20. Oktober 2014

"Das letzte Spiel" von Leonore Pothast

Serdid lebt in drei Welten: Tagsüber arbeitet er als Tagelöhner, sammelt Abfall, schleppt Wasser oder jagt Heuschrecken. In der Dämmerung ist er Vater einer Familie, von der niemand wissen darf. Nachts bricht er ein bei den Reichen und Mächtigen und verkauft ihre Geheimnisse.

Als seine Familie zu verhungern droht, nimmt Serdid einen aussichtslosen Auftrag an: Innerhalb einer einzigen Nacht soll er einen Ring aus dem Haus des Großwesirs stehlen, ohne zu wissen, wo er sich befindet. Doch der Einbruch endet in einem Desaster.

Serdid wird entdeckt und erpresst. Trotz aller Versuche zu entkommen landet er mitten in den Rachefeldzügen betrogener Sultane und den politischen Machtkämpfen um den Thron – Seite an Seite mit einem ausgedienten Folterknecht, der nur vordergründig nett erscheint.

„Das letzte Spiel“ erzählt die Geschichte eines Verbrechers in einer verruchten Gesellschaft. Das Buch ist liebevoll illustriert mit Karten und Grundrissen, die sich mit der Geschichte mit entwickeln: Details werden erst sichtbar, nachdem Serdid einen Ort besucht hat.

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Leseprobe:
»Willkommen in meinem kleinen Reich der Dunkelheit!« Noanin zeigte um sich. »Hier wohne ich und schlafe ich und arbeite ich in einem.«
Serdid blickte sich flüchtig um. Sein Haus passte bestimmt fünfmal in diesen Raum. »Wir sollten uns beeilen.« Er legte die Jacke auf den Boden und zog das Messer. »Also, was für einen Bart hat Gulul?«
»Viel kürzer. Und weniger struppig. Und schwärzer.« Sie reichte ihm eine schmale Klinge. »Nimm das da.«
Serdid setzte sich auf die Jacke, nahm die Klinge und fuhr damit grob durch seinen Bart. Obwohl er wusste, dass er keine Nerven in den Haaren hatte, tat es weh. Als ob jeder Fingerbreit fehlender Haare ihn verletzlicher machte.
»Soll ich dir helfen?«, fragte Noanin besorgt.
Er fuhrwerkte ungeschickt mit der Linken in seinem Bart und versuchte, mit der Rechten die Haare von unten festzuhalten. Er verstand nicht, warum er die Wunde im Arm kaum spürte, wenn er verfolgt wurde, aber so heftig, wenn er sich in Sicherheit befand. Doch es war, wie es war, und jede Bewegung mit dem rechten Arm tat weh. Zuletzt versuchte er, seine Haare mit den Knien festzuhelten, um sie zu spannen.
»Willst du nicht in den Spiegel schauen?«
»… Gleich.« Eigentlich wollte er nicht. Er hatte sich seit Jahren nicht gesehen und seit Jahren nichts für sein Aussehen getan – mit voller Absicht. Er wollte nicht wissen, was aus seinem Körper geworden war. Und er wollte nicht wissen, was er Dshenya antat.
Nachdem er den groben Teil abgesägt hatte, versuchte er einen Feinschnitt, erreichte aber nicht viel mehr, als sich in den Finger zu schneiden. Beim zweiten Mal gab er auf: Er würde es nicht besser schaffen und Noanin auch nicht. Er klopfte sich die Haare vom Körper und stand auf. »Reicht das?«
Noanin antwortete nicht. Sie lag auf dem Divan und starrte ihn an, als wäre er von den Toten auferstanden. Ruckartig drehte er sich zum Spiegel, um zu sehen, was sie sah.
Es war, als stände eine dritte Person im Raum. Er suchte nach Zügen, die er erinnerte, mühselig wie nach einer Made im Reis, und fand nichts. Und irgendwann merkte er, dass es nicht die bekannten Züge waren, die fehlten, sondern die Erinnerung selbst: Er wusste nicht mehr, wie er einst ausgesehen hatte. Nur die Augen erkannte er, doch nicht von früher, sondern von der Statue. Hohl und gehetzt starrten sie ihn an, als würde sein Spiegelbild gleich hervorbrechen und ihn anfallen. Der Rest war ein verwahrloster Bettler, dürr wie ein Fledermausflügel, mit fransigen Haaren und verschnittenem Bart, über dessen Brustkorb mehrere Striemen liefen, einige violett geschwollen, andere aufgerissen.

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Mehr über und von Leonore Pothast auf ihrer Website.

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