23. Februar 2018

'Fotomord' von Patrick Worsch

Kindle (unlimited)
Missbrauch oder Elternliebe? – Der erste Roman über Kinderbilder im Netz.

Geknipst, gefilmt und täglich gepostet: Das Leben der kleinen Luna wird rücksichtslos im Internet zur Schau gestellt. Seit ihrer Geburt dient sie ihren Eltern als Mittel für Lob und Likes. Trommler erkennt, wie das Mädchen darunter leidet. Soll er nichts tun und auf das Schicksal hoffen? Sich einmischen und den Eltern ein paar Takte sagen? Oder muss er Luna entführen, um die Privatsphäre aller Kinder durch ein "gutes Verbrechen" zu beschützen?

Der junge Mann entscheidet sich. Die Konsequenzen könnten schlimmer nicht sein.

Leseprobe:
Trommler kontrollierte die Adresse am Zettel. Da die Hausnummer eine gerade Zahl war, ging er die Gasse aufseiten der ungeraden hoch. Er versuchte, langsam und ziellos zu spazieren, vor allem wenn ihm Leute entgegenkamen, die hinab zum Kirtag marschierten. Als ihm aber eine Frauengruppe begegnete, begann er zu pfeifen und grinste ihnen im Vorbeigehen zu.
Bestimmt drehen sich die um und besprechen dich. Lass den Stumpfsinn!, befahl er sich.
Schon einmal war er in dieser Gasse gewesen, vermutlich bei einem Schulausflug. Viele Häuser glichen aber kaum noch jenen aus seiner Erinnerung. Früher gab es in ihnen ein oder zwei große Fenster, nun bestand jedes dritte bloß noch aus Glas. Hinter einer dieser Fronten verrenkte sich eine Frau auf einer Yogamatte, während sie nach draußen blickte.
Wie lang ist das her? – Zehn bis fünfzehn Jahre, schloss er. Da haben sie begonnen, ihre Privatsphäre für die Anerkennung zu opfern. Damals hat es ihnen genügt, die Villa zu besitzen. Heute verlangen sie, dass die anderen zusehen, wie sie sich darin wohlfühlen.
Nach der Nummer Fünfzig machte die Gasse eine Kurve, und dahinter erschien eine Schranke. ›Nur für Anrainer und Besucher‹, stand am Schild neben dem leeren Wärterhäuschen. Er umging den Balken und sah zu einem Glashaus in Würfelform. Als er aber glaubte, am Ziel zu sein, bemerkte er die Hausnummer, die nicht zu seiner Notiz passte.
Das Nurschel-Haus war das letzte in der Gasse. Es war auf einem Hang errichtet. Damit es nicht abrutschte, hatte man wohl tonnenweise Erde aufgeschüttet und starke Pfeiler verwendet. Der Baustil war weder modern noch durchsichtig: spitzes Dach, Betonmauern, kleine Fenster mit herabgezogenen Rouleaus. Entlang der Vorderseite des Grundstücks verlief ein Holzzaun, der von hohen Hecken überragt wurde. Bis auf eine wuchsen sie kerzengerade.
Auf den Fotos im Internet hatte er nie das Gebäude, sondern nur den Zaun und die Hausnummer am Briefkasten gesehen. Umso mehr überraschte ihn die Bauart. Dieses Gebäude widersprach dem Verhalten und dem Lebensstil seiner Bewohner. Online veröffentlichten sie ihre Freunde, ihre Lebensläufe, ihre Aktivitäten und ihr Kind, offline bemühten sie sich aber scheinbar, ihr Leben im Haus zu verstecken. Erdgeschoss, erster Stock, Dachboden, Seitengebäude – die gesamte Vorderfront offenbarte keinen Quadratmeter aus dem Inneren.
Er ging weiter. Ein kleines Waldstück grenzte an. Zwischen den Bäumen und dem Grundstück lief ein schmaler Trampelpfad aufwärts. Die Hecken waren hier niedriger und wuchsen nicht mehr gerade, der Holzzaun wurde von Maschendraht abgelöst. Er hielt vor einer Nische, in der man eine Hecke ausgerissen hatte; die Wurzeln ragten noch wie Gedärme aus der Erde. Durch diese Nische überblickte er den Garten. Der Rasen war kurz gemäht, nicht ungepflegt, aber lang nicht so englisch wie die meisten anderen in der Gasse. Es gedieh Unkraut, einige Blumen waren von der Hitze verdorrt und geknickt; auf dem Tisch und den vier Stühlen lagen Blätter und Äste des alten Apfelbaums. Im Zentrum des Gartens war ein kleines Biotop angelegt, trotz des Sonnenscheins glitzerte das Wasser aber nicht.
Dann spähte er zur Hinterseite des Hauses. Im ersten Stock erstreckte sich ein langer Balkon, auf dem drei Sonnenliegen standen; ein Schaukelstuhl wippte dahinter im Wind. Durch zwei Türen gelangte man vom Balkon ins Haus: Eine führte in einen großen Raum, der von einem dicken Vorhang verdeckt wurde; durch die zweite betrat man wohl einen Gang, der zu den Räumen neben dem Balkon leitete. Das erste und das dritte Fenster wiesen keine Besonderheiten auf, vom zweiten lächelte aber ein Mond mit blauen Augen. Es war die Art Fensterschmuck, die kleine Kinder basteln und sich an die Scheibe kleben.
Luna bedeutet Mond, schloss Trommler. Das ist ihr Zimmer.
Das Fensterbrett lag etwa in drei Meter Höhe, er entdeckte aber kein Hilfsmittel, worauf man steigen, oder woran man sich festkrallen konnte. In der Mauer war kein Hahn, nirgendwo lehnte eine Leiter, und die Stühle um den Gartentisch sahen instabil und niedrig aus.
Im Seitengebäude sind gar keine Türen oder Fenster, sagte er sich. Das würde nur über den Balkon funktionieren ... Vielleicht würde es aber auch mit … – Er sah zu dem kleinen Kellerfenster. – Das wäre knapp, aber die Entfernung lässt es wohl enger wirken. Wahrscheinlich braucht man nicht einmal einen Hammer. Einmal zutreten und ... Aber wie laut wäre der Bruch? Die Scherben würden fallen ... Wie tief runter? Und worauf landen sie? Auf Holz? Im Keller eher auf ...
Da erschallte eine Frauenstimme: »Was machst du?«, rief sie.
Trommler duckte sich.

Im Kindle-Shop: Fotomord: Roman

Mehr über und von Patrick Worsch auf seiner Website.



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