22. April 2015

"Zwei Leben lang Liebe" von Lio Gordon

Wenn du dein Leben noch einmal von vorn beginnen könntest, würdest du es tun? Im August '99 begegnen sich Max und Lina zum ersten Mal. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch Lina ist verlobt, und ihre ganze Familie fiebert der geplanten Hochzeit sehnlich entgegen. Trotz der widrigen Umstände erleben Max und Lina einen Sommer voller Liebe und überwältigender Gefühle füreinander. Als Max ein Auslandssemester in Südafrika verbringt, trennen sich ihre Wege, und Lina entscheidet sich für ihren Verlobten.

Sieben Jahre später sehen sich die beiden wieder und müssen sich eingestehen, dass sie noch genauso tief füreinander empfinden wie damals. Doch Max fasst einen folgenschweren Entschluss. Als acht weitere Jahre später ein Schicksalsschlag alles verändert, liegt es an Max und Lina herauszufinden, was im Leben wirklich zählt ...

Gleich lesen: Zwei Leben lang Liebe

Leseprobe:
Er war nicht der Mann, für den man ihn hielt. Er hätte gerne dem Bild entsprochen, das viele von ihm hatten, doch er wusste, dass er dem nicht gerecht werden konnte. Was hatte er schon erreicht im Leben? Nichts, das ihm wirklich etwas bedeutete. Das Haus-Baum-Sohn-Ding war ihm nicht gelungen, und der Gedanke daran, deprimierte ihn schwer. Das Haus hatte er übernommen, da war der Mörtel zwischen den Steinen schon über ein halbes Jahrhundert getrocknet. Der Baum, den er gepflanzt hatte, war ein Strauch, aber dafür konnte er nichts, denn die Magnolie und der japanische Ahorn standen schon ein paar Jahre dort und sie zu fällen, nur um seinem männlichen Ego zu frönen, fühlte sich irgendwie falsch an. Der nichtgezeugte Sohn ging allerdings auf seine Kappe. Zwischenzeitlich hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich einen Hund anzuschaffen und ihn sofort wieder verworfen.
Wie gut würde es ihm heute gehen, wie viel glücklicher wäre er, wenn er es besser gemacht hätte. Vielleicht hätte er Kinder, vielleicht auch einen Hund. Aber ganz sicher hätte er sie heute an seiner Seite. Denn jetzt hatte er gar nichts. Nichts, außer dem Wunsch, sie zurückzugewinnen.
Er ging zum Tisch hinüber und nahm einen Stapel Papier aus dem Umschlag, der darauf lag. Er blätterte darin, überflog ein paar Zeilen, blätterte weiter, starrte eine Weile auf das Geschriebene, bis die Buchstaben vor seinen Augen verschwammen und packte alles wieder sorgfältig zurück. Dann zog er sein Portemonnaie aus der hinteren Tasche seiner Jeans, die über der Stuhllehne hing, und stöberte darin. Zwischen ein paar Visitenkarten lugte ein kleiner weißer Zettel hervor, er zog ihn heraus, legte ihn vor sich auf den Tisch und strich ihn mit den Fingern glatt.
Vor fünfzehn Jahren war er das letzte Mal hier gewesen, und als er hinüber zum Spiegel ging, um einen Blick hineinzuwerfen, fühlte er sich plötzlich alt. Sein Haar stand heute Morgen widerspenstig vom Kopf ab, und die tiefen Augenringe ließen erahnen, dass er in letzter Zeit zu wenig geschlafen hatte. Die Schläfen waren ergraut und erschienen ihm plötzlich noch grauer als sonst. Die kleinen Lachfältchen um die Augen herum waren tiefen Falten gewichen und verrieten, dass sein Leben nicht ohne Spuren an ihm vorbeigegangen war.
Sein Leben. Darüber wollte er gar nicht erst nachdenken. Er war 42 und hatte es total verpfuscht. Er hatte sich im Kreis gedreht und dann die Flucht ergriffen. Er war an allem schuld, das war ihm klar. Wegen ihm standen sie nun an diesem Punkt. Den Fehler, den ersten, hatte sie begangen, aber er war es, der es letztendlich verbockt hatte. Diese Einsicht schmerzte ihn.
Den Weg, den er gegangen war, hatte er nie hinterfragt, aber in letzter Zeit machte er sich immer häufiger Gedanken darüber, was geschehen wäre, wenn er einen anderen gewählt hätte. Wann ist es zu spät? Wann hat man den Zeitpunkt verpasst, an dem man noch umkehren kann? Er wusste es nicht. Er konnte aber auch nicht unbeirrt weitergehen, wenn er erkannt hatte, dass er in die falsche Richtung lief. Vielleicht würde es nicht mehr viel bringen, seinen Kurs jetzt zu ändern, aber weiterhin weglaufen konnte er auch nicht. Schließlich ging es um etwas. Um sein Leben mit ihr.
Er war nie ein großer Romantiker gewesen, und das Wort „Liebesgeschichte“ wäre ihm schwer über die Lippen gekommen. Für ihn hatte es auch etwas von einer Tragödie, doch das spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie war so untrennbar von ihm wie sein Herz, und nichts in seinem Leben hatte ihn so sehr gezeichnet wie eben jene Liebe.
Er schaute auf die Uhr. Es wurde Zeit. Er warf einen letzten Blick auf den Zettel und legte ihn dann behutsam in den Umschlag hinein. Er duschte, kämmte sich seine Haare nach hinten, schlüpfte in eine dunkle Hose und einen Pullover und wickelte sich seinen dicken Schal um den Hals. Er trank noch einen Schluck Kaffee, den der Zimmerservice in der Früh serviert hatte, aß nichts, denn er hätte sowieso keinen Bissen herunterbekommen, und warf sich seinen Mantel über.
Als er den Umschlag ohne Absender vor sieben Monaten aus seinem Briefkasten geholt und ihn neugierig geöffnet hatte, war er wie vom Schlag getroffen gewesen. Er hatte die Geschichte ein Mal gelesen, und ein zweites Mal, danach hatte er alles in die hinterste Ecke seines Kleiderschrankes verfrachtet und versucht, die Gedanken aus seinem Kopf fortzujagen. Sie brachten ihm vergangene Tage zurück und Gefühle, die zu verbannen er sich lange Jahre bemüht hatte.
Als er die Geschichte ein paar Monate später wieder hervorgeholt hatte, weil sie ihm nicht mehr aus dem Sinn ging, las er sie erneut und fasste einen Entschluss. Irgendwann hatte er sich dann in sein Auto gesetzt und war hier hergekommen. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Er verließ das Hotel und machte sich auf den Weg. Es war noch früh, die Luft war kalt und klar, und der Winter ließ nicht mehr lange auf sich warten. Er schloss die Tür seines Wagens auf, setzte sich hinein, legte den Umschlag auf den Beifahrersitz, und bevor er die Zündung anließ, hielt er einen kurzen Moment inne, atmete tief durch und holte den Zettel wieder hervor.
Er wusste, dass er im Leben nicht mehr viele Gelegenheiten bekommen würde, die Richtung zu ändern und einen anderen Weg einzuschlagen, doch er ahnte nicht, dass dies seine letzte sein würde. Er gab die Adresse, die auf dem Zettel stand, ins Navi ein, und startete den Motor.
Was immer auch geschehen würde, er wusste, dass er es jetzt tun musste, wenn er sich später nicht vorwerfen wollte, in dieser Geschichte nicht alles versucht zu haben.
Die Geschichte, die immer noch sein Leben beherrschte und von der er hoffte, sie möge gut ausgehen.

Im Kindle-Shop: Zwei Leben lang Liebe

Mehr über und von Lio Gordon auf seiner Website.

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