28. August 2015

"Mit deinen Augen" von Jana Zenker

Dunkelheit, schwarz, ewige Nacht ... Helena tappt durch Pauls Welt, wie Paul durch die Welt der Sehenden. Als sie beginnt, die Blindheit ihres Freundes zu akzeptieren, ist es beinahe zu spät für ihre Beziehung.

Die Studentin Helena verliebt sich nach einer unerfüllten Beziehung in den blinden Physiotherapeuten Paul. Er erwidert ihre Liebe, doch ihr Mitleid und ihre wohlgemeinte - doch erdrückende - Fürsorge überschatten diese Liebe und so kommt es nach einer Auseinandersetzung zum Bruch. Kurz darauf stellt Helena fest, dass sie schwanger ist.

Sie entscheidet sich für das Kind und während sie mit Paul - gezwungenermaßen - die Zukunft des ungeborenen Kindes plant, kommen sie sich wieder näher und sind diesmal in der Lage die Ansprüche und Erwartungen des jeweils anderen wahrzunehmen und zu akzeptieren.

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Leseprobe:
Marc und ich kannten uns, seit wir fünfzehn waren. An einem Spätsommermorgen – ich war gerade aus Dublin und Marc aus einer Kleinstadt im Norden nach Berlin gezogen – hatten wir nebeneinander vor dem Sekretariat des Gymnasiums gestanden, hoch konzentriert die Risse im Anstrich der geschlossenen Tür betrachtet und uns gewünscht, die Erde würde sich unter uns auftun. Die Direktorin schickte uns in dieselbe Klasse, und der Lehrer dort setzte uns auf dieselbe Bank, wo wir wochenlang miteinander schwiegen.
Obwohl mir Marc eigentlich gefiel. Er war etwas größer als ich, was klein bedeutete für einen Jungen, doch er war äußerst schlank, was ihn groß wirken ließ. Und er war äußerst höflich, nicht so laut wie die anderen Jungen. Nach der Disco am Schuljahresende küssten wir uns zum ersten Mal, und nach einer wilden Party an der Uni, in der wir uns nach dem Abitur eingeschrieben hatten, schliefen wir zum ersten Mal miteinander.
Am nächsten Morgen – ich konnte mich kaum erinnern, was in der Nacht zuvor passiert war - beschlossen wir zusammenzubleiben, und jetzt war es an der Zeit, den nächsten Schritt zu tun und in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Was bedeutete, dass ich zu Marc ziehen würde. Seine Wohnung war geräumiger und heller als meine, und außerdem musste er, der Medizinstudent, sich auf Prüfungen vorbereiten und hatte keine Zeit, Kisten zu packen und Möbel auseinanderzuschrauben. Den Umzug hatten wir für die letzte Woche der Semesterferien geplant, davor flogen wir nach Portugal ins Ferienhaus seiner Eltern.
Ich hatte mich auf die Generalprobe für unser Glück gefreut. Ich hatte mich darauf gefreut, mit Marc am Strand zu liegen, neben ihm einzuschlafen, und neben ihm aufzuwachen, ihm das Frühstück ans Bett zu bringen, in seinen Armen auf das Meer zu schauen. Ich hatte mich auf Romantik gefreut, auf Intimität und zärtlich geflüsterte Worte.
Und dann saß ich am Strand und beobachtet die Jungen, die ihren Freundinnen den Rücken eincremten, während ich selbst mir die Arme verrenken musste, ging alleine zu Bett und stand alleine wieder auf, drängelte ihn jeden Morgen, wenigstens für eine Weile seine Bücher zu vergessen und sich zu mir zu setzen.
Einen Tag vor unserer Abreise jedoch besann er sich darauf, dass er sich mit mir im Urlaub befand, griff mich bei der Hand und zog mich übermütig lachend zum Pool. Auf einmal wollte er Spaß. Mit weit aufgerissenen Augen stürzte er sich auf mich und merkte nicht, dass ich ihm auswich, dass ich mich panisch wehrte, als er mich unters Wasser tauchen wollte. Am Abend konnte ich meinen Hals nicht mehr bewegen, und zurück in Berlin bekam ich rasende Kopfschmerzen.
Das würde schon wieder, sagte Marc, der angehende Arzt, und drückte mir Tabletten in die Hand, von denen das Dröhnen hinter meinen Schläfen noch unerträglicher wurde. Und nachdem ich eines Morgens das Frühstück wieder ausgebrochen hatte, suchte ich einen richtigen Arzt auf, der mir anstelle der Tabletten Massagen verschrieb.
Mit der Visitenkarte einer Physiotherapiepraxis in der Hand stand ich danach auf dem Gehsteig und schluckte das bittere Gefühl herunter, das mich seit Portugal nicht mehr verlassen hatte. Doch eigentlich hatte Marc ja recht: Er hatte wirklich Prüfungen, er musste wirklich viel lernen, und er hatte sich wirklich nur aus Spaß auf mich gestürzt. Und ich hätte mich nicht steif zu machen brauchen. Und Romantik würde sich einstellen, wenn wir erst einmal richtig zusammenleben würden. Zurück in meiner kleinen, schattigen Hinterhofwohnung, die ich mit Pit, einem angehenden Krankenpfleger, teilte, wählte ich die Nummer auf der Visitenkarte, um einen Termin zu vereinbaren, obgleich sich alles in mir gegen Massagen sträubte. Ich hasste das Gefühl fremder Hände auf meiner Haut. Ich hasste es, ausgeliefert dazuliegen, und mich von fremden Augen betrachten zu lassen. Marc war der einzige Mensch, der meinen Körper jemals nackt gesehen hatte, dem ich meinen Körper jemals anvertraut hatte.
„Sie können sofort vorbeikommen“, klang eine junge, freundliche Stimme aus dem Telefon. „Paul macht von eins bis zwei Mittag, danach hätte er Zeit für sie.“
Paul, dachte ich, auch noch ein Mann ...
„Was ist?“, drängte die Stimme. „Soll ich sie buchen?“
„Okay“, erwiderte ich geschlagen. „Um zwei also ...“
Papier raschelte, dann wurde ich ermahnt, bitte pünktlich zu erscheinen, und dann erstarb die Leitung. Ich sah auf die Uhr - noch genau eine Stunde.
Im Bad streifte ich mir die Shorts und das Top ab und betrachtete mich im Spiegel. Ich war dünn. Und ich war weiß. Kein Wunder, dass Marc mich nicht so behandelt hatte, wie die Jungen ihre braun gebrannten, vollbusigen Freundinnen am Strand von Praia de Rocha. Seufzend wandte ich mich ab und stellte mich unter die Dusche. Ich mochte meinen Körper nicht. Das Einzige, was ich an mir mochte, waren meine dichten Haare, die mir bis zum Hintern reichten. Sie waren der Schleier, den ich mir für gewöhnlich über Brust und Schultern fallen ließ, wenn ich männliche Blicke auf mir spürte - der Schleier, den ich zu einem Knoten binden musste, als ich mich, pünktlich um zwei, auf der Liege in der Praxis präsentierte.

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