21. Oktober 2016

'Sterbenswort' von Siegfried Langer

Zum wiederholten Male dringt jemand in Kathrins Abwesenheit in ihre Wohnung ein. Panik klettert in der jungen Mutter hoch. Als dann noch ihre Tochter im Kindergarten von Kathrins totgeglaubtem Ex-Mitbewohner angesprochen wird, ahnt sie, dass etwas Schreckliches bevorsteht. Wird die tragische Entscheidung, die sie und ihre Freunde damals in der WG getroffen haben, sie nun einholen?

Getrieben von Schuld und Rache beginnt ein dramatischer Wettlauf mit der Zeit, und zum ersten Mal in ihrem Leben muss sie die Kontrolle abgeben …

Gleich lesen: Sterbenswort

Leseprobe:
Damals
Heinrich und Thomas stützten Erik. Zu beiden Seiten seines leblosen Körpers hatten sie sich untergehakt. So schien es, als liefe der tote Freund zwischen ihnen. Eriks Kopf baumelte kraftlos nach vorn, seine Füße schleiften leicht über den schneebedeckten Bürgersteig. Für einen zufällig Vorübergehenden mochte es aussehen, als führten zwei Männer einen Betrunkenen mit sich. Dunkelheit und dichtes Schneetreiben verhinderten, dass die merkwürdige Truppe, die sich die Warschauer Straße entlangbewegte, genauer hätte inspiziert werden können.
Kathrin führte die Gruppe an. Sie wusste, dass Amelie den Männern in der gleichen Langsamkeit folgte. Doch die Sicht war so schlecht, dass sie ihre Freundin nicht mehr erkennen konnte. Eriks beigefarbener Trenchcoat zog ihren Blick auf sich, dann wandte sie sich beschämt ab und blickte wieder nach vorn. Ihre Tränen unterdrückte sie. Sie musste stark bleiben.
Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Na, komm. Das wird schon wieder. Wir bringen dich nach Hause.«
Heinrich war es, der gesprochen hatte, und Kathrin entdeckte auch die Ursache dafür: Ein junger Mann ging an ihnen vorüber. Seine grasgrüne, mit Schnee bedeckte Sweatshirtkapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Er beachtete die fünf Freunde gar nicht.
Die Straße führte stetig bergauf. An der höchsten Stelle wartete der Zielpunkt auf die Freunde: die Warschauer Brücke.
Ein starker Windstoß versuchte, Einfluss zu nehmen auf das schändliche Tun. Mit kalter Schärfe drückte er gegen Kathrins Gesicht und presste die letzte Wärme aus ihm. Ihren Körper jedoch stemmte sie gegen den Widerstand; sie schritt unbeirrt weiter, so wie die Freunde hinter ihr.
»Vorsicht!«, warnte sie, als sich die Schemen vor ihr in Menschen verwandelten.
Sie stoppte, drehte sich erneut um.
Heinrich und Thomas wurden langsamer, gingen ein Stück nach links und hielten ebenfalls an. Amelie tauchte aus der Dunkelheit auf.
Schon hörte sie lautes Lachen. Mehrere Menschen näherten sich. Sie unterhielten sich, machten Scherze, kümmerten sich weder um das Schneetreiben noch um die Leute, die sie passierten.
Dann waren die Fremden vorüber.
Die stumme Prozession setzte ihren Weg fort.
Anstatt in Kürze anzuhalten, wäre Kathrin lieber weitergegangen. Denn an ihrem Ziel erwartete sie die Konsequenz aus der gemeinsamen Entscheidung. Immer weiterzugehen und die Konsequenz bis in alle Ewigkeit hinauszuschieben, erschien ihr erträglicher.
Doch die Umstände erforderten es, zu handeln.
Entschlossen ballte sie die rechte Hand, die in einem schwarzen Lederhandschuh steckte, zu einer Faust.
Es existierte keine Alternative, als die Sache nun zu Ende zu bringen.
Warschauer Brücke.
Endstation.
Kathrin legte ihre Hände aufs Brückengeländer. Sie stützte sich ab und sah nach unten.
Heinrich und Thomas hielten ebenfalls an. Kathrin hörte die beiden laut schnaufen, als sie Eriks Körper gegen das Geländer lehnten.
Schwitzten die beiden?
Trotz der Eiseskälte?
Ihre Wangen schienen gerötet. Kathrin sah zu Erik. Seine Gesichtsfarbe konnte sie nicht erkennen, da der Oberkörper über das Geländer hing. Hätten Heinrich und Thomas ihn nicht nach wie vor festgehalten, wäre er wohl ganz von selbst nach unten auf die Gleise gefallen.
Kreidebleich war es inzwischen sicherlich, Eriks Gesicht. Kathrin brauchte es nicht zu sehen.
»Okay. Da wären wir«, sagte Heinrich.
Keiner antwortete.
Kathrin hörte, wie eine S-Bahn unter ihnen anfuhr. Sie verließ den Bahnhof Warschauer Straße in Richtung des Bahnhofs, der seit Kurzem wieder Ostbahnhof hieß.
Kathrin sah der Reihe nach in die Gesichter ihrer Freunde. Während Heinrich ihrem Blick auswich, schien Thomas durch sie hindurchzusehen und wirkte wie in Trance.
Lediglich Amelie hielt ihrer Musterung stand. Über ihre vor Kälte geröteten Wangen rannen Tränen.
Sie litt am meisten, sie hatte ihre große Liebe verloren.
Amelie nickte Kathrin sachte zu. Die Kopfbewegung glich einer Bestätigung: Alles sei so in Ordnung, wie es ablief.
Doch Kathrin wusste, dass für Amelie nichts mehr in Ordnung war, gar nichts.
Sie nickte zurück.
Erneut ging jemand – gegen das Wetter kämpfend – vorüber. Ein älterer Herr, den Kragen seines edlen Mantels nach oben geschlagen.
Kathrin erschrak, denn er sah zu ihnen herüber.
Heinrich reagierte prompt und drehte sich zu Erik.
»Ja, einfach raus damit. Danach wird es dir sicher besser gehen.«
Welche Stiche mochte das in Amelies Herz verursachen?
Der ältere Herr wandte den Blick wieder ab und setzte seinen Weg fort.
Schon war er im Schneetreiben verschwunden.
»Ob er was gemerkt hat?«, fragte Thomas leise.
»Glaube nicht«, meinte Heinrich. »Sind wir überhaupt an der richtigen Stelle?«
Wie zur Bestätigung näherten sich aus der Ferne Lichter. Schnell war zu erkennen, dass diese zu einem Regionalexpress gehörten, nicht zu einer S-Bahn.
Kein Bremsen am Bahnhof Warschauer Straße, der Zug verlangsamte nur für seinen nächsten Halt am Ostbahnhof.
»Jetzt!«, sagte Kathrin, doch die beiden Freunde zögerten.
»Zu spät«, entgegnete Heinrich. »Wir warten auf den nächsten.«
Thomas zitterte.
»Stehst du das durch, Thomas?«, fragte Kathrin.
»Denke schon.«
Der Klang von Thomas’ Stimme signalisierte das Gegenteil.
»Wenigstens wissen wir nun, dass wir an der richtigen Stelle stehen. Wir werden es gemeinsam tun. Amelie, wir fassen mit an, sobald der nächste Zug kommt.«
Amelie schien sich wehren zu wollen, doch im Moment erforderte es weniger Kraft, einfach das zu tun, was man ihr sagte.
Wieder nickte sie.
Dankbar registrierte Kathrin, dass ihre eigenen Gefühle immer mehr abstumpften. Die Minusgrade schufen eine Taubheit, die von Trauer und Schuld ablenkten.
So standen sie da, die vier. Ihr Freund war tot.
Lange Minuten vergingen.
Einsame Nachtstreuner, feierndes Partyvolk und Betrunkene, die vorüberkamen. Niemand schöpfte Verdacht.
Lichter näherten sich aus der Ferne, sie wurden langsamer: ein Regionalexpress.
»Amelie, du packst ihn auch unten an der Hose.«
Kathrin bückte sich bereits, griff mit einer Hand nach Eriks Hosensaum, mit der anderen nach seiner Wade.
Amelie folgte ihrem Beispiel.
»Ich gebe das Kommando«, sagte Heinrich.
Kathrin schloss die Augen, wartete.
»Jetzt.«
Mit einem Ruck zog sie Eriks Bein nach oben.
Es war viel, viel einfacher, als sie befürchtet hatte. Kaum hatte sie angehoben, zog Eriks Eigengewicht ihn auch schon übers Geländer und nach unten.
Mit dem dumpfen Geräusch, das der Körper beim Auftreffen verursachte, begriff sie, dass Hinsehen besser für sie gewesen wäre.
Denn mit einem Mal tobten Bilder in ihr.
Erik, der in der Dunkelheit verschwand.
Erik, der vor dem Zug zu Boden ging und dann von den Rädern des Zugs zerhackt und zermalmt wurde.
Erik, der direkt auf die Frontscheibe knallte.
Erik, der zwischen Waggons geriet und mitgeschleift wurde.
Körperteile.
Blut.
Ein Gesicht, das nicht mehr als Eriks Gesicht erkennbar war.
Bilder, die nie mehr verschwinden sollten.

Im Kindle-Shop: Sterbenswort

Mehr über und von Siegfried Langer auf seiner Website.



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