1. Juli 2019

'Dir zuliebe' von Helena Baum

Kindle (unlimited) | Taschenbuch
Isabella ist eine Schönheit und lebt ihren Traum als Model. Entgegen den Vorstellungen ihrer Eltern lebt sie schnell, intensiv, experimentiert mit der Lust und der Liebe.

Die plötzlich auftretende Hautkrankheit bremst sie komplett aus und krempelt ihr ganzes Leben um. Verzweifelt sucht sie nach Antworten auf die Fragen: Warum? Warum ich? Wieso so heftig? Bei der Auseinandersetzung mit sich und der Krankheit ahnt sie, dass die Ursachen in der Vergangenheit liegen.

Während ihrer Nachforschungen stößt sie in ihrer Familie auf eine Wand des Schweigens. Nach und nach entdeckt sie einen fein gesponnenen Teppich aus Geheimnissen und Halbwahrheiten. Isabella muss tief fallen und tief schürfen, um herauszufinden, was die anderen im Verborgenen halten.

Leseprobe:
Oktober 1986

Wie aus weiter Ferne hörte sie seine Worte. »Hör auf, Mutter! Hör endlich auf!« Der Badezimmerboden war klitschnass, die Wanne übergelaufen und ihre Füße standen in dem mit Blut, Kot und Urin verschmutzten Badeschaum. Das Wasser lief und lief. Der beschlagene Badspiegel zeigte eine aufgemalte Sonne, die langsam zerlief. Friedas Blick huschte verstört über ihre Kinder, sie hatten Angst vor ihr. Beide.
Sie beschlich eine Ahnung, dass sie dieses Bild nie mehr loslassen sollte. Dass sie Badezimmer kaum noch betreten konnte und beschlagene Spiegel ihr bis in die staubtrockenen Träume folgen würden.

Februar 2002, sechzehn Jahre später

1.
Bellas Gesicht glühte, als hätte sie hohes Fieber. Sie zog sich den langen dunkelblauen Wintermantel über, obwohl sie ihn nicht besonders mochte. Er war ihr viel zu elegant und sie hatte das Gefühl, darin erwachsener auszusehen, als sie sich fühlte. Doch heute könnte er ihr hoffentlich gute Dienste leisten. Ihr Plan war, ohne viel Aufhebens an ihrer Mutter vorbeizuhuschen. Ein Blick aus dem Fenster verriet, dass ihr Vater noch arbeitete. In der gegenüberliegenden Werkstatt brannte das Deckenlicht. Mist! Sie brauchte ihn als Unterstützung. Ihre Freundin Becky wartete, sie hatte keine Wahl. Luft anhalten. Unsichtbar machen. Freundlich bleiben.
Als sie in die Küche kam, thronte ihre Mutter auf dem kleinen Küchensofa, ihrem Lieblingsplatz. »Bis später, Becky wartet. Du erinnerst dich? Heute ist Fasching im Kowalski.«
»Stopp, stopp, stopp. Was versteckst du da und wann bist du zurück?«
Bleib freundlich, dachte Bella, und zeig ihr auf keinen Fall das Kostüm.
»Ich verstecke nichts und bin gegen ein Uhr in der Nacht zurück, vielleicht ein Uhr dreißig. Beckys Vater fährt uns.« Das Gesicht ihrer Mutter kam in Bewegung, die ganze Frau kam in Bewegung und Bella hielt die Luft an.
»Du bist halb eins hier und zeig mir dein Kostüm!«

2.
Noch bevor Jupp die Tür geöffnet hatte, die direkt in die warme Wohnküche führte, hörte er das Gezeter.
»Oh, nein! Nein, mein Frollein. Nein! So gehst du nicht!« Jupp bückte sich, wechselte die Schuhe und wäre am liebsten direkt wieder umgekehrt, sogar barfuß.
»So! Gehst! Du! Nicht!« Stakkato.
Er trat ein und sah, wie Frieda den Arm nach kurzem Zögern senkte. Den Zeigefinger, der auf Isabellas Minirock deutete, ließ sie anklagend ausgestreckt.
Jupp sah seiner Frau an, dass sie noch lange nicht fertig war. Noch lange nicht!
Es klingelte und er war heilfroh über die Unterbrechung. Als er die Tür öffnete, sah er in Lottis gut gelauntes Gesicht mit den hochgezogenen Augenbrauen und dem leicht frivolen Zug um den Mund, der sich über die Jahre dort eingraviert hatte. »Komm rein, ist ganz schön kalt.«
Mit einem Rundumblick schien Lotti die Lage zu erfassen. »Hier drinnen auch, wie mir scheint.«
Jupp nickte. »Eher heißkalt.« Galant half er ihr aus dem schweren Wintermantel und hoffte, dass er kein echtes Tier in den Händen hielt und an den Garderobenhaken beförderte. Lotti klopfte den Schmutz von ihren Stiefeln und wechselte in die Hausschuhe, die immer für sie parat standen. Mit ihrem Pelzhut, den sie auch in der warmen Küche nicht absetzte, ihrer kerzengeraden Haltung und dem auffälligen Schmuck sah sie aus wie eine russische Fürstin in einem bitterkalten Winter in Nowosibirsk.
Jupp stand hinter ihr und dachte wieder einmal, dass Lotti zur Familie gehörte wie dick gestrickte Socken an winterkalte Füße.
Schnurstracks ging sie zu Frieda, küsste sie auf die erhitzte Wange und tätschelte ihr den Rücken. »Egal, was ich verpasst habe, Schwesterherz. Reg dich ab. Deine Pumpe wird’s dir danken.« Dann umarmte sie ihre Nichte Isabella, hielt sie eine Armlänge von sich entfernt und musterte sie von oben bis unten. »Oh, là, là, kleine Lady, was hast du denn heute vor? Der Lidstrich betont deine Katzenaugen ganz fantastisch und dein Mund, da reicht ein Hauch von Lipgloss. Und, Frieda, schau dir diesen schlanken Hals und das Herzgesicht an. Eure Tochter ist der Wahnsinn!«
Jupp registrierte Lottis Entzücken und das für seine Tochter bestimmte Augenzwinkern.
Friedas erwartungsvollem Blick hingegen wich er tunlichst aus. Sie sah aus, als würde sie mit letzter Kraft höchstpersönlich ihr Blut durch die Adern pumpen. »Jupp! Sag was! Und Lotti, halt dich da raus! Das geht nur Isabella und uns etwas an!«
Jupp, der inzwischen bei den Frauen am Tisch war, begutachtete seine Tochter ebenfalls. Isabella hatte sich offensichtlich bereits in den Kampfmodus begeben. Inzwischen stand sie breitbeinig, die Arme vor der Brust verschränkt wie eine Amazone im Raum und wartete ab, was passieren würde. Sie trug so etwas wie einen goldenen Büstenhalter mit Fransen, dazu einen, auch für seinen Geschmack, sehr winzigen Minirock, Stiefel zum Schnüren, die bis an die Knie reichten, und hatte sich eine riesige Sonnenbrille in ihre langen roten Haare gesteckt. Ihr Gesicht leuchtete. Alles, was sie am Körper trug, glitzerte und blinkte im Licht der Haberlandschen Küchenlampe. Seine Tochter war eine Augenweide, selbst wenn sie ihre Wut zerkaute wie einen ausgelutschten Kaugummi, wenn sie weinte und tobte. Oder auch, wie jetzt, trotzig in der Küche stand. Er liebte dieses Mädchen von ganzem Herzen. Wie immer regte sich für einen Moment sein Vaterstolz, so eine hübsche Tochter in die Welt gesetzt zu haben. Seine Kleine, seine Nachzüglerin, seine Prinzessin, seine …
»Jupp!« Friedas Blick glich dem einer Irren. Gespannt wie ein Flitzebogen starrte sie ihn an. Der immer noch ausgestreckte Zeigefinger schien wippend auf einen weiteren Einsatz zu warten. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Lotti derweil eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank geholt hatte und sich ein Wasserglas davon einschenkte. Die Flasche ließ sie auf dem Tisch stehen, was Jupp sofort ärgerte. Wein musste zurück in den Kühlschrank, auch im Winter! Doch vor ihm brannte die Luft, er konnte sich gerade nicht um so etwas Banales kümmern. Hoch konzentriert wischte Jupp ein paar Krümel vom Tisch. Vielleicht waren die auch nur eingebildet, aber sie verschafften ihm Zeit. Dann setzte er betont langsam die Brille auf und widmete sich seinen beiden Gewitterziegen, wie er seine Tochter und seine Frau insgeheim nannte.
Bevor er überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte, hörte er Isabellas gelangweilte Ermahnung. »Noch mal, liebe Familie, da ihr alle hier so schön versammelt seid: Ich heiße Bella, einfach nur Bella und nicht Isa-Bella. So wie Rebecca Becky heißt. Isa ist einfach out! Könnt ihr euch das endlich merken? Und …«, ihr Blick wanderte aufmüpfig zu ihrer Mutter und hilfesuchend zu Jupp und Lotti, »… natürlich gehe ich so! Es ist Fasching, ich bin siebzehn, fast achtzehn. In welcher Zeit lebt ihr? Alle laufen so rum. Wir sind nicht mehr in den Achtzigern.« Sie schnappte sich ihren Mantel und zog ihn hastig über.
Demonstrativ schaute sie noch einmal zu ihrer Mutter und Jupp musste endlich etwas sagen. Aber was? Seine Frau würde gleich explodieren, die Spannung in der Luft reichte aus, dass sich ein Streichholz von allein entzünden könnte.
»Und …?« Frieda nahm Anlauf, sie richtete sich auf. Der Mund wurde spitz. »Isa … also, Bella … als was gehst du?« Der Zeigefinger kam erneut zum Einsatz. »Als was gehst du da, bitteschön?«
»Als Model.« Isabella blieb verträglich und schaute ihre Eltern und Tante Lotti in all ihrer gottgegebenen Unschuld an. Seelenruhig wanderte ihr Blick von einem zum anderen, als wüsste sie wirklich nicht, worüber ihre Mutter sich so aufregte. Sie zog ihre schmalen Schultern nach oben und ließ sie kommentarlos wieder fallen.
Jupp stöhnte lautlos. Alles, was jetzt käme, gehörte zum täglichen Wahnsinn zwischen seiner Tochter und seiner Frau. Wie ein Unwetter würden die ewig gleichen Themen anrollen, um sich vor seinen Füßen zu entladen.

Im Kindle-Shop: Dir zuliebe.
Mehr über und von Helena Baum auf ihrer Website.



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