"Hyänen im Nebel" von Jerry Black
Es ist ein lauer Sommerabend in der verschlafenen Küstenstadt Corinth, als über die vermeintliche Idylle urplötzlich das Grauen hereinbricht.
Ein mysteriöser Lieferwagen richtet in der Straße ohne Vorwarnung ein Blutbad an; Panik bricht aus, denn das Massaker war erst der Anfang.
Unerwartet finden sich die Überlebenden in einer surrealen Welt wieder, die von wilden Hyänen und einem alles umhüllenden Nebel heimgesucht wird.
Die Bewohner stehen vor einem Rätsel, nur Schriftsteller Samotta erkennt, dass eine höhere Macht hinter den Ereignissen steckt. Doch als umliegende Städte durch den Nebel bereits vollkommen bedeckt sind, bleibt nicht mehr viel Zeit, das Grauen aufzuhalten.
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Leseprobe:
»Sally?«
Ein Grummeln.
»Sally, bist du wach?«
Ein lautes Grummeln: Lass mich schlafen.
Klark. Seine Stimme riss sie aus dem Schlaf, obwohl er eigentlich mit seinen Kumpels aus der Nachbarschaft beim Pokern sein müsste. Sein Atem roch nach Bier und Zigarren. Die teuren spanischen, die Mr. Harper, der Musiker, stets großzügig verteilte. Mit einem Auge schielte sie zum Wecker, der Viertel nach elf anzeigte. Noch recht früh für einen Freitagabend. Ihre verklebten Lider wollten sich dem Befehl zum Öffnen nicht beugen. Keine Katastrophe dieser Welt würde rechtfertigen, dass sie auf das Drängen ihres Mannes reagiere. Warum auch? Immerhin hatte Klark zu fünfzig Prozent Entscheidungsbefugnis und er war der Mann im Haus. Er war doch stets so gut darin, komplexe Probleme mithilfe seines analytischen Denkens - Klark legte enorm Wert darauf, das dauernd zu betonen - in kürzester Zeit zu lösen. Warum also sollte sie seine Frage beantworten? Nein, es gab nichts, wofür sie sich hätte umdrehen müssen. Nichts, das wichtig genug gewesen wäre, ihre bequeme Position aufzugeben. Sie tat so, als hätte sie nichts mitbekommen, schmatzte kurz, um den trockenen Mund etwas anzufeuchten, und schlief weiter.
Klark Leopold überlegte kurz, ob er sie schütteln solle. Doch letztlich war es nicht so wichtig, also ließ er von ihr ab. Ihren Schlaf hatte sie sich nach einem anstrengenden Tag mit den Kindern wohlverdient. Und ›anstrengend‹ war bei Tim und Tom noch sehr liebevoll ausgedrückt. Seine beiden Rabauken konnten manchmal wütende Monster sein und ihre Mutter ohne Umschweife in den Wahnsinn treiben. Gerade jetzt, im Sommer, da im Garten das große aufblasbare Bassin aufgestellt war. Der Rasen hatte sich in eine riesige Schlammpfütze verwandelt und Sally konnte kaum in Ruhe eine Seite eines ihrer Schmöker lesen, ohne die Kinder wegen irgendwas ermahnen zu müssen. Wasserbomben und Spritzpistolen gehörten zum alltäglichen Arsenal der kleinen Soldaten, die es verstanden, ihr Terrain mit allen Mitteln zu verteidigen. Ganz zu schweigen von der Wäsche, deren Aufhängen Sally sich hätte sparen können, hätte sie gewusst, dass diese den Brüdern als Schutzwall diente, der sie vor den selbst gebauten Schlammgeschützen bewahrte, wenn sie sich damit bewarfen. Nicht zu vergessen das Geld, das täglich für Eis und Hotdogs draufging, wenn die Kinder loszogen, um bei Trevor Banks, der sein kleines Geschäft am Ende der Two Lights Road hatte, einzukaufen. ›Nein‹ zu sagen gehörte noch nie zu Sallys Stärken, was sich in diesen Tagen deutlich in ihrer Brieftasche bemerkbar machte. Ja, Sally hatte allerhand zu tun gehabt in letzter Zeit. Darum richtete Klark fürsorglich die Bettdecke, ließ seiner Frau ihren Frieden und legte sich auf seine Seite zurück.
Sie hat es nicht gehört, dachte Klark und konzentrierte sich, zwischen dem tosenden Lärm des Windes ein weiteres Poltern wahrzunehmen. Gespannt starrte er zur Decke, die von außen durch Scheinwerfer eines parkenden Autos erleuchtet wurde. Nichts. Nur der Wind pfiff durch die Dächer der Häuser. Die Schatten der Bäume tanzten im Scheinwerferlicht, Silhouetten huschten vorbei und hinterließen einen gespenstischen Eindruck. Ein großer Sturm zieht auf, dachte Klark, der immer noch hoffte, ein weiteres Rumpeln zu hören, um den Ursprung zu lokalisieren. War da vorhin überhaupt was? Oder war es doch nur der Wind? Was, wenn es ein Dachziegel war, der auf seinen Wagen geknallt war? Eine schreckliche Vorstellung. Gerade jetzt, da Sally auf der Suche nach einem neuen Job war und momentan nur er das Geld nach Hause brachte. Als Lehrer in der Cape Corinth Grundschule war er maximal ein Durchschnittsverdiener. Es reichte vorn und hinten nicht. Obendrein wuchsen die Zwillinge unaufhörlich und brauchten ständig neue Kleidung. Jetzt noch eine Reparatur? Das fehlte noch! Die vielen Versicherungen, die Raten für den Wagen, die Raten für das Haus. Im Moment wuchsen Klark die Kosten über den Kopf und das war, dachte er, bei 1,92 Meter Körpergröße schon beachtlich. Wenigstens seinen Sinn für Humor hatte er nicht verloren.
Leises Schnarchen und zufriedenes Schmatzen signalisierten Klark, dass seine Frau einen ruhigen Schlaf hatte, worum er sie maßlos beneidete. Er hingegen lag wach im Bett und kämpfte mit Schlaflosigkeit. Zu sehr rumorte es in seinen Armen und Beinen, als dass er Ruhe finden würde. Dieses Ziehen, dieses Brennen, dieser unaufhörliche Drang, sich bewegen zu müssen. Es wird Zeit, endlich mit Dr. Hopefield zu sprechen, dachte er. Sally drängte ihn schon seit Wochen. Er gehöre in Behandlung, solle endlich herausfinden lassen, was ihn wachhält, bevor er nach stundenlangem Starren vor Erschöpfung einschläft. Er wusste, dass sie recht hatte. Sie hatte immer recht. Wäre da nicht Klarks Faulheit, was Arztbesuche anging. Doch es war schlimmer geworden und mittlerweile litten sowohl seine Familie als auch sein Job darunter, dass er tagsüber vor Müdigkeit und Erschöpfung kaum noch zu gebrauchen war. Er würde gehen, nun endlich, sagte er sich, gleich Montagmorgen. Oder vielleicht Dienstag, dann könnte er Montag noch die geplanten restlichen Schülervorträge über den Bürgerkrieg abhandeln. Wobei dienstags die Lehrerkonferenz tagt, weshalb eine Untersuchung am Mittwoch vorzuziehen wäre. Allerdings war für Mittwoch eine Sportveranstaltung mit allen Klassen geplant, deshalb … In dem Moment merkte er, dass er schon wieder versuchte, den Gang zu Doc Hopefield aufzuschieben. Er ertappte sich dabei, unbewusst mit allen Mitteln vermeiden zu wollen, von dem alten, grauhaarigen Grobian in weißem Kittel auseinandergenommen zu werden. Um das zu erreichen, verdrängte er sogar unterbewusst die Tatsache, dass heute sein letzter Arbeitstag war, er die kommenden drei Wochen seinen Sommerurlaub genießen durfte und an Dinge wie Lehrerkonferenz oder Schülervorträge nicht zu denken war. Er grinste im Halbdunkel und stellte sich vor, mit Sally diese Unterhaltung geführt zu haben. Dann wurde sein Grinsen breiter, gefolgt von einem Gähnen. Oh, ein Gähnen, dachte Klark und freute sich, die Schreckgespenster Dachziegel und Wagenreparatur unbewusst beiseitegeschoben zu haben. Er streckte kurz Arme und Beine unter der Decke, so, dass seine Muskeln beinahe verkrampften - was bei seinen Beschwerden unheimlich gut tat. Er spürte, dass die Müdigkeit langsam über die Symptome zu siegen schien, und fühlte sich bereit, sich vom Schlaf überrumpeln zu lassen.
Ein letzter Blick auf den Wecker verriet, dass seit Sallys Grummeln bereits eine Stunde vergangen war. Wenn bloß dieses Scheinwerferlicht nicht wäre, dachte er. Über den nahenden Sturm hätte er hinweghören können, aber die Lichter des parkenden Wagens warfen ein grelles Licht an die Decke, was sich durch seine geschlossenen Augen bohrte. Er fragte sich kurz, welcher seiner Nachbarn wohl vergessen hatte, die Scheinwerfer auszuschalten, stellte aber im selben Moment fest, dass es ihn nicht interessierte.
Vom Trugschluss des Gähnens getäuscht, schossen Gedanken wie Blitze durch sein Gehirn: Die Kosten! War es ein Dachziegel? Die Kosten! Doc Hopefield und seine schwieligen Hände. War es ein Dachziegel? Die Kosten! Schluss jetzt, sagte er sich und öffnete die Augen. Gepiesackt von wirren Gedanken und gestört durch das Scheinwerferlicht gab Klark die Hoffnung auf, vielleicht diese Nacht ruhig schlafen zu können. Mittlerweile hatten sich die drei getrunkenen Flaschen Foster’s in seinem Blut verflüchtigt und schieden als Schlummertrunk aus. Er richtete sich auf und blickte zu Sally hinüber. Sie schlief nach wie vor tief und fest, die Glückliche. Der Wecker hatte für Klark die bittere Mitteilung parat, dass es bereits Viertel nach zwölf war und somit der Samstag begonnen hatte. In vier Stunden würden die Kinder mit einer Schüssel Cornflakes und einer Tasse Kakao vor dem Fernseher sitzen und eine weitere Folge Masters of the Universe ansehen, um diese irgendwann im Tagesverlauf im Garten nachzuspielen. Sie würden Helme aus Plastik tragen, abgebrochene Stöcke zu Schwertern machen und die Wasserpistolen in ihrer Fantasie zu Lasergeschossen werden lassen. Auf die Frage, warum sie ihre Jungen um diese unmenschliche Zeit fernsehen ließen, hatten Klark und Sally Leopold stets lächelnd dieselbe Antwort parat: So lassen die kleinen Teufel uns am Leben.
Seit den Sechzigern hatte sich einiges getan im Fernsehprogramm. Jetzt gab es Nickelodeon, dessen Trickserien samstags und Sonntags und manchmal auch in den Ferien zu unmenschlichen Zeiten begonnen und den Kindern zeigten, wie eine muskulöse Tunte in Hotpants einem lebenden Skelett den Garaus machte. Was für eine kranke Welt, dachte Klark und räusperte sich, weil er ein Lachen unterdrücken wollte. Er musste es unterdrücken, um nicht lauthals zu kreischen.
Mit einem Satz trat Klark die Bettdecke vorn über den Bettrand. Schnell, aber nicht so schnell, dass Sally davon wach würde. Er schnaubte und versuchte, die inneren und äußeren Umstände seiner Schlaflosigkeit gelassen zu sehen, dann stand er vorsichtig auf. So, dass sein Abdruck in der Matratze sich langsam hob und keine unnötigen Vibrationen verursachte. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und dehnte die Achillessehne soweit es ging. Für den Moment tat ihm das unheimlich gut, doch sowie er wieder eine normale Position einnahm, kehrten seine Beschwerden in den Waden zurück. Verdammt seid ihr, ich hack euch alle ab, fluchte er im Geist und wünschte sich, dass endlich Montag würde. Für einen endlich normalen Schlafrhythmus würde er sich mittlerweile auch von Hopefields alten, schwieligen Pfoten begrapschen lassen. Das Licht war hell genug, dass Klark sich im Zimmer zurechtfand. Die meisten Schritte tat er ohnehin intuitiv. Zwei nach vorn, drei nach links, dann über einen großen Berg frischer Unterhosen und Socken steigen. Nur manchmal sah er noch zu Boden, um nicht barfuß irgendwo dagegen zu stoßen. Dass Schmerzen im kleinen Zeh unerträglich sein konnten, wusste er aus Erfahrung. Seine Schritte sahen akrobatisch aus, beinahe wie bei einem stolzierenden Storch. Sie waren aber notwendig, weil das Aufräumen der Unterwäsche mit Arbeit verbunden gewesen wäre. Es war also bequemer, einfach drüberzusteigen. Irgendwann würde der Berg aus Unterwäsche so hoch sein, dass Sally sich darüber aufregen würde. Dann würde es Zeit, aufzuräumen. Vorher konnte Klark sich nur schwer dazu durchringen. Da er wegen seiner nervösen Blase wenigstens einmal pro Nacht die Toilette aufsuchen musste, war die Abfolge dieser paar Meter im Dunkeln kein Problem für ihn. Nur manchmal musste er sich beim Storchengang abstützen, nämlich dann, wenn er etwas zu viel getrunken hatte. Doch heute lag alles in einem gesunden Rahmen. Außerdem war er hellwach und nicht etwa wie sonst im Halbschlaf, was die Orientierung erschwert hätte.
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Labels: Horror, Jerry Black, Thriller
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