'Blickwinkel - Kurzgeschichten über den Tellerrand hinaus' von Florian Richter
Kindle | Tolino | Taschenbuch |
Leseprobe:
Verfolgt (aus dem Thema Spannungsbogen)
„LAUF!“
Dieser Gedanke schoss ihr durch den Kopf, als die Schritte immer näher kamen. Seit einer halben Stunde war sie sich bewusst, dass sie verfolgt wurde. Einige Male hatte sie sich während des Laufens umgedreht, war plötzlich abgebogen und von ihrer normalen Route abgewichen, tiefer hinein in den Wald. Immer war er da.
Ein paar Mal atmete sie auf, als sie die bedrohlichen Schritte nicht mehr vernahm, wurde langsamer, bis sie sie im gleichen Augenblick wieder hörte. Angst machte sich breit. Eine Angst, die tief aus ihrer Seele kam, nahm ihr fast den Atem, zwängte sie ein, so dass es ihr schwer fiel, gleichmäßig das hohe Tempo beizubehalten.
Wieder eine Abzweigung. Sie bog ohne zu überlegen nach links ab, um es danach direkt wieder zu bereuen. Der Weg war schmaler, matschiger, teils von großen, mit schlammigem Wasser gefüllten Pfützen übersät.
„Gib nicht auf! Du kommst hier heil raus!“
Sie versuchte, sich zu motivieren. Ein kurzer Blick zurück. PLATSCH!
Ihr Schuh versank in der Pfütze. Sie knickte weg. Ein Schmerz schoss in ihren Knöchel. Sie wollte stehen bleiben, doch im gleichen Moment hörte sie das saugend schmatzende Geräusch von Schuhen auf matschigem und rutschigem Boden in ihrem Nacken. Sie ignorierte die Schmerzen so gut es ging und lief weiter. Dunkle Gedanken schossen ihr in den Kopf. Überfall, Missbrauch, Vergewaltigung! Fast jeden Tag konnte man doch so etwas in der Zeitung lesen.
„Du wirst die nächste sein!“
Dieser Gedanke wurde von Schritt zu Schritt lauter. Sie beschleunigte ihren Lauf. Wie gut, dass sie fast täglich trainierte. Einfach wollte sie es ihrem Verfolger nicht machen. Doch die Angst lähmte sie. Sie spürte es bei jedem Atemzug.
SEITENSTECHEN!
Sie wusste, dass es so kommen musste. Dieses ungleichmäßige Atmen führte zwangsläufig dazu. Sie zwang sich, etwas langsamer zu laufen und versuchte, ihre Atmung wieder zu kontrollieren. Sie riskierte einen Blick über die Schultern. Da war er. Sie hatte es geschafft, den Abstand zwischen ihm und sich zu vergrößern. Aber er folgte ihr immer noch. Dieser Mann, der ihr nun schon seit 45 Minuten hinterherlief. Er war dunkel gekleidet. Dunkelgraue, kurze Hose, in der muskulöse Beine steckten, schwarze Laufschuhe, schwarzer Kapuzenpulli mit der Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Das Seitenstechen ließ nach. Sie beschleunigte ihre Schritte. Wieder eine Kreuzung. Kurz nahm sie sich Zeit. Licht! Ein breiter Waldweg führte in ca. einem Kilometer aus dem Wald. Sie beschleunigte ihre Schritte. Ihr trainierter Körper protestierte kurz, doch den Endspurt würde sie jetzt schaffen.
"Du schaffst es!"
Nach 200 Metern schaute sie noch einmal zurück. Er war näher gekommen. Ca. 150m von ihr entfernt lief er in seinem immer noch lockeren und leicht federnden Laufstil. Trotz ihres lädierten Knöchels und ihrer schmerzenden Lungen beschleunigte sie weiter. Sie würde es schaffen. Sie lauschte nach hinten. Kamen die Schritte näher? Sie riskierte noch einen Blick. Er kam näher …
Tagtraum (aus dem Thema Träume und Gedanken)
Früh morgens habe ich das kleine Ferienhaus hier in einem schmalen Tal in Ostisland verlassen. Die grau-weißen Wolken hängen bedrohlich tief über den zerklüfteten Bergen, dichter Nebel zwischen den schroffen Felsen. Ich schlage die Kapuze über den Kopf und binde die Wanderschuhe noch einmal fester zu. Leise höre ich das Meeresrauschen im Hintergrund. Ich atme noch einmal tief die feuchte, frische und salzige Morgenluft ein, orientiere mich kurz und setze mich in Bewegung.
Eine Zeit lang bleibe ich auf einer dieser für Island so typischen Schotterstraßen. Jetzt im Spätsommer ist sie ausgewaschen und mit Querrillen übersät. Nach einer Viertelstunde folge ich einem schmalen Pfad hinfort von der Straße. Wohin wird er mich wohl führen? Eins steht fest, weiter weg von der Zivilisation. Es geht bergauf. Langsam folge ich dem Weg tiefer in die Berge hinein. Eine schmale Schlucht taucht vor mir auf. An den Hängen liegen Schutthalden. Es sind Zeichen Millionen Jahre währender Erosion, hervorgerufen durch Wind, Wasser und eisige Kälte.
Das leise Meeresrauschen hat einem Plätschern Platz gemacht. Ein kleiner Wildbach sucht sich hier gurgelnd seinen Weg durch die Schlucht. An seinem flachen Ufer entlang wandere ich tiefer hinein in dieses chaotische Labyrinth aus Steinen und Erde. Weiter weg von der Zivilisation, weg von den Sorgen. Ich fühle mich frei. Da ist kein Mensch, dem ich Rechenschaft ablegen muss.
Über mir reißt langsam der Himmel auf. Die ersten zaghaften Sonnenstrahlen kämpfen sich durch das dunkle Grau, das hier und da nun erste helle Lücken aufweist. Nur hier in der Schlucht bleibt es dunkel, nass und kalt. Wo andere Menschen sich unwohl, sich von der Enge der Felsen erdrückt fühlen, fühle ich mich wohl. Wohlbehütet von tausenden Tonnen Jahrmillionen altem Gestein.
Plötzlich öffnet sich die Schlucht, gibt den Blick auf einen kleinen Kessel frei. Rundum von hohen Felsmauern umschlossen, fällt hier das eiskalte Wasser in Abermillionen schimmernden Tropfen gut zehn Meter in die Tiefe in ein kleines Becken, in dem sich das aufgewühlte Nass erst beruhigt, um dann seinen letzten Weg über ein steiniges Bachbett in den nahen Atlantik anzutreten. Tief atme ich ein. Genieße die Ruhe und Stille.
So atme ich noch ein paar Mal mit geschlossenen Augen tief durch, um mich dann wieder im Alltag des Büros zurückzufinden. Meine Seele lächelt.
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Für Tolino: Buch bei Thalia
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Labels: Erzählungen, Florian Richter, Kurzgeschichten, Lyrik
1 Kommentare:
Fesselnd, berührend, nachdenklich!
Bereits der Titel der Anthologie „Blickwinkel: Kurzgeschichten über den Tellerrand hinaus“ verführt zum Nachdenken und erweckt den unwiderstehlichen Reiz, die perspektivische Reise anzutreten, die hier vorab angedeutet wird. Das 152-seitige Debüt von Florian Richter gliedert sich in die vier Teile „Träume und Gedanken“, „Nachgedacht“, „Schmunzelei“ und „Spannungsbogen“. Diesen sind thematisch 19 Kurzgeschichten und acht Gedichte zugeordnet.
Die Protagonisten, in deren Perspektiven wir schlüpfen, sind Individuen, die am Rand stehen: am Rand der Gesellschaft, am Rand der Existenz, am Rand des Möglichen. Oft stehen sie im Kampf gegen die Natur: im Kampf gegen die sengende Wüste, gegen die eruptive Erde, gegen einen gewaltigen, unbezwingbaren Grizzly oder eine scheinbar harmlose Fruchtfliege voller hämischer Schadenfreude. Die Helden fordern die Naturgewalten teils bis an die äußersten Grenzen heraus, um am Ende vor ihnen kapitulieren zu müssen. Andere Protagonisten wiederum repräsentieren den gesellschaftlichen Außenseiter oder Störenfried, den gehetzten, resignierten oder gar kriminalisierten Menschen in der modernen, urbanen Welt, der sich nach dem absoluten Nervenkitzel oder im Gegensatz dazu nach „Oasen der Zeit“ sehnt, wo er sich selbst und andere noch fühlen kann und inneren sowie äußeren Frieden findet.
Manche Geschichten vermochten mich emotional so tief zu berühren, dass ich bis heute, noch Wochen nach der Lektüre, nicht aufgehört habe, über sie nachzudenken. Als meisterhaftes Beispiel hierfür sei die Kurzgeschichte „Worte“ genannt, in der wir eingeladen werden, uns in einen Obdachlosen hineinzuversetzen. Sie beleuchtet auf sehr eindringlich bewegende Weise eine menschliche Seite, die wir oft vergessen, wenn wir über dieses Thema sprechen. Andere Texte wiederum sind so spannend, dass ich nicht umhin konnte, sie in einem Zug zu Ende zu lesen. Die Kurzgeschichte „Ein Weg zurück“ z. B., in der ein Verirrter in der Wüste um sein Überleben kämpft, hat mich ganz und gar in ihren Bann gezogen und sie lässt mich bis heute nicht los.
Die acht Gedichte fungieren als gedankliche Brücken zwischen den Geschichten, können aber auch für sich alleine verstanden und gelesen werden. Sie setzen sich in sehr unvoreingenommener Art und Weise mit menschlichen Urgefühlen wie „Sehnsucht“, „Liebe“ oder „Freiheit“ auseinander und bleiben dabei doch allgemein leicht verständlich, was für Lyrik ja nicht selbstverständlich ist. Als Liebhaber eher abstrakter und subtiler Lyrik betrachte ich dies zugleich jedoch als kleinen Makel. Auch erscheinen mir die Reime teilweise etwas zu sehr gesucht und dem profunden Inhalt als auch dem Klangbild eher abträglich zu sein. Am besten gefallen hat mir das Gedicht „Die Zeit“, in dem die Namensgeberin als gefühltes Naturphänomen thematisiert wird, das dem Menschen allzu oft zuwiderläuft, indem sie sich unvorteilhaft dehnt oder zusammenzieht.
„Blickwinkel: Kurzgeschichten über den Tellerrand hinaus“ ist ein großartiges Buch, das sowohl Kritik übt an unserer Gesellschaft und zu einem tieferen Nachdenken darüber anregt, als auch durch seine spannende Erzählart fesselt. Ich möchte diese Anthologie vor allem jenen Lesern ans Herz legen, die nicht nach seichter Unterhaltung suchen, sondern bereit sind, die Blickrichtung zu ändern, zu vertiefen und mit den unterschiedlichsten Charakteren auf eine authentische Reise zu gehen, um letztlich nicht nur diese besser zu verstehen, sondern vielleicht auch sich selbst.
Ein großartiges Buch, das sowohl zu tieferem Nachdenken anregt, als auch durch seine spannende Erzählart fesselt.
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