'Die Elefanten meines Bruders' von Helmut Pöll
Der elfjährige Billy Hoffmann hütet seit vier Jahren die Eintrittskarten für einen Zirkusbesuch, der nie stattgefunden hat. Auf dem Weg zur Vorstellung kam damals sein großer Bruder bei einem Unfall ums Leben. Dieses traumatische Ereignis brachte die Familie aus dem Gleichgewicht und wirkt bis heute nach.
Billy träumt davon, mit seinem Bruder im Zirkus die Elefanten in der Arena aus nächster Nähe zu bestaunen. Mit lebendiger Phantasie und voll kindlicher Naivität versucht Billy, die Wirklichkeit und das Leben zu verstehen und interpretiert sich eine Welt zurecht, in der sich Traum und Realität durchmischen. Helmut Pöll erzählt den Roman konsequent in der Sprache und Wahrnehmung seines jungen Protagonisten und zeigt, wie auch die Welt der Erwachsenen von Willkür und Wunschdenken durchsetzt ist.
Für seine Familie leidet Billy an ADHS. Er selbst sieht das als einen Überschuss an Energie, die in einem Fusionsreaktor festgehalten wird. Deshalb läuft er immer um die Säule an der Tiefgarage, während seine Mutter das Auto holt - damit in der Zwischenzeit die Energie im Universum nicht ins Ungleichgewicht gerät. Später einmal will er Spaziergänger werden oder Raumkreuzer-Kommandant. Das Rüstzeug für seinen kreativen Umgang mit der Realität bezieht Billy aus Filmen. Auf die Fragen von Erwachsenen antwortet er wann immer möglich mit Zitaten seiner Leinwandhelden. So verschwimmen Fiktion und Wirklichkeit immer mehr miteinander.
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Leseprobe:
Nennt mich Billy Hoffmann. So würde es Käpt’n Ahab sagen, bevor er raus segelt, um Moby Dick zu fangen. Billy ist ein völlig bescheuerter Name für einen elfjährigen Jungen, außer man ist Engländer oder Amerikaner oder so. Dann hätte man nämlich noch einen zweiten Namen dazwischen, also so was wie „Billy Tiee Hoffmann“. T. steht dann für Trevor oder Timothy oder so. Ich heiße nur Billy Hoffmann, ohne T. Meine Eltern fanden das scheinbar lustig. Oder hatten keine Phantasie. Aber Erwachsene merken sowieso nie, was sie einem Kind antun.
Immer, wenn ich an einer großen Straße vorbeikomme, dann denke ich an meinen Bruder. Mein Bruder Phillipp ist nämlich tot. Ich stelle mir immer vor, wie er bei dem ganzen Verkehr als Engel über die Straße geht.
Was ist eigentlich, wenn ein Reisebus mit 50 Tonnen daherkommt? So schwer sind Busse nämlich. Das meine ich natürlich mit den Fahrgästen, also Leuten mit einem durchschnittlichen Gewicht. Wenn ein paar Schwere dabei sind, dann sind es vielleicht sogar noch mehr. Oder wenn der Bus überfüllt ist wie in Indien. Dann kommt man sogar auf 60 Tonnen. Ich habe ein Quartett, bei dem der schwerste Bus leer sogar 35 Tonnen wiegt. Aber das ist ein Greyhound. Und Greyhounds zählen nicht, weil wir nicht in Amerika sind. Außerdem ist es auch total egal, ob der Bus 50 oder 60 Tonnen wiegt.
Ich frage mich oft, was passiert, wenn ein Bus mit 50 Tonnen mit hundert Sachen heranbrettert. Der Engel reagiert natürlich auf das Hupen gar nicht. Deshalb erwischt ihn der Bus voll. Fliegt der Engel dann wie mein Bruder Phillipp in hohem Bogen über die Böschung?
Ich war damals erst sechs und dachte, dass mein Bruder vielleicht wirklich fliegen kann. Vielleicht segelt er nur davon, um dem blöden Autofahrer und uns allen einen Schrecken einzujagen. Mein Bruder Phillipp konnte ja nicht ganz verschwinden, weil wir doch die Zirkuskarten hatten und am Abend zu den Elefanten gehen wollten.
Aber dann kam er nicht mehr hinter der Böschung hoch, um uns alle auszulachen und wir rannten über die Straße. Als ich am Fuß des Damms ankam, kniete meine Mutter in ihrem schönen Kleid und ihrem neuen Mantel in der schlammigen Wiese. Sie machte ihre Sachen ganz schmutzig, obwohl sie sonst immer schimpfte, wenn unsere Sachen schmutzig wurden. Sie hielt meinen Bruder im Arm und rüttelte ihn. Dann fing meine Mutter zu weinen an. Das weiß ich noch ganz genau. Sie weinte immer mehr und ließ Phillipp nicht mehr los. Mein Bruder schlief ganz friedlich, obwohl er noch gar nicht müde sein konnte, weil wir spät aufgestanden waren. Aber heute weiß ich es besser, und heute weiß ich, dass mein großer Bruder nicht fliegen konnte und an diesem Tag gestorben ist.
Wenn ich ein Engel wäre, dann hätte ich dem Autofahrer, der meinen Bruder totgefahren hat, bevor wir am Abend in den Zirkus zu den Elefanten gehen konnten, mit meiner goldenen Lanze aufgespießt. Meine Mutter sagt immer, das darf man nicht sagen, nicht einmal denken, da wäre der liebe Gott böse.
Ich habe sie gefragt, woher sie das weiß. Sie kennt ihn ja gar nicht. Weil der liebe Gott arbeitet ja nicht bei uns ums Eck am Kiosk, wo ich immer die Fernsehzeitung holen muss, wenn sie meine Eltern beim Einkauf vergessen haben. „Guten Tag, ich bin der liebe Gott, machen Sie dies, machen Sie das. Das macht dann zwei fuchzig.“
„Das weiß man eben“, sagte meine Mutter.
Ich meine aber schon, dass man mit dem Überfahrer seines Bruders nicht zimperlich sein braucht. Wer weiß wie viele kleine Brüder er seitdem noch überfahren hat.
Ich sagte meiner Mutter auch, wie gemein ich das alles finde. Phillipp liebte Elefanten. Er war ziemlich mutig und hatte sich irgendwo im Urlaub sogar einmal auf einem fotografieren lassen. Ich habe beide Zirkuskarten, seine und meine, aufgehoben. Wir wollten nämlich an dem Tag, als mein Bruder überfahren worden ist, abends miteinander in den Zirkus zu den Elefanten gehen. Aber das habe ich schon gesagt. Manchmal, bevor ich einschlafe, hole ich die Zirkuskarten aus meiner Geheimtruhe, drücke sie an mein Herz und sage Phillipp, dass ich auch nie zu den Elefanten bin, weil es mir ohne ihn keinen Spass gemacht hätte. Ich will, dass er das weiß. Manchmal muss ich dann sogar weinen, obwohl ich bald zwölf werde und fast zwölfjährige Jungs eigentlich nicht mehr weinen.
Manchmal bin ich aber total durcheinander, wenn mir einfällt, dass mittlerweile Phillipp mein kleiner Bruder geworden ist. Dabei war ich doch viel jünger als er. Aber dann habe ich ihn eines Tages überholt. Ich weiss noch, dass an meinem Geburtstag meine Tante sagte:
„Jetzt bist Du älter als Phillipp“, und dann die anderen zum Heulen in die Küche gingen, damit ich es an meinem Geburtstag nicht sehen muss. Aber ich habe es natürlich gemerkt, weil alle mit rotgeweinten Augen aus der Küche zurückgekommen sind und sich meine Mutter dann auch noch dauernd geschnäuzt hat.
Mit dem Engel und dem blöden Autofahrer werde ich aber nicht klein beigeben, solange ich lebe. Das bin ich Phillipp schuldig. Vielleicht würde ich ja Amok laufen, wenn ich ein Engel wäre und mich jemand total aufregen würde oder ganz gemein zu mir wäre.
Meine Tante Erika hat mich darauf gebracht. Sie sagte, dass jeder Amok laufen könnte. Auch die ganz Guten. Und besonders die, von denen man es überhaupt nie denken würde. Das sind nämlich die, die alles in sich hineinfressen.
„Das musst Du Dir so vorstellen wie den Dampfkochtopf Deiner Mutter, wenn das Ventil klemmt“, sagte sie.
„Plötzlich fliegt einem alles um die Ohren.“
Solche Sprüche von Tante Erika machen mich irre. Ich kann das einfach nicht vergessen. Das macht mir Angst. Ich stehe in der U-Bahn und schaue mich ängstlich nach diesen Kochtopf-Menschen um. Ist der einer? Oder die? Die grimmige alte Henne vielleicht am Blumenstand? Oder der schlaffe alte Opa, der ganz vornübergebeugt auf den Zug wartet? Vielleicht tut er auch nur so und wartet und kurz bevor der Zug anhält und die Türen aufgehen, zieht er seine Pistole und Paffpaffpaff streckt er fünf in seinem Umkreis nieder, bevor er sich mit der sechsten Kugel in den Kopf schiesst.
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Mehr über den Autor Helmut Pöll und seine Veröffentlichungen auf der Website zum Buch.
Labels: Gegenwart, Helmut Pöll, Kindheit, Leben
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