26. August 2014

"Buenos Aires [sur]real" von Andreas Dauerer

Geschichten, Erzählungen und Fragmente. Über das Leben, die Liebe und den Tod. Ein Straßenmädchen muss ihren kranken Bruder durch den Wintertag bringen, ein junger Mann tötet aus Versehen einen anderen und versucht das zu vertuschen, eine Mutter vernachlässigt ihr Kind, weil ihr der Alltag keine andere Wahl lässt, ein Mann ertränkt sein Leben und fantasiert mit seiner Tapete – das sind nur vier Geschichten, welche die Stadt Buenos Aires und ihre Bewohner zu erzählen haben.

Dabei haben sie noch jede Menge mehr zu bieten. Grenzen und Realitäten verschwimmen und geben den Blick frei auf das „Andere“... Immer vor der Kulisse der wunderbaren Stadt Buenos Aires.

Gleich lesen: "Buenos Aires [sur]real" von Andreas Dauerer


Leseprobe:
Es war eine erfolgreiche Nacht gewesen. Sie hatte genügend zu essen bekommen, jede Menge Kartons verkauft und seit ein paar Wochen auch ein Plätzchen zum Schlafen gefunden. Nur der Bruder bereitete ihr große Sorgen. In den letzten Tagen konnte sie ihn nicht mit zur Arbeit nehmen. Zu sehr hatte ihm die schwere Grippe zugesetzt. Leider war aber nicht genügend Geld übrig geblieben, um doch noch das eine oder andere Medikament zu kaufen. Und Stehlen?! Das kam für sie nicht in Frage. Nie und nimmer. So etwas tue man nicht. Egal, wie schlimm es um einen auch stehen mag.
Stumm betrachtete sie den kleinen Kerl vor ihr. Ein schönes Kind, dachte sie stumm. Oder besser, er hätte ein schönes Kind sein können. Seine dunklen, dichten Haare hatte er jetzt zwei Wochen schon nicht mehr gewaschen, ebenso wenig den Rest seines Körpers mit Ausnahme von Gesicht und Händen. Normalerweise konnte man das ja ganz gut in den verschiedenen Brunnen machen, die in der ganzen Stadt verstreut waren. Seit es aber jetzt im beginnenden Herbst empfindlich kalt geworden ist, war an eine Ganzkörperwäsche nicht mehr zu denken. Unter seinem schwarzen Wuschelkopf traten die großen braunen Augen hervor. Die hatte ihm todsicher sein Vater vererbt. Sie blitzen immer ganz besonders aufmerksam, wenn er versuchte, die große Schwester nachzuahmen oder das aufzusaugen, was sie ihm für das Leben da draußen beizubringen gedachte. Im rechten Auge hatte er einen winzigen grünen Fleck, den man nur dann genau erkennen konnte, wenn man unmittelbar vor ihm stand und sich wirklich ausschließlich darauf konzentrierte. Der, so schlussfolgerte sie, musste wohl von der Mutter stammen. Die Wimpern waren ziemlich lang für einen Jungen, aber, das musste sie ihm zugestehen, sie standen ihm unverschämt gut. Seine schmale Nase war hübsch anzusehen, aber in seinem kränkelnden Zustand machte sie ihm das Luft holen zu einer kleinen Tortur. Sie vernahm ein leichtes, aber ungemein beruhigend gleichmäßiges Röcheln. Aus seinem leicht geöffneten Mund blitzte einer seiner beiden Schneidezähne hervor. Der anderen war im schummrigen Licht nur zu erahnen, zumal er nicht mehr weiß, sondern dunkel gefärbt war. Bei der Arbeit rutschte er von einem der Kartonlaster herunter und schlug mit voller Wucht kopfüber auf die Laderampe. Immerhin passierte nicht viel mehr als die Sache mit dem Zahn. Die restlichen Teile des Gesichts, und von da an der ganzer Körpers abwärts, waren fest in eine doppelte Schicht alter Decken eingewickelt. Die hatten sie sich auf der Straße zusammengesucht. Als Kopfkissen musste ein alter, zerschlissener Pullover der Schwester herhalten.
Als der Junge bemerkte, dass seine Schwester von der langen Nacht nach Hause gekehrt war, richtete er sich ein klein wenig auf und blinzelte sie schweigend an. Sie nickte nur leicht und er ließ sich erschöpft, aber ungemein beruhigt, in seine Kuhle sinken. Er war noch schwach und brauchte wohl noch zwei, drei Tage Ruhe. Sie deckte ihren Bruder sorgfältig zu und schlüpfte dann selbst unter die Decke, zumindest das, was noch für sie übrig geblieben war. Ganz fest schmiegte sie sich an den ausgemergelten Körper ihres Bruders, um etwas von seiner Wärme abzubekommen. Draußen wurde es jetzt immer heller. Hier im Untergeschoss des Rohbaus war es jedoch angenehm dunkel und sie waren zudem einigermaßen sicher, unentdeckt zu bleiben. An dem Bau wurde eine ganze Weile schon nicht mehr gearbeitet. Wie lange das gut gehen konnte? Sie wusste es selbst nicht. Für den Augenblick allerdings reichte es, um dem Wetter zu entfliehen und sich von den langen Nächten auszuruhen. Während sie noch nachdachte, wie sie vielleicht doch noch ein paar Medikamente für ihren Bruder auftreiben könnte, fiel sie in einen tiefen Schlaf.
Ohne einen einzigen Traum wurde sie am späten Nachmittag wach. Sie fror. Am Fußende kauerte Pancho, ein kleiner Hund, der sie regelmäßig besuchte. Er wirkte ebenso abgerissen, wie sie selbst. Seinem Bauch nach zu urteilen, hatte er seit Wochen nicht richtig gefressen. Jede Rippe konnte man einzeln abzählen. Wie die beiden, wusste wohl auch er nicht, wohin er gehen soll, wohin er gehört. Sie brach ein Stück von dem alten Kanten Brot ab, den sie in einer kleinen Kiste am Kopfende versteckt hielt. Es war zwar noch essbar, aber schon so hart, dass sie es sich diesmal leisten konnte, wenigstens einen kleinen Teil davon abzugeben.
Das allmählich verschwindende Tageslicht bedeutete ihr wieder aufzubrechen. Sie konnte es sich nicht leisten, die nächtliche Arbeit auch nur einmal sauen zu lassen. Allerdings nicht ohne sich zu vergewissern, dass Ihr Bruder gut zugedeckt weiterschlief. Und auch nicht ohne ihm einen sanften Kuss auf die Wange zu geben. Die Kiste mit dem letzten Brocken Brot schob Sie ihm behutsam unter seine Decke. Dann trat sie in den eisigen, abendlichen Wind hinaus, rannte zwei Quadras hinunter und gelangte in den wohlig-warmen Luftzug des U-Bahneingangs. Hier war es schon eher auszuhalten. Aber sie musste sich beeilen, wenn sie noch einen der guten Plätze unten erwischen wollte. Sie ging die Treppe hinab und erblickte die anderen Kinder, die an den „Bettlerplätzen“ standen und von den Pendlern Geld verlangten. Sie verachtete diese Jungen und Mädchen, weil sie nichts für ihr Geld tun wollten, sondern einfach nur dastanden und die Hand aufhielten. Es war nicht die geringste Spur davon zu erkennen, dass die sich einmal durch Arbeit Geld verdienen wollten. Schlimmer noch: Sie erwarteten nur fürs Rumstehen entlohnt werden. Manchmal versuchten sie gar, noch schäbiger und mitleidiger zu wirken. Dann hatten sie uralte Fetzen an und bespritzten ihr Gesicht mit Staub und Dreck von der Straße. Eine Methode, die allem Anschein nach vor allem bei den Touristen ihre Wirkung nicht verfehlte.
Sie hielt sich nicht länger damit auf, all die Kinder hier zu beurteilen. Sie musste ganz hinunter ans Gleis und ein Stück mit der U-Bahn in Richtung Zentrum fahren. Dort würde sie sich wieder ihrer Gruppe der Cartoneros anschließen. Natürlich hatte sie nicht das Geld für ein Ticket, aber man konnte ja den einen oder anderen Trick anwenden. Während dieser Jahreszeit war man aber gar nicht so sehr auf billige Tricks angewiesen. Das Aufsichtspersonal am Eingang der Stationen hatte wegen dem Wetter – und manchmal auch nur wegen der Kinder selbst – Mitleid; und so wurden sie auch leicht durch die Schranken ans Gleis gelassen. Zwar sollten die Straßenkinder im Normalfall nicht mit der U-Bahn fahren dürfen, aber da sie ohnehin schon spät dran war, würde sie sich heute sicherlich nicht davon abbringen lassen.

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