8. Januar 2014

'Ehre sei dem Vater' von Elisa May

Krimispannung in einem heiteren bis nachdenklichen Roman über zwischenmenschliche Beziehungen. Franz Seidl kommt nicht darüber hinweg, dass ihm nach einem Unfall ein Bein abgenommen werden musste. Doch das ist nicht der einzige Grund, warum der mürrische Alte seiner Familie das Leben zur Hölle macht.

Als er eines Tages spurlos verschwindet, macht sich ausgerechnet sein ungeliebter Sohn Julian, gemeinsam mit zwei Freundinnen, auf die Suche nach ihm. Während sich die persönlichen Schicksale der drei Freunde zuspitzen, kommen sie einem lang gehüteten Geheimnis auf die Spur.

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Leseprobe:
Die nächtlichen Saufgelage der Besatzer hatten sich längst überall herumgesprochen. Niemand im Dorf hätte gewagt, abends die Haustüren zu verschließen, viel zu groß war die Angst, dass die Russen aus Zorn über verriegelte Türen ganze Häuser in Brand steckten. „Hoffentlich haben sie es diesmal nur auf Lebensmittel und Wertgegenstände abgesehen, sonst sollen sie mir lieber gleich das Leben nehmen.“ Diese Worte hallten in den Ohren des kleinen Jungen nach, als er auf seinem Strohsack im hintersten Winkel des kalten Zimmers kauerte und erfolglos versuchte, die düstere Stimmung des Tages zu verdrängen. Er hatte seine Mutter im Gespräch mit der Nachbarin belauscht und konnte sich nicht erklären, was noch schrecklicher sein könnte als der Verlust des Lebens. Von Weitem hörte er den spitzen Schrei einer Frau. Seine klammen Finger krallten sich in den rauen, unnachgiebigen Stoff, bis seine Mutter endlich ins Zimmer schlich und ihn still in die Arme nahm. Er konnte ihren heftigen Herzschlag spüren, und der Rosenkranz, den sie um ihre Hände gewickelt hatte, bohrte sich schmerzvoll in seine zarte Haut. „Gott behütet uns!“, murmelte sie leise in sein Ohr. „Niemand kann uns etwas anhaben.“
„Warum ist Vater denn nicht da, um uns vor diesen Männern zu beschützen?“, jammerte der Junge, obwohl er diese Frage schon oft genug gestellt hatte und die Antwort darauf nur zu gut kannte. Ehe seine Mutter antworten konnte, ließ sie ein dumpfes Geräusch zusammenzucken.
Die massive Eingangstür knarrte, als sich schwere Stiefel den Weg ins Innere des alten Bauernhauses bahnten. Die Mutter presste dem Jungen die Hand auf den Mund. „Pssst, keinen Laut, ganz egal was passiert, ich bin gleich wieder bei dir!“, flüsterte sie heiser, während sie beinahe lautlos den Raum verließ.
Er rührte sich nicht vom Fleck und hielt sich die Ohren zu, um die verhaltenen Aufschreie seiner Mutter nicht mehr zu hören. „Vater, Vater, Hilfe!“ stöhnte er, während er sich, mit den Beinen wild um sich schlagend, von einer Seite auf die andere wälzte.
Als Franz Seidl die Augen öffnete, saß seine Frau aufrecht neben ihm im Bett und strich mit den Fingerspitzen sanft die ergrauten Haare aus seinem schweißnassen Gesicht.
Schwer atmend setzte er sich auf. „Ist ja gut mein Schatz, du hast nur wieder geträumt!“, versuchte sie ihn zu trösten, doch es dauerte noch ein paar Minuten, bis Franz wieder vollends zu sich gekommen war. „Nur wieder so ein Traum ….“, stieß er erleichtert und zugleich verlegen aus. Solche Bloßstellungen seiner Verletzlichkeit beschämten ihn zutiefst. Seit seiner Kindheit wiederholten sich diese unheilvollen Träume immer wieder und in letzter Zeit immer häufiger. Man sollte meinen, dass die Erinnerungen mit den Jahren an Gewicht verlieren, doch ihn schienen sie mit der Zeit immer mehr zu erdrücken.
Das gedämpfte Licht der Nachttischlampe erhellte nur die dem Licht zugewandte Hälfte seines hageren Gesichtes. Die spärliche Beleuchtung vermochte nicht über den ängstlichen Ausdruck seiner Züge hinwegzutäuschen. Seine tagsüber zu einem exakten Seitenscheitel frisierten Haare klebten wirr an seiner Stirn. Franz fühlte sich unwohl unter Annas wachsamen Augen und er drehte sich zur Seite. Doch sie hatte den Blick bereits wieder von ihm abgewandt. Flink wie ein junges Mädchen drehte sie sich zur Seite, um gleich darauf mit beiden Beinen auf dem knarrenden Holzboden des Schlafzimmers zu stehen. „Ich mach dir einen Pfefferminztee mit Milch und Honig. Das tut dir ganz bestimmt gut!“, sagte sie aufmunternd und verschwand im selben Moment in ihrem geblümten Rüschennachthemd und den warmen Fellpantoffeln durch die Zimmertüre, ohne einen möglichen Widerspruch von ihm abzuwarten. Der Hund, der vor der Türe gelegen hatte, nutzte die Gelegenheit und schlüpfte durch den schmalen Türspalt, um sich wie selbstverständlich ans Bett seines Herrchens zu legen. Franz beugte sich ungeschickt seitlich aus dem Bett und streichelte dem treuen Tier liebevoll über das weiche Fell. „Willst mich wohl vor bösen Träumen beschützen, was Ronny? Dagegen werden wir wohl beide nicht ankommen!“

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