'Sommerfabel' von Lenny Löwenstern
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Die 29-jährige Hutmacherin Josefine steht häufig neben sich und tut die seltsamsten Dinge. Eile kennt Josefine nicht. Lieber flaniert sie und spricht mit Tieren ebenso wie mit Dingen. Magisches begegnet ihr überall im Alltag.
Doch eine verflossene Liebe lässt sie nicht los. Wird Josefine die richtige Entscheidung für ihr Leben treffen? Eine entschleunigte Geschichte über Träume, über das Loslassen und einen schier endlosen blauen Sommertag in der Stadt.
"Wenn dir das Herz blutet, sagt der Himmel, dann lass es zu, lass es bluten. Wenn es leer ist, bist du frei. Wenn du leicht genug bist, nehme ich dich auf, sagt der Himmel. Strömen wir zusammen die Welt entlang. Immer knapp unterm Himmelszelt. Sterne im Nacken, die Sonne voraus. So ergeht es einem Menschenwesen, wenn es nur leicht und himmelblau genug ist."
Leseprobe:
1. Luftzug mit Hutgeruch
Josefine: »Was machen Sie da?«
Mücke: »Saugen.«
Josefine: »Unterstehen Sie sich, ich schlafe.«
Mücke: »Schlafen Sie recht schön weiter.«
Josefine: »Nein!«
Mücke: »Wenn ich sanft sauge, hört man mich nicht.«
Josefine: »Das könnte Ihnen so passen.«
Mücke: »Nur einen Tropfen noch.«
Josefine: »Aufgepasst! Ich spüre genau, wo Sie sitzen.«
Mücke: »Von wegen. Es gibt nichts Leichteres als mich, das ist ja mein Trick.«
Josefine: »Wetten?«
Mücke: »Um was?«
Josefine: »Ihr Leben.«
Josefine: »Na?«
Josefine: »Rechter Oberarm!«
Mücke: »Oh!«
Der Morgen kroch milchig aus der Nacht hervor. Traumselig schlüpfte er aus dem Dunkel und übernahm verschlafen die Regentschaft. Ein paar Wolken wirkten für eine Weile wie die Fetzen der Nacht, machten sich aber davon. Und dann hielt das Blau Einzug. Nicht mit Fanfaren, dazu war es zu raffiniert. Es rollte auf sanften Polstern über das Firmament, wurde stündlich immer kräftiger. Aus einem tristen Einheitsgrau schälte sich nach und nach ein prächtiger Tag heraus. Und mit ihm kam die Hitze. Die große Hitze. Die größte gemessene Hitze für einen Sommertag in Deutschland des Jahres 2018. Es gab kein Entrinnen. Nicht heute. Nicht an diesem Dienstag.
Josefines Tag begann zwei Stunden nach Mitternacht und fiel auf den Anfang der Dämmerung. Die tropische Nacht im Verbund mit einem überaus lästigen Insekt hatte sie weit vor Sonnenaufgang aus dem Bett getrieben. Obwohl ihr kleines Hutgeschäft heute ausnahmsweise zugesperrt bleiben würde. »Wegen Heißzeit geschlossen« hatte sie mit bunten Kreiden auf eine Schiefertafel geschrieben. Diesen freien Tag wollte sie unbedingt auskosten. An die Arbeit würde sie heute nicht denken. Das hatte sie sich vorgenommen. Josefines Werkstatt, die gleichzeitig ein Lagerraum war, gelang es nämlich mühelos, noch heißer als das Wetter draußen zu sein. Josefine wollte nicht nur ihren Tag auskosten und die angekündigte Hitze irgendwie überleben. Da war noch etwas anderes, etwas Wichtiges, dem sie nachspüren musste. Eine Sache, die ihr zunehmend keine Ruhe mehr ließ. Eine Sache, die mit dem Meer, mit Strand, mit Segeln und Wellen zu tun hatte und die in die Vergangenheit reichte.
Josefine war nicht einfach nur dünn, sie war viel dünner. Stell dir den dünnsten Menschen vor, den du je gesehen hast und dann zieh noch ein großzügiges Drittel vom Umfang ab. Manche Leute nannten Josefine daher ein Gestell. Die das taten, das waren die Gemeinen. Auf ihre Freundin Henni, die zweifellos zu den Guten zu rechnen war, wirkte Josefine mehr wie dahingehaucht. Wie ein Luftzug mit Hutgeruch, wie Henni sich auszudrücken pflegte. Dabei roch Josefine gar nicht nach Hüten, und schon gar nicht nach altem Stoff. Sie zog es vor, sich als Veilchen zu tarnen. Allenfalls ein Hauch von Zitrone durfte ihren duftenden Auftritt noch begleiten.
Nehmen wir es, wie es ist: Josefine war als Gestell geboren worden und blieb auch dabei, eines zu sein, als sie in das Berufsleben eintrat. Oder sagen wir besser, als sie zum ersten Mal in eine Werkstatt tapste. Sie war sofort verliebt, hutverzückt und hutversessen. Da war sie sechs Jahre alt gewesen. Seitdem war Josefine nie mehr ohne Hut aus dem Haus gegangen. Schon als sie noch ein Mädchen gewesen war, und mutmaßlich weder über Stil noch Geschmack verfügte, trug sie ihre jeweilige Lieblingskopfbedeckung stolz daher oder bei Wind unter das Ärmchen geklemmt mit sich. Das signalisierte jedem sofort, was von ihr zu halten war. Sie war eine Prinzessin. Im Kindergarten kam das bei den Jungs zwar nur mittelprächtig an, doch wenn es hart auf hart ging, dann ließ sich ein Hut auch als Schlagwaffe verwenden. Das war ganz einfach, indem man einen härteren Gegenstand, zum Beispiel eine gefüllte Plastikflasche hineinlegte; die talentierte Josefine hatte dafür extra eine Tasche eingenäht. Das hatte man als Hutliebhaberin zu wissen. Manches Backpfeifengesicht bot sich freien Herzens an und wurde mit dem schlagfertigen Hut gern bedient.
Eine wie sie übersieht man gern mal. So mancher wurde davon schon überrascht. Spätere Wechsel der Ernährungsgewohnheiten (ihre Diäten) vermochten an ihrer körperlichen Erscheinung nichts mehr zu ändern. Sie war keineswegs krank oder magersüchtig. Die Natur hatte es mit ihr eben so eingerichtet. So blieb Josefine ein Luftzug, der sich als junge Frau von inzwischen 29 Jahren manifestierte.
Doch eine solche Figur ist für vieles gut. Im Beruf half sie dabei, auf Leitern hochlagernde Rohlinge zu erreichen. Sie hatte selten Probleme mit Gepäckablagen, eher mit schweren Koffern. Und sie konnte Eis schneller zum Schmelzen bringen, indem sie es sich hoch über den Kopf hielt (da war es der Sonne näher). Was allerdings eine ziemliche Ferkelei ergab. Sie war hochgewachsen und dürr. Auch ihr Gesicht war schmal, das ansonsten ein durchaus bezauberndes und zartes Gesicht war. Es trug einen speziellen Josefine-Blick in die Welt. Eine Mischung aus fragend und Ich-war-das-nicht. Hätte jemand einen Vorwurf in ihre Richtung geäußert, wollte sie sich quasi schon im Vorwege schützen. Es könnte ja noch jemand versuchen. Auf diese Weise half das Gesicht. Es sagte: »Versuch es erst gar nicht. Ich glaub es eh nicht. Außerdem habe ich nichts damit zu tun. Das siehst du ja. Wieso fragst du mich?« Den Blick hatte sie schon als Kind gehabt, der war nicht mehr zu ändern. Verträumt und bockig hatte man sie als Mädchen genannt. Das Bockige war mit der Zeit gewichen. Aber das Haar …
Da alles an ihr dünn war, müsste das eigentlich auch für ihr Haar gelten. Das sollte man jedenfalls meinen. Doch erstaunlicherweise war dieses annähernd dünnste Haar der Welt wie aus Draht gemacht. Zumindest schien es so. Biegsam in alle Himmelsrichtungen, frech abstehend und stets zu erstaunlichen Volten bereit. Keinem Meistercoiffeur wäre Ähnliches jemals eingefallen oder unter den Kamm gekommen. Ihr Haar benahm sich, als sei es auf der Flucht. Sie wusste nie, wo es morgen sein würde. Gebogen, windschief, manchmal gekringelt. Ein Haar wie ein meinungsstarker voll besetzter Kindergarten, man kam einfach nicht dagegen an. Manchmal verfingen sich Blüten oder Blätter darin. Ein Moment des Kitzelns, der sich fast übergangslos auflöste in das sanfte Gefühl, vom Himmel berührt zu werden. Kein Klopapier war jemals derart so weich gewesen.
Ein einziges Blatt im Haar, zwei wären möglicherweise noch ausdrucksstärker, kann einem das Gefühl verleihen, einen Hut zu tragen. Denn mit der Quadratzentimeterfläche der Bedeckung hatte Huttragen nichts zu tun. Davon verstand sie etwas. Hier ging es ums Prinzip. Selbst teuerste Designerhüte konnten winzig sein, das genügte, um ihre Trägerin wohlbehütet durch den Tag zu begleiten, wenn nicht sogar, um sich königlich fühlen. Das alles schafft ein einziges, zufällig herabgefallenes Blatt, man muss es nur spüren wollen. Und man musste das Glück haben, zur rechten Zeit unter einem fallwilligen Baum zu stehen. Absichtlich drauflegen, das ging gar nicht.
Seitdem Josefine das alles wusste, pflegte sie mit einem Strohhut auszugehen. Jedenfalls im Sommer. Den für ihr schmales Gesicht eigentlich zu großen, breitkrempigen, aber angenehm leichten Deckel hatte sie aus Seegrasstroh handgeflochten. Den alten Rest eines Taus hatte sie drum herumgeschlungen und in einer Schleife enden lassen. Der hielt mehrere Jahre, wenn er gut gepflegt wurde.
Josefine war Putzmacherin, die moderne Bezeichnung einer Modistin für ihren Beruf lehnte sie ab. Sie arbeitete in einer großzügigen Werkstatt mit einem wenige Quadratmeter großen angeschlossenen Ladenlokal, das mit Fug und Recht Atelier genannt werden durfte. In einer unbedeutenden Nebenstraße entwarf, fertigte und verkaufte Josefine Damenhüte und Kopfbedeckungen aller Art. Das kirschrote Haus am Hang zur Saale hin hatten die Eltern ihr hinterlassen. Josefine wohnte in der Werkstatt, in der früher ein Bürstenbinder gearbeitet hatte. Einige seiner Hinterlassenschaften fanden sich noch immer in verstaubten Höhenregalen, in Kisten und natürlich auch im Keller, den Josefine aber nie betrat.
Auf der robusten Werkbank stapelten sich die Materialien: Samt und Seide, Filz und Tüll, Pelz und Kordel, Feder und Schleier, Stoff und Gardine, Stroh und Seidenblume, Band und Nadel. Ihre Werkzeuge waren verschieden große Bügeleisen, Scheren, die Hutpresse, hölzerne Hutstumpen und eine unübersehbare Anzahl von Kleinwerkzeugen. Auf Regalen lagerten Rohlinge und die fertiggestellten Hüte, die auf ihre Individualisierung warteten. Die Welt der Hutschachteln war eine bunte Welt. Neben Pastelltönen war vor allem Rot gefragt. Am besten gingen Streifenmuster und Rosenmotive.
Ein Hut macht aus dir einen anderen Menschen. Aber nicht jeder mag das. Wer will schon irgendjemand anders sein – und so plötzlich? Besser man findet den richtigen Hut, dann kann man sich unbesorgt verwandeln. Und wer keinen findet, der lässt sich seinen Hut eben machen. Denn ein Hut verdoppelt die Ausstrahlung seiner Trägerin ohne Weiteres um mindestens das Doppelte. Ohne dass man sonst noch etwas tun müsste.
Im hinteren Teil der Werkstatt schlossen sich eine offene Küchenzeile und ein schmuckloses Schlafzimmer an. Weitere Räume beanspruchte Josefine nicht. Im ersten Stock des hundert Jahre alten Gemäuers lebte die Familie Reppekus, von ihr gern als Reppeküsse tituliert. In der Etage darüber in einer Dreiraumwohnung die Eheleute Kurz und schließlich im Dachgeschoss die alte Frau Käsebein. Die wohnte schon vor der Wende im Haus. Zahlte wenig Miete, war aber mit ihren neunundachtzig Jahren Lebenserfahrung eine wichtige Ratgeberin für Josefine. Anita Roswitha Käsebein hatte in jungen Jahren unter anderem im sozialistischen Ungarn als Tänzerin glanzvolle Auftritte hingelegt. Aber das war lange vorbei. Inzwischen saß sie im Rollstuhl. Das war auch der Grund, warum Josefine vor zehn Jahren den Fahrstuhl außen am Haus hatte anbringen lassen. Finanziell war das ein Verlust gewesen, doch wollte sie weder eine behinderte alte Dame vor die Tür setzen, noch ihre tauglichste Ratgeberin verlieren. Das finanzielle Opfer hatte also sein müssen. Im Übrigen nutzte sie den Fahrstuhl selbst, nämlich, um damit auf die gemeinschaftliche Dachterrasse zu gelangen.
Den Lebensunterhalt finanzierte die Hutmacherin aus dem Mietzins und dem Rest des Erbes. Ihr Handwerk brachte zu wenig dafür ein, war kaum kostendeckend. Wer kaufte heute noch Hüte? Und das in der Bernburger Provinz, in einem so abseitig gelegenen Laden, der nicht einmal den Ansatz einer Neonreklame besaß. Aber es war und blieb ihr Handwerk, von dem sie nicht lassen wollte. Material durch die eigenen Hände laufen zu lassen, zu formen, sich kreativ auszudrücken. Ihr größtes Glück war es, einen Menschen zu sehen, der stolz mit einer ihrer Kreationen unterwegs war. Sie erkannte die von ihr gefertigten Hüte schon aus weiter Ferne. Dazu musste sie nicht in die Innenseite sehen, wo ihr Name und die Adresse eingeklebt waren. Eine Praxis, die sie sich übrigens für viele Gegenstände in ihrem Besitz zu eigen gemacht hatte. Man konnte nie wissen.
Und ihr Handy? Nö, Handys waren Josefines Welt nicht. So viel Technik in einem kleinen Kasten war der Hutmacherin nicht geheuer. Schon gar nicht die Tatsache, dass man Dutzende Fotoalben oder eine mittelschwere Bibliothek in einem Handy aufbewahren konnte, diese aber weder riechen noch betreten konnte.
»Wenn du so altmodisch bist«, hatte ihre beste Freundin Henni gemeint, »nimm doch ein Handy mit Stift. So was gibt es auch.«
Ja, klar. Mit einem Stift auf einem Telefon herumkritzeln. Wie doof war das denn? Wer hätte neunzehnhundertachtzig geglaubt, dass man in der Zukunft mit einem Telefon Briefe würde verschicken können. Aber dann war das Fax in Mode gekommen, als Zwischenstufe. Ach Gott nee, wie lange war das jetzt her?
Im Kindle-Shop: Sommerfabel: Roman.
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Labels: Lenny Löwenstern, Roman
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