'Tod einer Millionärin' von Achim Zygar
In der Industriellen-Familie der Bernheims ist ein Kampf um zig Millionen Euro entbrannt. Alles dreht sich um die Erbschaft der kürzlich verstorbenen Firmenpatriarchin Clotilde Bernheim. Es ist ein blutiger Kampf. Als ein Mann erstochen auf einem Wanderweg im Teutoburger Wald gefunden wird, sieht es erst nach Raubmord aus. Doch die Spur führt zu den Bernheims und zu den beiden Brüdern Bernd und Kai. Der Tote ist ihr Halbbruder, der zur Beerdigung der verstorbenen Mutter aus den USA gekommen war. Mit ihm müssen sie die Erbschaft nun nicht mehr teilen.
Für Kriminalhauptkommissar Haverbeck ist die Ermittlungsarbeit mühsam, denn weitere Todesfälle kommen hinzu. Und dann ist da noch ein schlimmes Geheimnis, das er lüften muss. Dass sein neuer Chef zum Freundeskreis der Bernheims gehört, erschwert seine Arbeit zusätzlich.
Ein Buch aus der Reihe "Krimis aus Bielefeld: Haverbeck ermittelt"
Gleich lesen: Tod einer Millionärin: Haverbeck ermittelt (5. Fall)
Leseprobe:
Leise wie eine Katze schleicht die Gestalt die schmale Treppe hinauf. Stufe für Stufe geht es in den ersten Stock. Auf dem Flur bleibt sie kurz stehen. Ein Teppich auf den Marmorplatten soll die Gehgeräusche dämpfen. Aber wer in Socken durchs Haus schleicht, könnte darauf verzichten. Etliche Zimmer gehen von dem Flur ab. Sie nimmt ihr Ziel ins Visier. Langsam geht sie den Gang entlang und bleibt vor einer der mittleren Türen auf der linken Seite stehen. Es ist eine schwere Mahagonitür. Sie lauscht in die Stille. In der Ferne hört sie das Brummen von Lastkraftwagen. Schlechte Lage für ein so teures Haus, denkt sie und muss schmunzeln. Aber man hat mich ja damals nicht gefragt. Nein, nicht solche Gedanken jetzt.
Sie legt die Hand auf die Klinke. Ihr Puls rast. Mehrmals atmet sie tief ein und aus. Gott sei Dank, die Hand bleibt ruhig. Sie drückt die Klinke herunter und öffnet die Tür einen Spalt. Wieder muss sie schmunzeln. Nichts hat gequietscht oder geknarrt. Das sind die Vorteile einer fünfzehn Millionen Euro teuren Villa. In einem solchen Gebäude passt jede Schraube und jedes Scharnier. Pech für Clotilde Bernheim, die in diesem Zimmer schläft. Die Person schiebt die Tür soweit auf, dass sie eintreten kann. Sie überlegt einen Moment. Es ist besser, die Tür wieder zu schließen. Sie rechnet zwar nicht damit, dass es irgendwelche Geräusche geben wird, aber Sicherheit geht vor.
Die Gestalt geht in den hinteren Bereich des großen Zimmers, dort wo das Bett ist. Sie sieht auf die Uhr, die auf dem Nachttisch steht. Es ist halb drei. Clotilde liegt auf dem Rücken. Gegen die ersten Strahlen der in Kürze aufgehenden Sonne hat sie sich eine Schlafmaske aufgesetzt. Was wurde im Wetterbericht gestern Abend gesagt? Es soll wieder ein sonniger Tag werden, mit Höchsttemperaturen von über dreißig Grad. Du wirst keine Sonnenstrahlen mehr sehen und du wirst dich nicht mehr über diese Temperaturen aufregen. Du wirst dich über gar nichts und niemanden mehr aufregen können, geht es ihr durch den Kopf.
Die Person setzt den Rucksack ab und zieht ein rotes Kissen heraus. Sie steht neben Clotildes Bett in Höhe des Kopfes und sieht ihr ins Gesicht. Diese große Schlafmaske ist ein Segen. Sie schafft Distanz und erleichtert das, was gleich getan werden muss. Dann schließt die Gestalt für einen Moment die Augen und drückt der alten Frau mit beiden Händen das Kissen ins Gesicht.
Sofort versucht Clotilde ihren Kopf hin und her zu drehen, sucht nach einem Weg, sich aus der misslichen Lage zu befreien. Doch es bleibt bei Versuchen. Zu kräftig ist der Druck, der auf ihrem Gesicht lastet. Sie zerrt an dem Kissen, schlägt mit den Armen wild um sich, sie strampelt mit den Beinen. Doch alle Bewegungen sind unkoordiniert, es fehlt ein Ziel. Sie weiß in diesem Moment nicht, was eigentlich passiert. Sie weiß nur, dass sie nicht mehr atmen kann.
Zweiundsiebzig Jahre ist sie alt. Die Person ist erstaunt, welche Kräfte Clotildes Körper kurz vor dem Exitus entfaltet. Sie presst das Kissen mit gestreckten Armen auf ihr Gesicht und muss aufpassen, von den wild fuchtelnden Armen nicht getroffen zu werden. Doch irgendwann werden die Bewegungen schwächer, der Widerstand ist gebrochen. Der Organismus hat alle Sauerstoffvorräte verbraucht. Noch drückt sie das Kissen auf Clotildes Gesicht, wenn auch nicht mehr so fest. Dann hebt sie es vorsichtig hoch, so als befürchte sie, die Frau könne wieder atmen und diesmal schreien.
Sie legt das Kissen auf die Bettdecke und beobachtet das Gesicht. Nein, Clotilde Bernheim atmet nicht mehr. Erst jetzt spürt sie, wie sich die Muskulatur ihrer Arme verkrampft hat. Doch diese Schmerzen erträgt sie gerne. Sie ist stolz, diesem Leben ein Ende bereitet zu haben. Der Einsatz wird sich gelohnt haben, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn Clotilde Bernheims Tod wird der Geldnot vieler Menschen ein Ende setzen. Es ist eine gute Tat. Was ist schon der Tod dieser Frau gegen das Glück so Vieler?
Die Person setzt den Rucksack auf. Sie richtet die Schlafmaske, streicht das Haar der toten Frau glatt und zieht die Bettdecke gerade. Clotilde soll durchaus eine unruhige Nacht gehabt haben, was bei diesen Temperaturen niemanden verwundern wird. Aber ihr Bett soll nicht nach einem Kampfplatz aussehen, sie soll eines natürlichen Todes gestorben sein. Herzversagen wird später im Totenschein zu lesen sein.
Sie nimmt das Kissen, verlässt den Raum und geht den Flur zurück. Vor dem letzten Zimmer bleibt die Person für einige Sekunden stehen und überlegt. Dann öffnet sie behutsam die Tür und huscht hinein. Es dauert nicht lange, dann steht sie wieder auf dem Flur. Sie atmet tief ein und aus. Es ist vollbracht. Auf der schmalen Treppe schleicht sie, so leise wie sie gekommen ist, nach unten. Sie öffnet den Hinterausgang, zieht ihre Schuhe an und verlässt das Haus. Quer über den Rasen geht die Gestalt zurück in den Wald.
Fünf Tage später
» . . . Clotilde Bernheim war nicht nur eine erfolgreiche Unternehmergattin, sie war auch eine großzügige Spenderin. Ich möchte nur an den Bau des Freizeitzentrums erinnern oder an die jährlich über tausend Urlaubsreisen, die sie weniger begüterten Familien ermöglichte. Aber sie war auch eine treusorgende Mutter . . . «
In der Neustädter Marienkirche in der Bielefelder Altstadt ist kein Sitzplatz mehr frei. Weil man damit gerechnet hat, dass die halbe Stadt zur Trauerfeier erscheinen wird, wurden vor und neben der Kirche Lautsprecher aufgestellt. So ist es auch gekommen. Mehrere hundert Trauergäste stehen im Freien und hören gebannt der Ansprache des Pastors zu. Die Trauerrede hält Dr. Gerd Pflüger, der die Familie seit vielen Jahrzehnten kennt.
Doch neue Details aus dem Leben der Patriarchin erfahren die Zuhörer nicht. Pastor Pflüger hält sich streng an die offizielle Familiengeschichte, die jeder aus Zeitschriften, Broschüren und Büchern kennt. Clotilde Bernheim und ihr Mann Gustav haben selbst viel geschrieben. Sein Hauptwerk »Mein Leben als Unternehmer. Wie ich mit Schrauben meine erste Million erarbeitete« war sogar ein Bestseller. Nicht ganz so erfolgreich war das Buch seiner Frau: »Clotilde Bernheim. Erinnerungen einer Unternehmergattin«. Die Bücher waren wahlweise als Taschenbuch erhältlich oder als aufwändig gestaltete Sonderedition.
»Der spinnt ja . . . treusorgende Mutter . . . «, haucht jemand in der ersten Reihe, nur wenige Meter vom Sarg entfernt, seinem Nachbarn zu.
»Halt die Klappe«, kommt es ebenso leise aber bestimmt zurück.
»Trotz vieler familiärer und gesellschaftlicher Verpflichtungen kümmerte sich Clotilde Bernheim liebevoll um ihre beiden Söhne«, fährt der Pastor fort.
»Was für ein Blödsinn.«
»Bist du ruhig.«
»Ein schwerer Schicksalsschlag traf sie vor einem halben Jahr. Plötzlich und unverhofft starb ihr geliebter Gatte, Gustav Bernheim. Mit ihm war sie annähernd fünfzig Jahre verheiratet. Kennengelernt hatten sie sich in der Firma seines Vaters, der das Unternehmen nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut hatte. Kurz nach der Heirat kam Sohn Bernd zur Welt.«
Der Pastor hält kurz inne und sieht ihn an; Bernd Bernheim nickt ihm zu. Dr. Pflüger fährt fort.
»Es sollte acht lange Jahre dauern, bis der zweite Sohn, Kai, auf die Welt kam.«
Wieder macht er eine Pause und blickt zu Kai, der neben seinem Bruder sitzt. Kai nickt höflich, obwohl er gar nicht so richtig weiß, warum. Zur Sicherheit macht er das traurigste Gesicht, zu dem er fähig ist. Es fällt ihm wirklich schwer, denn mit seinen Gedanken ist er bei seiner neuen scharfen Freundin, aber nicht bei seiner toten Mutter. Für sie hat er nur Verachtung übrig.
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Labels: Achim Zygar, Krimi
1 Kommentare:
Sehr schöne Seite und sehr übersichtlich gestaltet. Heute muss man als Autor auf vielen Kanälen unterwegs sein. Ebook-sonar hilft einem dabei.
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