1. Oktober 2016

'Das Hexennest' von Gabriele Fröhler

Lemgo in Westfalen im Jahr 1665: Während der Regierungszeit des Bürgermeisters Hermann Grote und mit dessen massiver Unterstützung terrorisiert die letzte, aber blutigste Welle der Hexenverfolgung viele Bürgerinnen und Bürger der Stadt, die bald weit über ihre Grenzen hinaus als „Hexennest“ bekannt wird. Aberglauben, Habsucht, Missgunst und persönliche Abneigungen schüren ein Klima der Angst und des Misstrauens und schließlich die Flammen der Scheiterhaufen. Die Stimmen der Vernunft und des Mitgefühls erheben sich erfolglos gegen die Allianz aus Machtgier und Hass und eine brutale Kettenverfolgung wird in Gang gesetzt.

Gesche, die Tochter des Apothekers Jakobus Färber, Elisa, die Zofe der standesbewussten und eitlen Schlossherrin Mathilde sowie deren gemeinsame Freundin Regine, eine angehende Kräuterheilkundige, werden unaufhaltsam in den Strudel der Ereignisse hineingezogen. Im Kampf um ihr persönliches Glück und die Unversehrtheit der Menschen, die sie lieben, geraten die jungen Frauen zunehmend in Gefahr ...

Ein lebendiges und detailgetreues Sittengemälde des 17. Jahrhunderts in Westfalen, in dem außer der Hexenverfolgung u.a. die Kräutermedizin, das Scharfrichterwesen, die Lepra, die Küche der Zeit und höfische Feste auf unterhaltsame und spannende Weise thematisiert werden.

Die Autorin ist Historikerin mit besonderem Interesse für Regionalgeschichte.

Gleich lesen: Das Hexennest: Aus der Zeit der Verzweiflung

Leseprobe:
Die Stadt
Seit dem frühen Morgen waren zu Gesches Freude pudrige Flocken vom Himmel gefallen. Auf den Straßen, Gassen und Plätzen wuchs ein Teppich aus Schnee, der die Kinder zu allerlei Spielen aus den Häusern lockte und die vertrauten Geräusche des Marktes dämpfte. Gesche stand am Fenster ihres Zimmers im ersten Stock der Apotheke und ließ ihre Augen über das geschäftige Treiben wandern. Vor dem Dreißigjährigen Krieg, hatte ihr Jakobus erklärt, wäre die Anzahl der Stände von Krämern, Bauern und Handwerkern sehr viel größer und das Angebot an Waren aus fernen Ländern deutlich umfangreicher gewesen. Das aberwitzige Schlachten hatte Schneisen der Verwüstung durch die Länder geschlagen, viele Straßen unpassierbar und unsicher gemacht.
Beim Gedanken an den Krieg fröstelte Gesche und zog sich das warme Tuch unwillkürlich fester um die schmalen Schultern. Abwechselnd hatten die Schweden und die kaiserlichen Truppen die Stadt und ihre Bewohner heimgesucht. Die Soldaten schlugen ihre Quartiere in deren Häusern auf und bedienten sich freudig an dem, was sie fanden, ohne Rücksicht auf die Bewohner zu nehmen. Man fraß sich satt und soff, was die Schenken und Keller an Bier und Wein hergaben. Auf den Gassen wäre Tag und Nacht ein Juchzen, Singen und Fiedeln gewesen, hatte ihr Vater weiter erzählt.Viele Soldaten hatte der Krieg verroht und sie suchten ihr tägliches Vergnügen darin, die Bürger um des eigenen Vorteils Willen zu drangsalieren. Als Kind hatte er mit ansehen müssen, wie zwei entmenschte Gesellen seinen Nachbarn, den alten Henrich, auf den Boden geworfen, ihm ein Stück Holz zwischen die Zähne gerammt und ihm schließlich mit einem Melkkübel jauchiges Wasser in den Schlund geschüttet hatten, um ihm die Lage von versteckten Gütern zu entreißen. Bereits vollständig ausgeplündert, gab es nichts mehr zu verraten und so flossen Unmengen des stinkenden Nass in den Hals des alten Mannes, bis dessen Kopf blaurot gefärbt zur Seite fiel. Auch die Frauen... An dieser Stelle seines Berichtes hatte sich ihre Mutter Susanne warnend geräuspert und Jakobus war umgehend verstummt, aber indessen war Gesches Neugier erwacht. Ihr Vater hatte sich nicht lange bitten lassen, sondern er fuhr fort, nachdem er seinem Eheweib einen beruhigenden Blick zugesandt hatte.
Vom Rat verlangten die Kommandeure Geld, Brot und Rüstungen und verließen die Stadt an der Spitze ihrer Soldaten erst nach Wochen und Monaten des Plünderns und Brandschatzens.
Neben den regulären Truppen gab es versprengte Söldner, deren Raubzüge die Stadt sich zu erwehren hatte. Die Bürger wurden zum Dienst auf den Mauern verpflichtet und jene, die ihre Pflicht schlecht versahen, bekamen einen scharfen Verweis vom Rat, wenn es einem zuchtlosen Soldatenhaufen gelungen war, sich Einlass in die Stadt zu verschaffen, was unausweichlich zu den gefürchteten Folgen führte. „Nun aber“, Jakobus hatte erleichtert ausgeatmet, „ist der Krieg schon seit Jahren vorbei, wofür ich Gott täglich danke.“
Der melodische Klang der Glocken von Sankt Nicolai läutete das Ende des Marktes ein und riss Gesche aus ihren Gedanken. Die Wolken hatten sich indessen zu Gebirgen getürmt, die bleigrau und gefährlich tief über der Stadt hingen. Ein scharfer Wind trieb die immer dichter fallenden Flocken über den Markt und entlockte den Händlern saftige Flüche, während sie eilig ihre Waren in Kisten und Körben verstauten. Kaum war der letzte Karren vom Platz gerumpelt, erschien wie aus dem Nichts kommend, eine dunkel gekleidete Gestalt, die sich mit weit ausholenden Schritten in Richtung der Apotheke kämpfte.
Gesche kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um erkennen zu können, wen es in offensichtlich dringenden Angelegenheiten zur Eile trieb. Es war ein Mann, entschied sie, aber keiner, den sie gut kannte wie Dietrich, den alten Freund ihres Vaters oder den dicken Ulrich, der wöchentlich mit hochrotem Kopf und unter viel Schnaufen das Feuerholz lieferte. Sicherlich würde gleich ein energisches Klopfen an der Haustür ertönen, mit dem ein besorgter Ehemann oder Vater Einlass verlangte, wenn die Apotheke bereits geschlossen war, um eine Arznei für die fiebernde Frau oder den zahnenden Säugling zu erbitten. Schon häufig hatte Gesche von ihrem Lieblingsplatz in der breiten Fensternische aus die meist sorgenvollen Gesichter der Hilfesuchenden beobachten können und allein der Gedanke an die Künste ihres Vaters hielt das unweigerlich aufsteigende Mitgefühl in erträglichen Grenzen.
Nach einem prüfenden Blick über den menschenleeren Marktplatz stand der unbekannte Besucher, den schwarzen Hut tief ins Gesicht gedrückt, vor der schweren Holztür mit dem kunstvoll gefertigtem Griff. Ein Schmied aus der Nachbarstadt hatte ihn mit einem verlegenen Grinsen anstelle der fälligen Taler für eine seit langem offene Rechnung angeboten und der Apotheker hatte ohne Umschweife in die dargebotene Hand eingeschlagen.
Gesche hatte den Blick schon vom Fenster abgewandt, als eine unvermutete Bewegung des Mannes, die sie gerade noch aus den Augenwinkeln heraus registrierte, erneut ihre Aufmerksamkeit weckte. Statt, wie von ihr erwartet, weit auszuholen, um die geballte Faust gegen das Eichenholz donnern zu lassen, ging der seltsame Besucher in die Hocke und scharrte den Schnee mit hastigen Bewegungen zur Seite. Gespannt beobachtete das Mädchen, wie er immer noch kniend unter seinen Mantel griff, aus seinem Wams einen Umschlag zog, ihn unter den Türschlitz schob, sich im Drehen erhob und innerhalb eines Lidschlags in dem Vorhang aus tanzenden Flocken verschwand.
Wer war dieser Mensch? Ob wohl sein Kind oder die Frau krank war? Im Winter starben vor allem die Armen, die ihre Stube nicht warm und den Magen nie voll bekamen. Warum hatte er nicht angeklopft? Oder ging es nicht um eine Arznei?
Gedankenverloren starrte Gesche über den Platz und fand erst in die dämmrige Kühle ihres Zimmers zurück, als sie gewahr wurde, dass sie auf dem Ende ihres rechten Zopfes kaute, eine Unsitte aus Kindertagen, die abzulegen sie sich seit Jahren redlich bemühte. Verärgert spuckte sie eine Strähne buchenholzfarbenen Haares zur Seite und beschloss, dem seltsamen Vorgang auf den Grund zu gehen. Anschließend sollte sich in der Küche doch eine Leckerei finden, um den leise knurrenden Magen bis zum Abendessen ruhig zu stellen. Zog nicht gerade der Duft von frisch gekochtem Apfelkompott durch das Haus? Gesche lief das Wasser im Mund zusammen.
Das weiße Quadrat zog ihren Blick magisch an sich, als sie auf dem Weg in die Küche die dämmrige Diele durchquerte. Ohne Umschweife entfaltete sie den Bogen, der an Jakobus adressiert war und schob dabei jeden Gedanken an die unverzügliche Übergabe der Post an Vater oder Mutter zur Seite. Neugier, das wusste sie schon seit langem, war eine Eigenschaft, die das Leben auf vielerlei Weise versüßen konnte.
Gesche sah die Zeichnung eines Haus, das ihr wage bekannt vorkam, neben der eines kegelförmigen Gebildes, das eine deutlich lesbare Aufschrift trug.
BLOCKSBERG entzifferte das Mädchen entgeistert. Zwischen Haus und Berg schwebte ein Besen, auf dem eine ungeschickt gekritzelte Frauenfigur balancierte. Ein beschrifteter Pfeil gab ihr einen Namen: WITWE BENDER .
„Möchte ich hiermit kundtun, dass dies Weib eine Zauberische ist“, klagte die Überschrift des Bildes die Witwe zusätzlich an.
Gesche, die Tochter des Ratsherrn Färber, hatte lesen und schreiben gelernt. Auf den ausdrücklichen Befehl ihres Vaters hin war sie zwei Jahre gemeinsam mit den Brüdern Friedrich und Wilhelm von einem Hauslehrer unterrichtet worden. Nur der Respekt, den Jakobus in der Stadt besaß, hatte das Getuschel allmählich zum Verstummen gebracht. Ein gelehrtes Frauenzimmer war vielen braven Bürgern eine Sünde gegen die Natur der Frau, ein widerwärtiges, aufsässiges Geschöpf, das sich dem Ehegatten überlegen wähnte, den Haushalt und die Kinder nicht versorgen mochte und seine Zeit damit vertat, fromme Traktate und - schlimmer noch - Liebesgedichte lesend auf der faulen Haut zu liegen.
Auch Gesches Mutter hatte mit ihrer Abneigung gegen das Vorhaben nicht hinter dem Berg gehalten.

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