14. Mai 2021

'Nicht ohne meine Schatulle' von Barbara Schwarzl

Kindle | Tolino | Taschenbuch
Website Barbara Schwarzl
Missbraucht, misshandelt und verschenkt.

Dieses schreckliche Geheimnis bewahrt Emma bis zu ihrem 77. Sommer wie einen Schatz. Dass der Mistkerl von Stiefvater mit seinen 94 Jahren noch immer nicht in der Hölle schmort, wohin er längst gehörte, ändert alles. St. Ägyd, ihr einstiger Ort des Grauens, streckt wie eine Krake seine Fänge nach ihr aus. Immer öfter taucht Emma in die Abgründe ihrer Seele hinab, dem Ruf der Geister der Vergangenheit folgend. Jetzt kann sie ihre Traumatisierung nicht mehr weglächeln oder darüber hinwegtäuschen.

Dann taucht auch noch ihr Bruder Fritz aus der Versenkung auf. Der Wunsch nach Rache eint sie. „Wer mir wehtut, dem tu ich erst so richtig weh!“, hatte sie sich als Mädchen geschworen. Zeit, dieses Versprechen endlich einzulösen.

Anleser:
Plötzlich rasten in Sekundenschnelle Schwarzweißbilder der immer und immer wieder sorgfältig verdrängten Kindheit vor ihrem inneren Auge vorbei. Eine Miniszene jagte in atemberaubendem Tempo die nächste – wie auf einer Hochschaubahn: Sie spürte den Gürtel. Der linke Arm schmerzte, weil Hartmut sie daran über den Hof zerrte. Die Mutter schlug sie und schrie dabei. Bei der Erinnerung an ihre Stimme hatte sie Frieda vor Augen und fügte die wenigen belauschten Worte wie Puzzleteile zusammen, sodass sie einen Sinn ergaben. Ihr verhasster Stiefvater lebte noch immer. Das Wort Vater hatte sie für ihn selten über die Lippen gebracht, weil er es nicht verdient hatte, so genannt zu werden. Sie rechnete im Geiste nach, wie alt Hartmut inzwischen sein musste. Gewiss weit über neunzig. Und dieser Mistkerl lebte noch immer. Gute Menschen wie Theo oder vielleicht bald Poldi starben zu früh. Es gab keine Gerechtigkeit. Aber das wusste Emma längst.
Sie lehnte an einer Fensterbank und spürte ihren ungestümen Herzschlag bis zum Hals. Sie öffnete den obersten Knopf ihrer Bluse und rang unauffällig nach Luft. „Bitte, lieber Gott, lass mich nicht kollabieren!“, flehte sie in Gedanken, obwohl ihr Verhältnis zu Gott seit Jahrzehnten angespannt war. Sie wusste nicht, wen sie sonst um Hilfe hätte bitten sollen.
Um ein Haar hätte Emma die junge Krankenschwester mit den leuchtend roten, kurzen Haaren übersehen, die an ihr vorbeieilte. Emma fragte stammelnd nach einer Vase. Sie folgte dem Rotschopf wie eine Betrunkene. Sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit sie Poldis Zimmer verlassen hatte. Fünf Minuten? Oder zehn? Oder gar mehr? Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Wenige Minuten, die ihre sorgfältig aufgebaute innere Balance ins Wanken gebracht hatten. Gleichzeitig kehrten Furcht, Hass und der innige Wunsch nach Vergeltung zurück.

Blick ins Buch (Leseprobe)

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