7. Juli 2014

"Frau Berger wird unsichtbar" von Kerstin Michelsen

Eine zufällige Begegnung führt Frau Berger und David zusammen. Unwahrscheinlich eigentlich, dass die hochbetagte Dame und der Student sich etwas zu sagen hätten, und doch brauchen sie einander auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt. Ganz nebenbei deckt David ein altes Familiengeheimnis auf …

Der Rückblick auf Frau Bergers langes Leben stellt sich wie ein Mosaik dar, an dem viele Menschen mitgewirkt haben. Die Teile passen nicht exakt zueinander und dennoch ergeben sie ein unverwechselbares Muster. Je nach dem Standpunkt des Betrachters ergibt sich ein anderes Bild, und so ist auch dieser Roman aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt.

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Leseprobe:
Kann ich Ihnen helfen, fragte ich, und so lernte ich Frau Berger aus dem zweiten Stock kennen.
Die alte Dame stand allein im Treppenhaus. Sie trug einen Rock und einen etwas unförmigen Pullover, darüber ein gemustertes Seidentuch, das auf einer Seite über die Schulter gerutscht war. Die Handtasche baumelte vor ihrem Bauch wie bei einem Kindergartenkind die Frühstücksdose. Was mich jedoch am meisten berührte, mit einer Mischung aus Mitgefühl und Widerwillen, das waren ihre Pantoffeln, ausgetreten und schief.
Im Gesicht war die Frau ganz grau, oder vielleicht nicht grau, aber seltsam farblos, wie abgewischt. Später fiel mir auf, dass sie eigentlich immer so aussah, und ich brauchte eine Weile, bis ich begriff, woran das lag: Sie war nicht nur sehr alt, sie schminkte sich nicht mehr und sah darum immer gleich aus.
Wir waren uns an diesem Morgen bereits einmal begegnet, und zwar in umgekehrter Richtung, das fiel mir in diesem Augenblick ein. Es mochte vielleicht eineinhalb Stunden früher gewesen sein, als ich nach oben gewollt hatte und sie nach unten. Da war sie mir, nun ja, irgendwie normaler vorgekommen, aber vielleicht hatte ich auch nur nicht so genau hingesehen? Ich grüßte die anderen, zumeist älteren Hausbewohner, wenn ich sie im Hausflur traf – wie sich das eben gehörte, mehr aber auch nicht. Mein Interesse hielt sich in Grenzen.
Doch nun konnte ich an der alten Dame nicht einfach so vorübergehen, ohne wenigstens höflichkeitshalber meine Hilfe anzubieten. Es war etwas in der Art, wie sie so reglos dastand, das mich anhalten ließ, obwohl ich es doch an sich eilig hatte. Ich war auf dem Weg zu einem Treffen mit zwei Kommilitonen und schon spät dran. Sonntags sahen wir uns oft Videos an, manchmal den ganzen Tag. Das hatte sich so ergeben, nachdem wir festgestellt hatten, dass Kolja und Sven meine Leidenschaft für Kinofilme teilten.
An diesem Tag durchkreuzte die Begegnung mit der alten Nachbarin meine Pläne. Sie zögerte nur kurz, dann nahm sie das Angebot an und schon im nächsten Augenblick fragte ich mich, warum in aller Welt ich nicht den Mund gehalten hatte. Ich hatte mich schon viel länger als beabsichtigt aufgehalten. Eigentlich war ich nur nach Hause gekommen, um nach der auswärts verbrachten Nacht schnell zu duschen und mich umzuziehen. Dass es länger gedauert hatte, war Utes Schuld gewesen: Gern drängte sie mir diese Diskussionen über unsere Beziehung auf, vorzugsweise, wenn es überhaupt nicht passte, so wie an diesem Vormittag. Wo ich überhaupt gewesen wäre, hatte sie wissen wollen, als wir uns gleich nach meinem Eintreten im Flur getroffen hatten. Ich hätte darauf schwören können, dass sie auf meine Rückkehr gelauert hatte, vielleicht sogar die ganze Nacht?
Und dann hatte ich auch noch zwei Sekunden zu lange gebraucht, um überhaupt auf den Namen der Frau zu kommen, aus deren Bett ich vor weniger als einer Stunde aufgestanden war – mal abgesehen davon, dass es Ute natürlich überhaupt nichts anging. Sie wollte einfach nicht begreifen, dass die drei Male, oder vielleicht waren es auch vier gewesen, die wir miteinander im Bett gewesen waren, uns noch lange nicht zu einem Paar machten.
Wir waren eine Wohngemeinschaft, mehr nicht, daran änderte auch gelegentlicher Sex nichts. Von Liebe hatten wir kein einziges Mal gesprochen, auch sie nicht, im Gegenteil tat sie ja immer so wahnsinnig emanzipiert – aber nur, bis sie mich wieder einmal herumgekriegt hatte. Bisher hatte ich darauf verzichtet, diese Wahrheit allzu unverblümt auszusprechen, schon allein, um unser Verhältnis in den gemeinsamen vier Wänden nicht zu stören, das doch an sich gut gewesen war bis dahin. Aber an diesem Tag hatte es mir einfach gereicht. Ich war müde, da ich kaum Schlaf bekommen hatte, und so hatte ich entnervt geantwortet, dass Ute dann bitteschön aufhören sollte, nachts überfallartig in mein Zimmer einzudringen, in einem kurzen Nichts von einem Nachthemd, ohne was darunter, oder gleich ganz nackt, wenn sie mit der Unverbindlichkeit des Arrangements nicht zurechtkäme! Woraufhin sie mir vorgeworfen hatte, zynisch, kalt und herzlos zu sein; dies hallte noch in mir nach, nachdem ich die Tür zugeknallt hatte und die Treppe hinuntergestürmt war.
Und da hatte sie dann gestanden, die alte Dame.
Wenn Ute genau diese Worte nicht gesagt hätte, die ungewollt ein schlechtes Gewissen in mir ausgelöst hatten, obwohl es dafür an sich überhaupt keinen Grund gab – wäre ich dann auch stehen geblieben?
Es war ja an sich nichts passiert, da stand nur eine betagte Hausbewohnerin, der ich bei anderen Gelegenheiten schon flüchtig begegnet war. Sie war nicht gestürzt oder dergleichen, sie tat gar nichts als nur dazustehen. Dabei hatte ich in diesem Moment nicht einmal ihren Namen parat, obwohl ich ihn auf dem Klingelschild oder an den Briefkästen schon gelesen haben musste.
Zu spät, schon hing die fremde alte Frau erstaunlich schwer an meinem Arm, dabei war sie ein eher zartes, beinahe geschrumpft wirkendes Persönchen. Mit der anderen Hand klammerte sie sich am Treppengeländer fest. Der Aufstieg ging quälend langsam vonstatten. Ich hatte ja keine Ahnung gehabt, wie langsam man werden konnte, aber es ging scheinbar wirklich nicht schneller.
Im zweiten Stock angekommen kramte sie in der Tasche vor ihrem Bauch nach den Schlüsseln. Hannelore Berger stand auf dem kleinen Messingschild über der Klingel, da wusste ich es wieder.
Sie hantierte ungeschickt mit dem klirrenden Bund vor dem Schloss herum, also bot ich erneut meine Hilfe an, fand den richtigen Schlüssel und sperrte auf. Das Erste, was ich bemerkte, war der Geruch, der uns entgegenschlug: Fertigessen, ungemachtes Bett und seit Jahrhunderten nicht mehr gelüftet. Die alte Dame ließ meinen Arm los und trat über die Schwelle. Ich begann automatisch durch den Mund zu atmen, während ich Frau Berger in die muffige Wohnung folgte.

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Mehr über und von Kerstin Michelsen auf ihrer Website.

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