3. Dezember 2013

'Kalter Zwilling' von Catherine Shepherd

Der dritte Zons-Krimi von Catherine Shepherd, der Vergangenheit und Gegenwart zu einer packenden Geschichte verschmelzen lässt.
Zons 1496: Ein schrecklicher Fluch beendet Elisas junges Leben, noch bevor sie ihre neugeborenen Zwillingssöhne in den Armen halten kann. Bastian Mühlenberg von der Zonser Stadtwache ahnt zunächst nichts vom düsteren Familiengeheimnis, das auf den Brüdern lastet. Als der Schmied mit gefälschten Goldgulden zerstückelt vor der Stadtmauer gefunden und das friedliche Städtchen von einer neuen Mordserie erschüttert wird, nimmt Bastian Mühlenberg die Spur des Mörders auf. Stück für Stück wird er in eine unheilvolle Verschwörung hineingezogen, die das Leben seiner Familie bedroht …

Gegenwart: Der grausame Mord an einer Prostituierten führt Kommissar Oliver Bergmann zu seinem dritten großen Fall nach Zons. Offensichtlich ist der Mörder ein kaltblütiger Psychopath, der ein perverses Machtspiel mit seinen Opfern treibt. Währenddessen schreibt Journalismus-Studentin Emily mit Hilfe von Professor Morgenstern, dem Leiter einer psychiatrischen Klinik vor den Toren von Zons, eine Reportage über die menschlichen Abgründe psychopathischer Persönlichkeiten. Als ein Universitätsprofessor aus Köln, keine dreißig Kilometer von Zons entfernt, auf martialische Weise ermordet wird, meint Oliver Bergmann ein Muster aus der Vergangenheit zu erkennen. Ein über fünfhundert Jahre alter Fluch scheint zu neuem Leben erwacht ...

Gleich lesen: Kalter Zwilling: Thriller

Leseprobe:
Er hatte wieder diesen Traum. Er träumte ihn seit nunmehr über zwanzig Jahren. Seit jenem Tag, an dem er zum ersten Mal in einen grünen Kittel gekleidet in seinem Labor gestanden und die Temperatur am Brüter überprüft hatte, so wie er es auch heute wieder tat. Sie nannten das Gerät Brüter, weil es immer dieselbe Temperatur von 37 Grad anzeigen musste. Es war wichtig, dass die Wärme immer gleichmäßig blieb. Auch die Luftfeuchtigkeit wies konstant 100 Prozent aus. Würde ein kalter Luftzug die Temperatur nur um ein Grad senken, auch nur für ein paar Minuten, würden die Eier nicht überleben. Einmal war es ihm passiert. Er hatte die Klappe nicht richtig verschlossen und es zu spät bemerkt. Die Eier hatten eine hässliche braune Verfärbung angenommen und ließen sich trotz aller Versuche nicht mehr befruchten.
Er ging hinüber zu dem Labortisch, auf dem ein weißes Mikroskop stand. Es war sein Lieblingsgerät, ein Mikroskop mit automatischer Helligkeitsregelung und einem elektronisch gesteuerten Annäherungssensor, der anhand der Pupillenstellung seiner Augen die vollautomatische Steuerung der Mikroskopfunktionen übernahm. Vorsichtig nahm er eine Glasschale in die Hand und klemmte sie auf dem Halter ein. Dann rückte er seine Brille zurecht. Eine Geste, die er bis heute beibehalten hatte, obwohl sie eigentlich völlig unnötig war, denn sein neuestes Mikroskop war so modern, dass es kein Okular mehr hatte und die Bilder mithilfe einer hochauflösenden Digitalkamera direkt auf seinen Bildschirm übertrug. Doch noch war er gefangen in seinem Traum. Unruhig wälzte er sich im Bett umher, während sein zwanzig Jahre jüngeres Ich durch das Okular seines alten Lieblingsmikroskops starrte.
Der Anblick brachte sein Blut zum Rauschen. Fantastisch! Tausende kleine Lümmel tummelten sich in der Petrischale. Die Spermien waren gereinigt und bereit für den Endspurt. Dies war seine Lieblingsphase. Gleich würde er sie mit den Eizellen zusammenbringen und dann für 24 Stunden in den Brutschrank stellen. Schon morgen würde er wissen, wie viele der Eizellen befruchtet worden waren. Unter dem Mikroskop konnte er erkennen, ob die Spermien in die Eizelle eingedrungen waren und ob sich zwei Vorkerne gebildet hatten. Dann würde er noch weitere 24 Stunden abwarten müssen, bis winzige Embryos heranreiften. Kleine Zellhaufen - im Vier- bis Acht-Zell-Stadium, welche der Arzt mit Hilfe einer langen Pipette in die Gebärmutter der Patientin einpflanzte.
Er, Hans-Peter Mundscheit, war der Erzeuger dieser Embryos. Nicht der biologische Vater. Nein, natürlich nicht. Aber er verhalf all jenen Paaren zum Kindersegen, bei denen es auf herkömmlichem Wege nicht funktionierte. Seinen Fähigkeiten als leitender Biologe des IVF-Labors an der Universität zu Köln war es zu verdanken, dass Hunderte von Kindern im Jahr das Licht der Welt erblickten, die es eigentlich nie gegeben hätte. Er erschuf Leben.
Ein Geräusch riss ihn aus seinen Gedanken. Im Nebenzimmer hatte eine Patientin auf dem Stuhl Platz genommen. Ihre nackten Beine waren weit gespreizt und ein greller Neonstrahl leuchtete in ihr Innerstes hinein. Durch das kleine Fenster in der Labortür konnte er deutlich die rosa Färbung ihrer Schamlippen erkennen. Mit glänzendem Edelstahl untersuchte der Arzt ihre Geschlechtsorgane. Die Frau hielt die Augen geschlossen, trotzdem war sie nicht entspannt. Mundscheit konnte ihr die Nervosität regelrecht ansehen. Ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich aufeinandergepresst, die Hände hielt sie ineinander verkrampft über ihrem Bauch.
»Es sieht alles sehr gut aus«, sagte der Arzt mit ruhiger Stimme und legte das Instrument aus der Hand. Dann schaltete er einen kleinen Monitor an und griff nach dem Stab-Ultraschallkopf. Er streifte ein Kondom darüber und spritzte durchsichtiges Gleitgel darauf. Dann führte er das Gerät in die Vagina der Patientin ein, ohne dabei die Augen vom Monitor abzuwenden. Ein kurzer Ruck ging durch ihren Körper, als das kalte Gel ihre Schamlippen berührte, doch sie hielt ihre Augen weiter geschlossen.
»Die Schleimhaut ist hoch genug aufgebaut. Wir können den Transfer morgen durchführen.«
Zufrieden zog der Arzt die Vaginalsonde heraus und warf das Kondom in einen Abfalleimer.
»Sie können sich wieder anziehen«, mit diesen Worten drückte er ihr ein Papiertuch in die Hand und ging zu seinem Schreibtisch hinüber. Die junge Frau wischte sich das Gel von ihren Schamlippen und verschwand hinter einem schäbigen blauen Vorhang.
»Wie viele Embryos sollen wir transferieren? Wir haben fünf befruchtete Eizellen, und drei davon haben sich hervorragend weiterentwickelt.«
Der Arzt sah die junge Frau fragend an, die jetzt - immer noch an ihrer Bluse nestelnd - auf dem Patientenstuhl direkt vor seinem Schreibtisch saß. Sie war ohne Zweifel attraktiv. Ihre grünen Augen waren von langen dunklen Wimpern umrandet, und ihr langes brünettes Haar lockte sich über ihren Schultern.
»Ich möchte nur einen Embryo zurückhaben«, antwortete sie, ohne zu zögern.
Der Arzt runzelte die Stirn. »Sie wissen doch, dass die Chance auf eine Schwangerschaft am größten ist, wenn Sie sich mindestens zwei Embryos transferieren lassen?«
»Ja, das weiß ich. Aber ich habe mich entschieden. Suchen Sie einen aus und vernichten Sie den Rest.« Mit diesen Worten deutete die junge Frau ein nervöses Lächeln an und erhob sich.
»Ja, aber ...«
»Professor Neuhaus«, unterbrach sie ihn diesmal forsch, »ich sagte doch, ich habe mich entschieden.« Wieder schüchtern fügte sie hinzu: »Bitte belassen wir es dabei.«
Sie reichte ihm die Hand zum Abschied und wandte sich dem Ausgang zu. Beim Hinausgehen blickte sie für einen kurzen Moment nach links und starrte durch den Fensterschlitz der leicht geöffneten Labortür. Hans-Peter Mundscheit zuckte heftig zurück. Sie hatte ihm direkt in die Augen gesehen! Nein, das konnte nicht sein, versuchte er sich zu beruhigen. Das Glas war von der anderen Seite verspiegelt. Sie konnte nicht hindurchblicken. Doch ihre Augen verfolgten ihn. Schweißgebadet wachte Mundscheit auf. Wie jedes Mal, wenn er diesen Traum hatte.

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