'Hinter Türen' von Anja Ollmert
Das Leben schreibt Geschichten, die erzählt werden wollen. Wir Menschen sind versucht, einen Blick hinter verschlossene Türen zu wagen, einen Blick voller Interesse, Neugier, Mitgefühl und wohligem oder ängstlichem Schaudern.
Hinter den Türen dieses Buches - und nichts anderes ist der Buchdeckel für den Leser - verbirgt sich Verblüffendes, Geheimnisvolles, Kriminelles, Mörderisches, Unterhaltsames und Skurriles in 23 Kurzgeschichten.
Gleich lesen: Hinter Türen
Leseprobe aus "Musik des Lebens":
Mit dem Fuß stieß das Mädchen den Koffer an, sodass der Deckel zuschlug. Dann nahm sie auf dem improvisierten Hocker Platz. Ihre Finger strichen über das Griffbrett, bevor sie fester zupackte. Der Akkord, den sie anschlug, klang wie ein weinerliches Wimmern, als habe sie jemandem die Kehle zugedrückt, der sich verzweifelt unter dem Griff wand, sich aber nicht befreien konnte.
Toms erster Impuls war, ihr die Gitarre aus der Hand zu reißen. Doch er bezwang sich und schalt sich einen Dummkopf. Das Regenwetter hatte ihm das Hirn aufgeweicht.
Die folgenden Töne, die Sylvie erklingen ließ, waren wie die sanfte einschmeichelnde Stimme einer Frau, die ihren Liebhaber umgarnt. In seinem Kopf sah Tom spitze, rotlackierte Fingernägel über einen nackten Rücken gleiten. Er sah die Kreise und Linien, die die Finger dort zeichneten, bis sie mit einem Mal zu roten Striemen wurden, die entsetzlich brennen mussten. Das Instrument schien aufzustöhnen in seiner Not. In Sekundenschnelle war auch das wieder vorbei.
Tom versuchte, sich von seinen morbiden Gedanken zu befreien.
„Und, macht es dir Freude, darauf zu spielen?“ Irgendetwas musste er einfach sagen, um seine Wahnvorstellungen zu vertreiben.
„Ja, hauchte sie. Es macht mir einen Höllenspaß.“ Was sie damit meinte, überließ sie Toms Fantasie. Und die startete mit den folgenden Akkorden gerade zum nächsten Horrortrip durch.
Die Saiten quietschten und schrien auf – jetzt voller Aggressivität – wie bei einem heftigen Streit, bei dem die Fetzen flogen. Synkopisch erklang das Staccato der Schläge auf den Seiten und Sylvies Hand trommelte dazwischen einen harten Rhythmus auf dem Holzkorpus.
Die Bilder in Toms Kopf zeigten einen Mann, der eine Frau hart gegen die Wand stieß, ausholte und ihr einen waschechten Kinnhaken verpasste, bevor die Getroffene in sich zusammenfiel und langsam blutüberströmt an eben-dieser Wand herunterrutschte. Ein letztes Auf-bäumen erklang aus ihrem Mund, ein dissonanter Ton, der urplötzlich erstarb. Ihre Augen brachen. Die Frau war tot. In einer Zimmerecke entdeckte Tom ein kleines Mädchen, das sich hinter der Gardine verbarg. Erstarrt wie eine lebensecht wirkende Puppe.
Sylvies Finger wechselten jetzt zu schnellen Läufen auf dem Gitarrenhals. Einzelne Melodie-folgen, die nach einer Flucht klangen, zeichneten sein magisches Kopfkino: Eine Frau, die der Gitarristin entfernt ähnelte, lief durch dunkle Straßen, hinter sich einen Verfolger, der sie bald einholen würde. Die Melodie geriet ins Stolpern und schon stürzte sie auf einem einsamen Waldweg zu Boden. Der Verfolger war über ihr. Ihre Lippen formten sich zu einem Schrei, der jedoch nicht erklang. Im gleichen Atemzug drang die Stille in der verregneten Fußgängerzone in Toms Bewusstsein.
Und wieder wurden neue Tonfolgen hörbar; sie vertrieben die Todesstille des verstrichenen Augenblicks. Musikalische Spannung baute sich auf.
Tom sah blitzlichtartige Bilder eines Mannes, der durch ein verlassenes Gebäude irrte. Irgend-wie kam er Tom bekannt vor. Fahles Licht schien durch zerbrochene Scheiben ins Innere des Hauses. Der Wind zog die zerfetzten Gardinen durch die Löcher im Glas. Es war, als würde jemand dem Haus den letzten Rest Lebendigkeit aus-saugen. Der Mann trat durch mehrere Türen und erreichte eine alte, schäbige Küche. Auch hier war niemand zu sehen. Im Staub auf dem Fußboden waren nur ein Paar Fußabdrücke sichtbar, die in die Küche hineinführten.
Der Mann drehte sich um und folgte den eigenen Spuren hinaus. Mit einem grausamen Aufschrei erschien eine weibliche Hand aus dem Nichts. Der Mann bemerkte sie nicht und Tom wollte einen Warnruf ausstoßen, aber kein Laut drang über seine Lippen. Dann stieß die Hand mit dem Messer kraftvoll zu. Der Mann starb innerhalb weniger Sekunden. Das Messer hatte ihn von hinten durchbohrt.
Mit sphärischen Klängen begleitete Sylvie die Imagination der sich am Boden weit ausbreitenden Blutlache, die sich mit dem Staub vermischte. Dann erstarb der letzte Akkord. Unwiderruflich.
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Labels: Anja Ollmert, Erzählungen, Kurzgeschichten
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