8. November 2016

'Seelen im Aufbruch' von Michael Kalters

Was geht in Menschen vor, die durch ihre zunehmende Lebenserfahrung und durch Irrwege im Leben dazu gezwungen werden, ihr Sein neu zu bewerten?

Der IT-Fachmann und Chef einer geheim gehaltenen Abteilung bei „Kruschke-Air“ ist introvertiert, zutiefst verunsichert und verletzt durch das verachtende Verhalten seiner Exfrau. Seine Seele ist verkrustet, er beschließt, nie wieder jemanden zu vertrauen, insbesondere keiner Frau. Doch als er Tabea trifft, muss er alles neu hinterfragen. Will er es erneut wagen, sich zu öffnen und dadurch verletzbar zu werden?

Tabea Louisa Engel entstammt spanischen Eltern und hat deren Temperament geerbt. Ihre frohe Art wandelt sich in tiefe Depression. Ein Unfall entreißt ihr den geliebten Ehemann, der Schock darüber lässt sie auch noch ihr Baby durch eine Fehlgeburt verlieren.

Melissa Perez, Tabeas Freundin, arbeitet in der Unfallstation in Königsläutern. Engagiert und strebsam, gewohnt, allein Entscheidungen zu treffen, ist sie doch einsam, denn sie findet keinen passenden Partner. Und ihr Glück scheint alleine davon abzuhängen! Doch endlich hat sie mit dem Kriminaloberkommissar Stehauf einen Glückstreffer gelandet! Da wird sie mit einem mysteriösen Selbstmord konfrontiert. Oder ist es ein Mord? Die Tote hinterlässt zwei kleine Kinder, einen Ehemann- und eine halbe Million Euro. Kurz nach ihrem Ableben verschwinden Mann und Kinder spurlos!

Währenddessen arbeitet auch Ly, ein junge Frau in Vietnam, hart und unter Gefahren: für eine Menschenhändlerbande! Thanh, ihre Vertraute, geht ihr zur Hand. Doch alles soll sich ändern. Und alles wird sich ändern! Menschliche Seelen sind kompliziert, werden durch vielfältige Faktoren geformt und gesteuert: Erinnerungen, Erlebnisse, Wünsche, Ziele und nicht zuletzt durch Gefühle. Ist es möglich, feste Krusten in der menschlichen Existenz aufzubrechen und neue Wege zu beschreiten? Wie wird es den Beteiligten gelingen, ihr Glück im Leben zu finden?

Eine einsame Insel im Golf von Thailand spielt dabei eine genauso große Rolle wie eine kleine Imbissbude gegenüber einem Kaufhaus. Und ein Essen im griechischen Restaurant ist hierbei ebenso wichtig wie ein Weinabend auf einer Terrasse. Sollte auch Musik eine Rolle spielen? Und wie nahe können sich Mann und Frau als Freunde stehen, ohne eine erotische Beziehung aufzubauen? Was bedeutet überhaupt wahre Freundschaft?

Eines sei verraten: Die Seelen aller Beteiligten werden aufbrechen und sich verändern. Doch kann dieser Prozess so widersprüchlich sein wie die Gefühle, die schon Catull in der Carmen Nummer 85 zum Ausdruck brachte:

“Odi et amo. Quare id faciam fortasse requiris.
Nescio. Sed fieri sentio et excrucior.”

(„Ich hasse und ich liebe – warum, fragst du vielleicht.
Ich weiß es nicht. Ich fühl’s – es kreuzigt mich“)

Gleich lesen: Seelen im Aufbruch: Psychothriller

Leseprobe:
Als er die Frau sah, geschah etwas in seinem Innern. Was war das? Es war so heftig wie ein Tritt in den Magen. Ein existentielles Gefühl, etwas ganz und gar Unerklärbares. Das durfte es einfach nicht geben. Irgendwie waren die Schwingungen aber doch real, er musste es einfach so hinnehmen.
Es gab hier im Einkaufscenter viele hübsche Mädchen und Frauen, gut und chic angezogen und ebenso geschminkt. Ein freundliches Lächeln, das noch nicht einmal aufgesetzt wirkte, verschönte die Gesichter und machte die Verkäuferinnen anziehend, was ja wohl auch gewollt war.
Hier passten sie aber alle in dasselbe Muster: jung, schlank, freundlich, aufmerksam, etwas aufgedreht.
Die Frau schien nicht mehr ganz so jung zu sein, keine ausgelernte AZUBINE, obwohl ihr mädchenhaftes Gesicht ihr Alter schwer schätzen ließ. Er sah ihre Oberarme, als sie flink die Vorhänge einer Umkleidekabine zuzog. Sie waren ihm sehr fraulich erschienen und er schätzte die Geheimnisvolle auf ungefähr Dreißig. Sie trug ein schwarzes Kleid, es reichte bis zu den Füßen, die in hohen Clogs steckten. Sie selbst hatte eine sehr helle Haut, empfindlich wirkend, nicht im Solarium behandelt. Er sah kurz auf ihre Hände und bemerkte, dass sie nirgendwo einen Ring trug.
Wenn sie ging, zeigte sie durch eine aufrechte Haltung Stolz und Selbstbewusstsein. Sie war keine Bohnenstange, im Gegenteil. Er schätzte sie auf ungefähr 175 cm, sie hatte Oberweite und eine wunderbar frauliche Figur. Sofort war sie ihm aufgefallen! Als er sie so betrachtete, während er warten musste, kreuzten sich kurz ihre Blicke. Ihre grünen Augen wirkten gelangweilt, als sie ihn ansah. Es mochte wohl auch an ihrer Arbeit liegen. Ständig musste sie die Kleidungsstücke aus den Umkleidekabinen wieder zurück hängen, dabei sah sie wohl so manche biologische Absonderlichkeit. Fette Menschen, die viel zu kleine Sachen anprobierten, schweißtriefende Damen und stinkende Herren. Aber auch hübsche junge Männer, die sie angafften, waren dabei.
Weswegen sollte sie also ihm besondere Aufmerksamkeit zeigen? Andererseits glaubte er zu erkennen, dass sie sich beim Aufhängen der verschiedenen Modeartikel absichtlich so stellte, dass sie ihn unauffällig beobachten konnte.
Ob sie bereits jemanden hatte? Jemanden, der sie abends vom Laden mit seinem protzigen Auto abholen würde, flüchtig auf die Wange küssend? Oder vielleicht so einen alternativen Typ auf dem Fahrrad? Oder gar die Mutter mit ihrem Kind an der Hand?
Hey, es ging ihn wirklich gar nichts an. Sie waren sich fremd, was gingen ihm da nur für Gedanken durch den Sinn? Aber warum sah sie immer wieder flüchtig herüber? Spürte sie etwa seine Emotionen? Konnte er seine Mimik so schlecht kontrollieren? Er war auf eine Art und Weise elektrisiert von dieser Frau, die sich nicht fassen oder beschreiben ließ. Warm wurde es ihm, ja und angenehm und wohlig, ein Zuhause tat sich auf, ein Ruhepunkt im Leben. Eine magnetische Strahlung ging von ihr aus. Oh nein, was war nur los mit ihm?
Was gab es jetzt zu tun? Konnte er weiter leben, ohne sie näher kennengelernt zu haben? Natürlich, natürlich ginge das. Er würde sein Leben so führen wie bisher und diesen Menschen irgendwann vergessen.
Aber will ich das ernsthaft? Nein, das war jetzt keineswegs mehr so einfach möglich. Wo war sie? Wo? Sieht sie meine schwitzende Stirn?
Er drehte sich vorsichtig und scheinbar zufällig, bis er sie sah. Die Frau in Schwarz steckte zwischen zwei Wäschestangen und zupfte mit geübten Griffen die Wäschestücke glatt, all die Blazer, Kleidchen und Röcke, die anprobiert aber nicht für würdig befunden waren.
Egal, er musste vorerst sein Gefühl vergewaltigen und so tun, als sei nichts. Schließlich würde es auffallen, wenn er hier so herumstände. Also ging er in die Kabine und probierte die herausgesuchten Shirts an. Alle 3 passten und gefielen.
Gleichzeitig fasste er einen Plan. Er wollte Klarheit, er wollte sein Gefühl testen, er wollte Kontakt aufnehmen. Besonders das. Er war schon krank, es gab kein Gegenmittel, alles würde seinen Lauf nehmen.
Die große silberschwarze Uhr, die auch auf einem Bahnhof hätte stehen können, hier aber über einer Kabine etwas schief hing, zeigte fast fünfzehn Uhr dreißig. Wann würde für die ‚Lady Black‘- wie er sie nannte- Feierabend sein? Das lässt sich herausfinden!
Mit etwas hölzernen Schritten ging er zur Kasse, wurde auch hier freundlich und aufmerksam bedient. Fast 70 Euro für 3 Shirts, die er eigentlich nur zu Hause anziehen wollte! Egal, nun war alles egal. Es drehte sich nicht mehr um Geld, nicht mehr um Kleidung. Es drehte sich um SIE.
Am Eingang hing das Schild mit den Öffnungszeiten. Heute bis zwanzig Uhr geöffnet, die Verkäuferinnen taten ihm wirklich leid.
Zehn vor acht stand er vor dem Eingang des Kaufhauses, erwartungsvoll und unklar in seinen Plänen. Er hatte nur spontan seine Präsenz zeigen wollen. Alles andere überließ er dem Lauf der Zufälle.
Durch die Scheiben konnte er nichts erkennen, sie waren zu voll mit Auslagen gestopft.
War er bereit für eine feste Beziehung? Wollte er wirklich die Frau seines Lebens kennenlernen? Was war an seinem geordneten Leben auszusetzen? Alles floss ruhig und geplant!
Er wusste ja über seine Krankheit, jede Unregelmäßigkeit in seinem Leben konnte sich negativ daraus auswirken. Und jetzt?
Beinahe hätte er die Lady Black übersehen. Nur ihr Gang verriet sie noch. Jetzt hatte sie ein paar kurze Jeans an, ein blass-pinkes Top und Sportschuhe. Ihre Haare hatte sie zusammengebunden und als Pferdeschwänzchen schaukelten sie auf und ab. Es ist ihr warm, musste er unwillkürlich denken und es wurde ihm selber warm. Die Lady hatte sich von ihrer Kollegin verabschiedet und ging zügig Richtung Bushaltestelle. Diese lag rund 10 Minuten vom Kaufhaus entfernt. Er folgte ihr.
Als sie so vor ihm ging, bezauberte sie ihn ganz und gar. Alles Zweifeln hatte ein Ende. Das war sie! Und nur sie berührte sein Herz. Ihr Gang, ihre Haltung, ihre Figur, ihr Stolz- nur einmal konnte es so eine Frau geben. Und er hatte sie entdeckt.
Doch wie konnte es weitergehen? Er musste ihr einfach hinterherlaufen, er wollte sie sprechen, sie kontaktieren, sie einnehmen.
Am Ende des Tages wusste er ihre Adresse- Mühlenweg 11- und dass sie offenbar allein wohnte, was ja noch nichts über ihren Beziehungsstatus aussagte. Am Klingelschild der kurzen Auffahrt zum Haus standen mehrere Namen. Da sich kurz nach ihrem Betreten des Mehrfamilienhauses ganz oben, unterm Dach, ein Fenster öffnete, vermutete er ihre Wohnung logischerweise im obersten Geschoss. Hier gab es nur eine Klingel. Der Name berauschte ihn sofort, als er ihn las. Nicht wegen des Namens selbst, sondern weil er ein Stück vorwärts gekommen war, weil er logisch gehandelt hatte trotz aller Planlosigkeit. Weil die Lady nun nicht mehr anonym war. Weil sein Leben sich formte. Er hatte den Mut aufgebracht und er hatte seine tägliche Routine durchbrochen. Er hatte seine Panik besiegt und war ihr in den berstenden Bus gefolgt. Den Schweißausbruch, das Zittern und die Angst in einem mit Menschen gefüllten Raum hatte er auf sich genommen. Und er wurde belohnt dafür! Jetzt wusste er ihre Adresse und den Namen. Ihren Namen. Und niemals würde er ihn wieder vergessen, auch nicht, wenn er nun auf der Heimfahrt wiederum tausend Tode im voll besetzten Bus sterben würde. Seine Krankheit konnte das Interesse an dieser Frau nicht besiegen. Tabea, Tabea Engel.
Und immer noch kein Plan. Er fühlte sich plötzlich noch elender. Ihm musste unbedingt etwas einfallen. Vielleicht war sie ja schnippisch, eingebildet, geizig und intolerant. Vielleicht hatte sie aber auch ein gutes und weites Herz. Das alles musste er herausfinden. Er, Rainer Burghaus, war im Zugzwang.
Zu Hause angekommen, zog er sich erst einmal um. Die Medikamente, die in der Hemdentasche steckten, legte er auf den Nachtisch. Er hatte sie unterwegs nicht benötigt. Aber ohne sie an seiner Seite griffbereit zu wissen, wäre er gestorben. Akribisch legte er die Straßenkleidung über einen Kleiderdiener und zog sich bequeme Hosen und ein Hemd für zu Hause an.
Ein Blick zur Uhr- es war Zeit zu Abend zu essen. Rainer Burghaus wohnte am Stadtrand in einer Siedlung. Das Häuschen hatte er von seinen Großeltern bei deren Tod überraschend vererbt bekommen. Vor allem war es ziemlich ruhig, hier gab es keine Hauptverkehrsstraße. Allerdings gab es auch keinen großen Supermarkt in der Nähe, der die Kunden bis zweiundzwanzig Uhr mit allem versorgen würde. Kleine Tante Emma Läden schlossen hier um achtzehn Uhr- die Bürgersteige waren dann auch menschenleer.
So blieb nur ein Blick in das Tiefkühlfach. Hier lagerte Rainer Burghaus seine wöchentlichen Einkäufe. Er brachte es gerade fertig, einmal pro Woche einzukaufen. Öfters traute er sich nicht in die Menschenmassen, da die Panikattacken dort fast nicht auszuhalten waren.
Tabea Engel. Bebend, erschauernd dachte er an sie. Sie war doch auch nur ein Mensch. Bestimmt hatte auch sie wie alle anderen Frauen drei Schuhschränke zu Hause. Auch sie würde keine passenden Sachen zum Anziehen finden, obwohl die Schränke überquollen. Warum also sie? Warum dieses starke Gefühl? Und sie hatten doch noch nicht ein einziges Wort gewechselt! Hatte sie eine Piepsstimme? Oder rauchte sie- etwas, was er gar nicht ausstehen konnte?
Er hatte eine Forelle aufgetaut und würzte sie nun mit Salz, Pfeffer, Zitrone und Zwiebelringen. Eingewickelt in eine Aluminiumfolie steckte er sie in seinen kleinen Elektroofen und stellte die Uhr auf 30 Minuten. In der Zwischenzeit konnten die gewaschenen Kartoffeln im Schnellkochtopf garen. Aber bei allem war er nicht so recht bei der Sache. Seine Gedanken kreisten um sich selbst, um seine Beweggründe, diese Frau kennenzulernen. Und wie er es anstellen sollte.
Nach dem Abendbrot wusch er wie immer mit Widerwillen das Geschirr. Es war schon spät geworden heute. Der morgige Arbeitstag bei „Kruschke Air“ würde um halb sieben beginnen. Da er gut 30 Minuten von der Siedlung in Geiselberg nach Saalstedt ins Büro der Firma fahren musste, würde die Nacht nicht lang sein. Trotz allem, ein Glas Wein musste noch sein.
Rainer Burghaus holte eine Flasche „Aventino“ aus seinem kleinen Lager. Er mochte diesen spanischen Tempranillo, obwohl er eigentlich einen Artadi »Viña Elsilber Pisón« 2007 bevorzugte, diesen Rioja mit einem stolzen Flaschenpreis von 190 Euro. Aber wer kann sich das schon für den Weinkonsum für Zwischendurch leisten?
Der Korken glitt mit einem lauten „Plupp“ aus dem Flaschenhals. Dunkelrot, fast violett, glitt der Rotwein ins Glas. Burghaus ging zum Kühlschrank und holte einen Manchego-Käse heraus, schnitt ihn in Würfel und stellte Glas und Käseteller auf einen kleinen Beistelltisch ab.
Ein Tag ging vorüber. Genussvoll aß er Stück für Stück vom Schafskäse, trank den glutroten Wein und genoss. Und es reifte ein Plan, wie er es anstellen könnte, Tabea Engel kennenzulernen. Aber der Knackpunkt, die Sollbruchstelle im ganzen Vorhaben blieben seine Nerven. Würde er da über sich hinauswachsen können?
Mittlerweile war es bereits eine Stunde nach Mitternacht. Zwei Gläser Wein und vorzüglicher Schafskäse hatten ihn zufrieden werden lassen.
Er räumte das Geschirr in die Spüle, ohne es zu waschen, nahm seine Medikamente und ging ins Bad. Rasieren würde er sich morgen früh, jetzt nur schnell ins Bett! Beim Zähneputzen nahm er sich vor, morgen eher schlafen zu gehen, wohl wissend, dass dies nie der Fall sein würde.
Burghaus stellte noch den Handywecker und glitt dann in einen tiefen, traumlosen Schlaf, der wieder mal zu kurz war.
Leise Musik drang an sein Ohr. Das Smartphone las die neuesten Nachrichten vor, vermeldete das Wetter und die aktuellen Termine. Es hieß aufzustehen. War denn die Nacht schon wieder vorbei?
Rainer Burghaus wollte sterben. So wie er jeden Morgen um diese Zeit sterben wollte und es doch nicht durfte. Schwankend erreichte er das Bad, wusch sich das Gesicht mit eiskaltem Wasser und wollte nochmals sterben, als er daran dachte, dass er sich jetzt rasieren musste.
Aber auch die ganze Morgentoilette ging vorüber. Groß und übermächtig stand für ein paar Sekunden Lady Black vor ihm, als alles zusammenbrach. Jetzt war Alltag. Er musste funktionieren. Frühstücksbrote schmieren und Tasche packen wurde wichtiger als alle Gefühle der Welt. Wohnungstür verschließen, ins Auto setzen, fahren. Das war sein Leben. Zuvor hatte er schnell noch ein paar Durchfalltabletten geschluckt, sein Magen war schon lange aus dem Ruder gelaufen.

Im Kindle-Shop: Seelen im Aufbruch: Psychothriller

Mehr über und von Michael Kalters auf seiner Website.

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