3. Januar 2019

'Wie Nebel in der Sonne' von Astrid Töpfner

Kindle (unlimited) | Thalia | Taschenbuch
Dass sich aus einem Flirt und zu viel Wein gleich eine gemeinsame Reise nach Spanien entwickeln würde – damit hätten Susanna und Mark sicher nicht gerechnet. Schließlich begegnen sie sich am Abend vor der Abfahrt zum ersten Mal. Was in einer kleinen Bodega in Zürich beginnt, wird zu einem höchst emotionalen Trip.

Beide ahnen noch nichts davon, welches Ziel der jeweils andere mit dieser Fahrt verfolgt: Susanna begibt sich nach dem Tod ihrer Mutter auf die Suche nach ihrer Familie und kommt dabei einem lang gehüteten Geheimnis auf die Spur, und Mark versucht nach einem tragischen Erlebnis, den Glauben an die Liebe wiederzufinden und sich selbst zu verzeihen. Für beide ist diese Reise mit Trauer und Schmerz verbunden, aber auch mit Neuanfängen, Freude und der Hoffnung auf Glück.

Leseprobe:
Susanna
»Mama, bist du wach?«
»Hm?« Lucía drehte sich langsam im Bett um und blinzelte benommen. »Du bist schon da. Ich muss eingenickt sein.« Vorsichtig versuchte sie, sich aufzurichten.
»Warte, mamá, ich helfe dir.« Mit geübten Griffen unterstützte Susanna ihre Mutter, bis sie am Bettrand saß. Dann reichte sie ihr das Wasserglas, das auf dem Nachttisch stand, und beobachtete ihre Mutter, während diese ein paarmal am Strohhalm zog. Sie schien immer noch nicht ganz wach zu sein, ihr Blick driftete träge durch den halbdunklen Raum, ihre Schultern hingen kraftlos nach vorne.
Sie war so furchtbar dünn. In ihre dunklen Haare hatten sich in den letzten paar Wochen immer mehr silberne Fäden verirrt. Dabei war sie doch erst fünfundfünfzig. Ganz sanft, um sie nicht zu erschrecken, strich Susanna ihr eine lose Strähne aus dem Gesicht.
Lucía sah auf und lächelte.
Susanna schluckte hart, lächelte aufmunternd zurück und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Sie musste jetzt stark sein.
»Was hat der Arzt gesagt heute Morgen?«, fragte sie betont im Plauderton, während sie aus dem Fenster blickte. »Es tut mir leid, dass ich nicht mitkommen konnte. Nächste Woche wieder.« Draußen dämmerte es, die Häuser gegenüber und die regennasse Straße unter ihr wurden in ein trübes rotgraues Licht getaucht. Ende Januar und es hatte immer noch nicht geschneit. Wie trostlos. Sie starrte auf ihr verschwommenes Spiegelbild. Die dunklen Haare rahmten ihr blasses Gesicht ein, ihre grauen Augen erschienen nur als zwei helle Flecken. Buh, sie war ein Gespenst.
»Oh, alles gut so weit. Ich habe vierhundert Gramm zugenommen!«
Rasch drehte sich Susanna um. »Das ist ja wunderbar, mamá!«
Erleichterung durchlief sie wie ein Strom warmen Wassers. »Hast du vielleicht zum Frühstück vier Tafeln Schokolade gegessen?«, scherzte sie, während sie das Licht einschaltete.
Lucía runzelte die Stirn, dann schmunzelte sie. »Ay, niña … Nein, mein Kind. Aber diese widerlichen Proteingetränke helfen vielleicht doch.«
»Um die beneide ich dich wirklich nicht. Und das, obwohl sie nach Schokolade schmecken. Brrr.« Sie schüttelte sich vor gespieltem Ekel wie ein nasser Hund, bis ihre langen Haare sich aus dem lockeren Zopf lösten.
Die Mutter lachte. »Komm her, ich flechte dir einen neuen.« Susanna setzte sich im Schneidersitz auf den Boden vor das Bett.
»Du solltest aufhören zu rauchen«, murmelte Lucía. »Sogar deine Haare riechen danach. Das ist nicht gut für dich.« Sie fuhr mit den Fingern durch die langen Locken, langsam und sanft, bis Susanna kurz davor war zu schnurren.
»Hmm«, seufzte sie behaglich und schloss die Augen. Mit ihren Schultern schmiegte sie sich an die Knie der Mutter, spürte ihre Wärme. Sie könnte ewig so sitzen bleiben. Sie wollte, sie könnte …
Nach einer Weile öffnete sie die Augen und fragte widerstrebend: »Was hat er sonst noch gesagt?«
Lucías Hände hielten inne. »Wer?«
»Der Arzt, mamá
Die Finger nahmen ihre Arbeit wieder auf. »Der Arzt, ach so …«, murmelte ihre Mutter. »Er meinte, dass sich eventuell Metastasen gebildet haben könnten. Kleine.«
Susanna sog scharf die Luft ein und biss sich auf die Lippen. Ruhig bleiben, ruhig bleiben. Ihr Zeigefinger begann wie von selbst, nervös auf ihr Knie zu klopfen.
Lucía seufzte. Sorgfältig flocht sie einen neuen Zopf und legte dann ihre Hände auf Susannas Schulter. So saßen sie eine Weile schweigend da.
»Ich habe ein Geschenk für dich«, sagte Lucía in die Stille hinein.
Erstaunt drehte Susanna den Kopf. »Was denn für ein Geschenk? Por qué, wieso?«
»Hol doch bitte meine Schmuckschatulle aus dem Badezimmer«, bat ihre Mutter.
Unsicher rappelte sich Susanna auf und durchquerte den Flur. Die Schatulle stand wie immer auf der Kommode. Eine kleine schwarze Lederschachtel. Sie öffnete sie und warf einen Blick hinein, aber sie kannte den Inhalt bereits: zwei Uhren von Swatch, die beide nicht mehr funktionierten, ein paar einfache goldene Ohrstecker, ein paar extravagantere Stücke Modeschmuck, Ringe, die Lucía seit Jahren nicht mehr getragen hatte. Vier, fünf Gold- und Silberketten mit Anhängern. Einige leere Stoffsäckchen. Nichts, was für ihre Mutter von größerer Bedeutung war, auf jeden Fall, soweit sie wusste.
»Lassen wir uns überraschen«, murmelte Susanna, nahm die Schatulle und löschte das Licht. Beim Rausgehen blieb sie mit dem Ärmel an der Türklinke hängen und ließ das Schmuckkästchen beinahe fallen. »Verdammt«, zischte sie und atmete ein paarmal tief ein und aus.
»Es ist eine Kette«, erklärte ihr Lucía, die mit der Schatulle auf dem Schoß im Schaukelstuhl neben dem Bett saß.
»Aber mamá, ich ziehe doch nie Schmuck an«, versuchte Susanna einzuwenden und blickte an sich herab. Ein dunkelbrauner, grob gestrickter Rollkragenpulli mit Zopfmuster, Jeans mit abgewetztem Saum und dicke schwarze Stiefel. Sie war viel und gerne draußen unterwegs und als Floristin lief sie auch nicht gerade schmuckbehängt herum.
»Es ist ein Erbstück meiner Familie. Schon deine Urgroßmutter hat es besessen.«
Susanna runzelte verwundert die Stirn, dann sah sie zu, wie Lucía eines der Stoffsäckchen herausnahm. »Ich dachte, die seien alle leer?«
»Da hast du wohl nie richtig nachgeschaut«, erwiderte Lucía mit einem feinen Lächeln. Susanna verzog nur kurz den Mund und schaute gespannt, wie eine schmale Silberkette zum Vorschein kam, an der ein filigraner herzförmiger Anhänger baumelte. Zögernd streckte sie die Hand aus. Beim näheren Hinsehen sah sie, dass der Umriss des Herzens aus zwölf kleinen Diamanten bestand.
»Diesen Anhänger habe ich noch nie gesehen.«
»Du kannst dich bloß nicht mehr daran erinnern«, erwiderte ihre Mutter. »Ich habe ihn oft getragen, als ihr klein wart.«
»Und dann?«
»Was dann?«
»Warum hast du aufgehört, die Kette zu tragen?«, fragte Susanna, neugierig geworden. Lucía sah an die Decke, als läge die Antwort dort in der Luft. Dann zuckte sie mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Vielleicht brauchte ich eine Pause. Irgendwann habe ich einfach nicht mehr so häufig Schmuck getragen. Ich weiß nicht mehr.« Sie schloss die Schatulle.
»Und jetzt brauche ich sie nicht mehr.«
Susanna fühlte, wie das Blut aus ihrem Kopf wich und ein kaltes Prickeln hinterließ. »Sag doch das nicht«, flüsterte sie. »Bitte, mamá

Im Kindle-Shop: Wie Nebel in der Sonne.
Mehr über und von Astrid Töpfner auf ihrer Facebook-Seite.



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