9. August 2015

'Das Eulenrätsel' von Ghila Pan

Was ist wirklich ‚wirklich‘? Diese Frage stellen sich auch Lisa und Alwin Richard. Eigentlich wollen die beiden einen entspannten Urlaub auf Hawaii verbringen. Doch plötzlich befindet sich Lisa, die einen unveröffentlichten Roman geschrieben hat, wieder mitten in ihrem Buch – und an seinem Schauplatz, den schottischen Highlands. Ihre Romanfiguren gehen ihr nicht mehr aus dem Kopf und beginnen ihr Leben maßgeblich zu beeinflussen, bis Lisa und ihr Mann in ein gefährliches Abenteuer geraten.

Aber Lisa ist keine gewöhnliche Frau. Sie kann sich drehen und Flügel wachsen lassen. Auch ahnen vorerst weder Elester Claw, die Flohspinne Tarantilli, noch der BMS- (Bird-Message-Spatz) Posi, dass ihre Verbannung gemeinsam mit weiteren Romanfiguren Lisas in ein ‚Nichtiges Reich‘ – irgendwo über den Wolken Schottlands – ein Ende haben soll.

Nicht nur für Eulalia Birdwitch, die in ständiger Angst vor dem Tod lebt, wäre der Blick in seelische Abgründe und Welten monströser Wesen ein anderer gewesen, hätte sie etwas mehr gewusst …

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Leseprobe:
Schmal war der Pfad, der Boden fühlte sich warm an unter ihren Füßen, den einzigen Spuren im Sand. Hibiskusblätter streiften Lisas Schultern, sie stapfte ein paar Meter die Anhöhe hinauf. Vor ihr lag eine Bucht, ganz anders als die Strände zu Hause in New Jersey. Immer schon hatte Lisa geheime Orte gesucht, in der Natur genauso wie in ihrem Inneren. Doch während sie die äußeren Orte von den Zwängen der lärmenden Städte abschirmten, verliehen ihr die inneren manchmal Flügel. Dieser Ort hier schien beides zu versprechen; eine versteckte Bucht, durch Dünen von den anderen Stränden getrennt. Niemand könnte sie hier sehen.
Warmer Wind durchwühlte Lisas Haar, blähte ihr Gewand auf wie eine sanfte Hand. Sie schmunzelte und ging zum Meer hinab. Ob Alwin schon vom Einkauf aus dem Dorf zurückgekommen war? Sie wünschte, er möge sich Zeit lassen, sich keine Sorgen um sie machen. Er machte sich so viele Sorgen. Vor allem seit sie das Buch geschrieben hatte.
Sie sah zum Horizont und lauschte der Brandung. Als sie tief einatmete, wehte schwarzes Haar durch ihr Bewusstsein, dann ein lächelndes Kindergesicht: Maracella, das Südseemädchen! Ihre allererste Titelheldin. Lisa tat es heute noch leid, dass sie ihre eigenen Geschichten damals als Achtjährige verbrannt hatte. Die Erinnerung daran war wie ein Stich in die Seele.
Doch Maracella war trotzdem hier. Gegenwärtig, in Lisas Geist atmend. Behutsam legte Lisa die Arme um ihre Schultern und sah aufs Meer hinaus. Schließlich setzte sie sich langsam. Maracellas Kinderblick, ihre großen Augen, sahen Lisa an, so erwartungsvoll und forschend. Es war, als wäre Maracella hier neben ihr und musterte sie unverhohlen. Solches Haar in den Farbschattierungen von Eierschalen hatte Maracella wohl noch nie gesehen. Aber es gab viel, was ihre kleine Titelheldin noch nie gesehen hatte, obwohl sie alles andere als jung war. Lisa dachte noch darüber nach, warum diese Figur einer ihrer Kindergeschichten jetzt so präsent war, als sie eine helle Mädchenstimme fragen hörte, „Wer kennt dein Buch?“ Die Frage war so klar, dass Lisa sich umsah, doch nichts als Dünen, Sand und Meer waren um sie. Maracella lächelte sie an.
„Alwin!“, antwortete Lisa der Brandung nach einer Weile. Maracella hatte verstanden und sah ebenfalls zum Meer hinaus. Da saß Lisa nun, ihr Lächeln verband sie mit einem verlorenen Glück aus Kindertagen.
Weit draußen auf dem Ozean fuhren große Schiffe vorbei – aber was war das?
Lisa beobachtete, wie Maracella aufsprang und in die sich brechenden Wellen hüpfte. Als Lisa ebenfalls etwas in der Gischt auftauchen sah, ließ sie sich plötzlich rücklings in den Sand fallen. Mit einem Auge lugte sie auf Maracella. Als hielte das Mädchen einen sakralen Gegenstand in ihren Händen, musterte die Kleine das Treibgut.
„Da steht etwas geschrieben, unter dem Seegras und den Muscheln…!“, flüsterte Maracella geheimnisvoll.
„Ach ja, ein verschimmeltes Holzteil mit irgendwelchen Hyroglyphen, heißt vermutlich ‚Oliventransport’ auf Hawaiianisch, chinesisch oder makrobiotisch!“, sagte Lisa laut und schloss die Augen. Warum sagte sie das so laut und schnell? Doch wohl nicht, um mit der Vision ihrer kleinen Titelheldin zu kommunizieren? Lisa hätte sich am liebsten im warmen Sand vergraben.

Das letzte Jahr war so vielseitig gewesen. Und dann hatte sie diesen Traum. Ein Traum, der sie veranlasste wieder zu schreiben. Nach all den Jahren! Und sie schrieb und schrieb und schrieb… dieses Buch. Nicht für sich selbst oder für Alwin, das war von Anfang an klar. Und es würde sich niemals veröffentlichen lassen. Das war auch von Anfang klar. Aber sie musste es schreiben, sie hatte keine Wahl.
Warum spürte Lisa plötzlich ihr Herz heftig klopfen?
Die Antwort war wie ein sanfter Schlag. Gut, dass Lisa schon im Sand lag.
Sie existierten! Woher sie das wusste, konnte sie nicht sagen. Lisa sah sie nicht, so wie sie Maracella neben sich am Strand sah. Aber sie fühlte, dass sie lebendig waren.
Schweigend legte Maracella ihren Fund neben Lisa in den Sand.
„Und? Was steht da geschrieben?!“, fragte das Südseemädchen schließlich vorsichtig.
Lisa setzte sich auf und sah auf das Treibgut, das sie gut mit beiden Händen umfassen konnte. Salzig schmeckte der Geruch. Für einen kurzen Moment hatte Lisa den Eindruck, sie selbst wäre wie eine der Muscheln, die an dem Gegenstand hafteten: herausgerissen aus ihrem Element und zuhause in der Tiefe des Meeres.
„Ein Korken, er muss schon länger im Wasser geschwommen sein. Wahrscheinlich ist es ein Stück von einem Lebensmittelfass, irgendeine Werbung oder sonstige Beschriftung! Schwer zu lesen, man müsste das Seegras und die Muscheln ablösen...“, sagte Lisa leise zu sich selbst.
„Das ist kein Teil von einem Fass!“, drängte sich Maracellas Stimme in Lisas Gedanken.
Lisa seufzte und schüttelte den Kopf. Warum war sie nur so naiv und ließ sich von ihrer kleinen Titelheldin dazu verleiten, auf ein Stück Treibgut zu starren? Sie wusste die Antwort einen Augenblick später. Weil das Treibgut nicht unbedeutend war, und eine andere Titelheldin fiel ihr ein. Bela Petty. „Ach, das ist doch bedeutungslos!“ Oh Gott, jetzt sprach Lisa schon zu sich selbst. Ob sie sich überzeugen konnte?
Das Mädchen streckte den Oberkörper. Ihre dunklen Augen blitzten angriffslustig.
„Aber das könnte doch auch eine Botschaft sein...!“ Mit einem lauten Stöhnen ließ sich Lisa wieder in den Sand fallen.

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