28. September 2016

'Amurante: Der Wald' von Rico Forwerk

Der Wald ist undurchdringlich, der Nebel lässt niemanden gehen. Von der Zivilisation abgeschnitten, fragt sich Kayleigh Bringstine, warum jemand sie entführen sollte. Der kranke alte Mann, mit dem sie sich die Hütte teilt und um den sie sich laut Notiz kümmern soll, redet kein Wort.

Von Verzweiflung getrieben, realisiert Kayleigh bald die wahre Natur ihres Gefängnisses. Und weshalb Mächte, weit älter als die Menschheit, beginnen sich für sie zu interessieren...

Gleich lesen: Amurante: Der Wald

Leseprobe:
„Ms Bringstine, wachen Sie endlich auf!“ Der dickleibige Mann mit dem struppigen Schnurrbart donnerte seine fette Faust mit Schmackes auf den Spanplatten-Arbeitstisch. Der darauffolgende Knall fiel weitaus ohrenbetäubender aus, als die umstehenden Zuschauer es erwarteten, doch verfehlte er seine Wirkung nicht: Kayleigh Bringstine wachte mit einem Schrecken und pochendem Herzen auf.
„W-wie, was, jawohl Mr Bowles“, stotterte die zierliche, blondhaarige Frau ihrem Gegenüber entgegen. Noch während sie ihre Arbeitsutensilien zusammensuchte und hastig ihren Computer aktivierte, der zwischenzeitlich im Ruhemodus auf neuerlichen Betrieb wartete, verriet ihr ein flüchtiger Blick auf den immer noch glühenden Mr Bowles, dass der Ärger noch nicht ausgestanden war.
„Sie sind jetzt zum wiederholten Male bei der Arbeit eingeschlafen! Soll ich Jennings darum bitten, Ihnen ein Kissen zu holen, damit Sie es sich gemütlich machen können?“
„Nein, Mr Bowles. Es tut mir sehr leid, es wird nicht wieder vorkommen.“
Der beleibte Chef der mittelgroßen IT-Firma bebte immer noch vor Wut, das feiste Doppelkinn wabbelte dabei im rhythmischen Takt. Die zu kurz geratenen Ärmel des cremefarbenen Anzugs betonten auf kümmerliche Weise seine kleine Statur und die Ähnlichkeit mit einem brunftigen Schwein ließ sich nicht ohne Schwierigkeiten ignorieren. „Ich erwarte von allen meinen Angestellten hundert Prozent zu geben. Das schließt Sie ebenfalls mit ein, Ms Bringstine, haben wir uns verstanden?“
Kayleigh nickte und ließ ein wisperndes „Ja, Sir“ verlauten. Dann stapfte Mr Bowles davon in sein Büro und ließ die Tür theatralisch zuknallen.
Sie ärgerte sich. Bereits zum dritten Male war Kayleigh während der Arbeit in einen tiefen und traumlosen Schlaf gefallen. Noch nie hatte sie sich so entkräftet und jeglicher mentaler Schaffenskraft beraubt gefühlt. Auch die dritte Tasse schwarzen Kaffee schaffte es jetzt nur bedingt, ein Gefühl in die leblosen Glieder einzuflößen. Aber sie musste sich zusammenreißen. Der Auftrag, für den sie zusammen mit zwei anderen Arbeitskollegen die Verantwortung trug, durfte nicht an einem Paar schwer wiegender Augenlider scheitern. Kayleigh wollte sich sogleich auf die liegengebliebene Ausarbeitung einer besonders hartnäckigen Kalkulation konzentrieren, als eine ihr wohlbekannte Stimme etwas über die Schulter wisperte.
„Der alte Bowles, was? Eigentlich müsste man dem fetten Penner mal den Stock aus den Speckschwarten ziehen. Meinst du nicht auch, Kay?“
Die Quelle dieser hämischen Anteilnahme kannte die junge Frau nur zu gut, denn sie teilte sich den Arbeitswürfel mit dem ihrer Ansicht nach schleimigsten Schwerenöter der Welt. Henry Jennings jedoch sah sich ohne Zweifel als einen geborenen Ladiesman, weswegen er auch gleich nachsetzte, sehr zu Kayleighs Unbehagen.
„Wie wäre es, wenn du und ich mal schön einen draufmachen, hm? Nur wir zwei Hübschen. Ich bin natürlich nur schmückendes Beiwerk im Angesicht der Schönheit neben mir.“
In ihrem Magen rumorte es heftig. Jennings Sprüche waren nie einfach zu verkraften, doch heute wirkten sie einfach nur ekelerregend. „Nein danke, Henry. Wie du siehst, bin ich momentan nur schwerlich in der Lage die Augen offenzuhalten.“
„Das habe ich bemerkt.“
„Ich hätte es übrigens begrüßt, wenn du mich geweckt hättest, als der alte Stinkstiefel um die Ecke kam.“
Jennings Mundwinkel verzogen sich zu einem süffisanten Grinsen. „Verzeih mir, aber ich konnte deinem lieblichen Antlitz, wie es seelenruhig auf dem Tisch lag und schwärmerisch träumte, einfach nicht widerstehen.“
Der Würgereiz in Kayleighs Kehle nahm jetzt nur noch weiter zu. Die Vorstellung, dass dieser Ritter von der schmierigen Gestalt sie im Schlaf beobachtete, versetzte ihrem Rücken einen kalten Schauer. „Also, meinst du nicht, ich könnte dich ... die Nacht durch wachhalten?“
„Ich glaube nicht. Miranda sagte mir, deine Ausdauer hält nur für ein paar Minuten. Ich will ja nicht, dass du vor mir einschläfst.“ Das saß. Den vormals selbstbewussten Jennings zierte nun ein köstlich beschämter Gesichtsausdruck, den er auch noch weiterhin beibehielt, als er sich mit hochrotem Kopf seinem eigenen Tisch zuwandte. Wenigstens ein Problem für das Erste beiseite geschafft, dachte Kayleigh, nicht ohne einen leicht amüsierten Unterton. Die Müdigkeit machte sich jedoch bald erneut bemerkbar und die junge Frau hoffte inständig, dass die Stunden etwas weniger träge dahinschleichen mögen.
Nachdem ihr Wunsch kein Gehör fand und die bleierne Schwere bisweilen dramatische Züge angenommen hatte, sah Kayleigh keine andere Möglichkeit, als etwas früher zu gehen. Sie gab ihrem Chef Mr Bowles Bescheid, nicht ohne ein weiteres Donnerwetter über sich ergehen zu lassen, und informierte die Personalverwaltung, dass sie sich nicht wohl fühle und voraussichtlich morgen krank im Bett liege. Dann schleppte sie sich mit ihrem Rucksack in den Fahrstuhl und trat den anstrengenden Weg nach Hause an.
Der Abend besaß bereits die Eigenschaften einer typischen Nacht zum Herbstanfang. Noch bevor kühle Winde durch die geschäftigen Alleen und Straßen Londons wehten und die Laubblätter ein fescher Rand von bronzener Farbe zierte, umspülten weiterhin angenehme 22 Grad die gehetzten Gesichter aller Bewohner. Von alldem bemerkte Kayleigh nur wenig, doch der Lärm der Autos und ihrer Besitzer schaffte es, etwas Leben zurück in ihre matten Augen zu bringen. Trotzdem fiel es Kayleigh ungemein schwer, im Zug nach Soho zu ihrer Wohnung in der Shaftesbury Avenue wach zu bleiben. Erst als ein Passagier sie darauf aufmerksam machte nicht den Halt zu verlieren – sie saß bereits vornübergebeugt auf dem Sitz –, verdoppelte sie ihre Anstrengungen.
Kurzerhand entstieg sie dem Zug, um ihr Gesicht in der Bahnhofstoilette mit Wasser abzukühlen, was einigermaßen Wirkung zeigte.

Im Kindle-Shop: Amurante: Der Wald

Mehr über und von Rico Forwerk auf seiner Facebook-Seite.

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