2. Januar 2018

'Das Zeitbeben' von Bahri Binaku

»Aus welchem Jahr stammst du?«

Die Raumzeit kollabiert – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen miteinander. Die meisten Menschen verschwinden spurlos, dafür bevölkern plötzlich mysteriöse Lebewesen aus verschiedensten Zeiten die Straßen der deutschen Hauptstadt. Dasselbe passiert mit Gebäuden, Straßen und Gegenständen.

Vier Wochen lang versteckt sich die sechszehnjährige Clara Jung im Labor ihres Vaters ohne nennenswerten Zwischenfall. Doch dann klopft jemand an die Tür ...

Gleich lesen: Das Zeitbeben: Erster Teil

Leseprobe:
»Kommt er rauf? Hörst du ihn?«
Clara Jung lehnte ihr Ohr an die Tür und konzentrierte sich auf die Geräusche außerhalb des Labors. Die Schritte im Treppenhaus verursachten Beben, die bis in das zweite Stockwerk reichten. Alle Stufen gaben knarrend nach. Clara drehte ihren Kopf und nickte, um auf die Frage des Jungen zu antworten.
Er war etwas älter als Clara, vielleicht achtzehn oder neunzehn, der kleine Junge neben ihm höchstens dreizehn. Vor wenigen Minuten hatten sie an die Tür gehämmert und um Hilfe gerufen – ein Mann sei hinter ihnen her und sie könnten nirgendwo anders hin.
Die Labortür besaß keinen Türspion. Clara hätte die zwei Typen nie in ihr Versteck gelassen, wenn sie gewusst hätte, welche Klamotten sie trugen.
»Na gut«, sagte der ältere Junge. »Geh von der Tür weg.«
In Gedanken versunken, wendete sie sich endlich in den Vorderraum des Labors und blickte in die Mündung einer Maschinenpistole. Der Junge hielt die Waffe nah an sein Kinn gelehnt, zielte damit genau auf das Mädchen.
Das Küchenmesser, das sie in ihrer Hand hielt, wirkte geradezu kindisch. Es war die einzige Waffe im Labor, die sie finden konnte. Aus Mangel an Alternativen hatte sie damit vor einigen Tagen ihre brünetten Locken gekürzt und dabei ein Stück von ihrem linken Daumen abgeschnitten. Eine schöne Sauerei. Etwas Blut klebte jetzt noch in ihren Haaren. Der Fingernagel wuchs nach, die Fleischecke daneben würde sie aber nie wiedersehen.
Die Jungs bemerkten das Messer, würdigten es allerdings mit keinem Kommentar. Clara strahlte keine Gefahr aus, was ihr soeben bewusst wurde und sie noch mehr zittern ließ. Erleichtert wirkten die zwei Fremden aber auch nicht.
Der ältere Eindringling dirigierte sie zur Wand, als er merkte, dass sie seiner Aufforderung, von der Tür wegzugehen, nicht folgte. Clara wachte aus ihren Gedanken auf, lief seitlich zu einem Hochschrank, ohne ihren Blick von der Waffe zu wenden. Wie eine Schlange in einem Korb gehorchte sie seinem Instrument.
»Mein Name ist Roland. Das ist mein Bruder Wilhelm. Wie heißt du?« Er schwenkte das Gewehr von ihr weg und peilte die Tür an, was Clara aus ihrer Starre befreite.
Es erlaubte ihr, endlich woanders hinzuschauen. Ein Stein fiel Clara vom Herzen. Roland besaß nicht die Absicht, auf das Mädchen zu schießen, das ihm und seinem Bruder geholfen hatte. Erleichtert fühlte sich Clara dennoch nicht. Neben der Maschinenpistole und dem Mann im Treppenhaus, bereiteten ihr die Uniformen Sorgen, die die zwei Jugendlichen trugen:
Schwarz.
Abzeichen auf der Brust.
Hakenkreuzbinde um den Oberarm.
»Cl… Clara. Mein Name ist Clara Jung.« Sie strengte sich an, aber ihr Zittern bekam sie nicht in den Griff. Ob sie stotterte, weil sie nervös war oder weil sie lange nicht mehr mit einem anderen Menschen gesprochen hatte, wusste sie nicht.
»Komm hier rüber!«, befahl Roland.
Clara gehorchte und hockte sich zu ihnen.
Das Labor bestand aus drei nebeneinanderliegenden Abteilungen. Es gab keinen Flur. Nur zwei Türen verbanden die Räume, eine links und eine rechts. Man musste einen Slalom gehen, um durch alle Zimmer zu gelangen. Ihr Vater hatte das Labor immer »das kleinste Labyrinth der Welt« genannt, wenn sie ihn hier besuchte.
»Hast du keine anderen Waffen?«, fragte Roland, ohne seinen Blick von der Tür zu wenden. »Bei dem Mann da draußen wird ein Messer nichts ausrichten.«
»Roland hat ihm in die Brust geschossen, und er ist einfach stehen geblieben!«, fügte Wilhelm mit großen, unschuldigen Augen hinzu. Er glaubte, was er da von sich gab.
Clara nicht.
Ein letztes Beben vibrierte durch den Raum, als der Mann vor dem Labor zum Stehen kam. Die Teenager spürten, wie er sie durch die Labortür hindurch beobachtete. Einige Sekunden herrschte Stille, bevor der Mann mit etwas Robustem dreimal gegen die Tür hämmerte und ohrenbetäubende Laute erzeugte.
Clara verlor das Gleichgewicht auf ihren Zehen und Wilhelm vergrub sich hinter Rolands Rücken, der erneut sein Gewehr fokussierte und ein lautloses »Schhh« mit spitzen Lippen zischte. Sein Zeigefinger berührte den Abzug der Maschinenpistole. Vielleicht würde er losschießen, um den Mann durch die Tür zu treffen, damit er nicht die Chance erhielt, in das Labor zu treten. Aber er drückte nicht ab, wartete. In dem Moment merkte Clara, dass nicht nur Wilhelm sich an Roland orientierte, sondern auch sie selber. Der Junge mit dem Gewehr hatte das Sagen.
»Ist jemand zu Hause?«
Clara schwenkte ihren Kopf schnell zur Seite. Die Stimme auf der anderen Seite der Tür überraschte sie. Und anscheinend hörten auch die Jungs ihren Verfolger das erste Mal sprechen – alle zeigten denselben verwirrten Gesichtsausdruck.
Es war kein Mann, der sie jagte, sondern eine Frau!

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