doch durchfahren konnte.
Er schnappte sich seine Tasche und wählte den rechten Weg, der noch weiter in den Wald hineinführte. Die kleinen Umgebindehäuser wechselten sich hier mit modernen Holzhäusern ab. Aus den Schornsteinen stieg Rauch auf, der sich noch lange im Blau des Himmels abzeichnete. Eine zarte Schneedecke schien sich schützend über alles gelegt zu haben und glitzerte in der Sonne. Zu seiner Linken ragte im Hintergrund ein hoher Berg mit einem Turm auf. Das ist alles viel zu idyllisch, um hier jemanden umzubringen, dachte Richter. Mit Sicherheit war der Mann gestürzt und hatte sich dann ausruhen wollen. Solche Szenarien kannte er schon aus vergangenen Jahren. Die meisten der verletzten Opfer waren mit Erfrierungen davongekommen. Aber diesen hier schien es schlimmer erwischt zu haben. Das hatte ihm Kriminalhauptkommissarin Mahler schon am Telefon mitgeteilt.
Als er einen kleinen Felsen umrundet hatte, stand er direkt vor der Kommissarin, die wild auf ihrem Handy herumtippte.
„Frau Mahler, wie schön, Sie mal wieder zu sehen“, sagte Richter ohne wirkliche Freude in der Stimme.
Linde Mahler, Kriminalhauptkommissarin der Polizeiinspektion Görlitz, nickte kurz. Auch ihre Begeisterung über das Wiedersehen schien sich in Grenzen zu halten. „Ja, schön, dass Sie es einrichten konnten!“, sagte sie und zeigte mit dem Kopf Richtung Wald.
Der Mann, den der Rechtsmediziner Dr. Lorenz Richter im Schnee sitzen sah, trug die typische blau-gelbe Jacke eines Zustellers der Deutschen Post. Auf den ersten Blick hätte man denken können, dass er sich nur ein wenig hatte ausruhen wollen, um sich dann wieder auf den weiteren Weg zu machen. Das gelbe Fahrrad mit den großen Taschen stand ordnungsgemäß auf dem Ständer aufgebockt neben ihm. Nur der Schmutz an seiner Kleidung und die blutverschmierte Wunde an seinem Kopf deuteten darauf hin, dass er nicht nur friedlich eingeschlafen war.
„Können Sie direkt irgendetwas zu unserem Toten sagen? Falls er nur erfroren ist, würde ich mich verabschieden. Ein dringender Fall wartet“, begann Linde Mahler ohne Umschweife.
Richters Miene verschloss sich schlagartig. Er nahm die eckige schwarze Brille vom Kopf und schob sie sich auf die Nase. „Ich muss ihn mir erst anschauen, bevor ich dazu etwas sagen kann. So viel sollten Sie in Ihrer beruflichen Karriere schon mitbekommen haben.“
Linde Mahler zuckte missmutig mit den Schultern und schaute demonstrativ auf die Uhr.
Leise murmelnd beugte sich Richter zu dem Toten hinunter. Er hatte ein Diktiergerät aus der Jacke gezogen und hielt es nahe vor seinen Mund.
„Hämatom im rechten oberen Stirnbereich, könnte von einem Sturz herrühren, da auch die Kleidung verschmutzt ist.“
Er richtete sich auf und sah sich um, entdeckte aber nichts Auffälliges.
„Ist er hier irgendwo gestürzt? Oder gibt es am Fahrrad Spuren, die darauf hindeuten, dass er sich zum Beispiel am Lenker verletzt haben könnte?“, fragte er in Linde Mahlers Richtung, ohne sie dabei direkt anzuschauen.
„Nichts dergleichen. Das haben die Kollegen der KTU natürlich direkt untersucht, nachdem wir den Fundort gesichert hatten.“
Die Ungeduld in ihrer Stimme ließ Richter schmunzeln. Natürlich hatte sie das veranlasst. Schließlich war sie keine Anfängerin.

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