8. Dezember 2016

'Wer Mondstaub sieht' von Eva-Maria Farohi

Amina und Nicolau verbringen alljährlich ihre Sommerferien zusammen auf Mallorca. Irgendwann wird aus der Kinderfreundschaft mehr – doch dann fährt Amina für ein letztes Schuljahr nach Deutschland zurück und kommt nicht mehr wieder.

Jahre später, am fünfundneunzigsten Geburtstag von Nicolaus Großonkel Miguel Ferrer, feiert man ein rauschendes Fest. Auch Amina, die in Miguel einen Großvaterersatz sieht, ist überraschend angereist, nicht zuletzt um mit ihren Jugenderinnerungen abzuschließen, denn Amina plant zu heiraten.

Miguel erkennt, dass sich an Nicolaus Gefühlen für die Jugendfreundin nichts geändert hat, und beginnt, ihm seine eigene Lebensgeschichte zu erzählen - von Catalina, seiner großen Liebe während der Zeit, als der Krieg auch die Insel erreichte …

Ein Familienepos vor der gewaltigen Kulisse Mallorcas jetzt und während der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs. Eine Geschichte über Verantwortung und Treue – und nicht zuletzt die Geschichte einer Liebe, die alles überwindet.

Gleich lesen: Wer Mondstaub sieht

Leseprobe:
Miguel Ferrer saß auf seinem Lieblingsstuhl unter dem Vordach des steinernen Fincagebäudes, schaukelte und wartete. Worauf, wusste er selbst nicht genau. Doch er ahnte es.
Seit er vor wenigen Monaten seinen fünfundneunzigsten Geburtstag gefeiert hatte, war ihm das Warten zur Gewohnheit geworden.
An jenem besonderen Tag hatten ihm alle gratuliert. Sogar der Bürgermeister, obwohl sie einander nicht besonders gut leiden mochten.
Letzteres war zu einem guten Teil darin begründet, dass der Bürgermeister gegen den Bau der Eisenbahnlinie gestimmt hatte. Das Projekt war inzwischen zwar wegen Geldmangels eingestellt worden, dennoch konnte ihm Miguel dieses Vorgehen nicht verzeihen. Auch wenn er insgeheim wusste, dass er damit nicht ganz richtig lag, gab er dem Bürgermeister die Schuld am Scheitern des Unternehmens.
An seinem Geburtstag war die gesamte Familie erschienen. Zusammen zweihundertsechsundzwanzig Personen, darunter auch mehrere Säuglinge.
Miguel wusste von jedem Einzelnen den Vornamen. Darauf war er stolz.
Das Fest zu seinem Ehrentag hatte ihm, der überhaupt gern feierte, besonders gut gefallen.
Natürlich war Nicolau auch dabei gewesen. Er hatte bereits die Nacht bei Miguel verbracht, weil er wusste, wie gern sein Onkel den Sonnenaufgang von der Terrasse aus beobachtete, und ihm dabei Gesellschaft geleistet.
Nicolau war von jeher der Lieblings-Großneffe gewesen, mehr noch: Er war Miguel so nah wie ein eigener Sohn. Jener Sohn, den er nie hatte haben dürfen.
»Mondlicht ist etwas für die Jungen, in meinem Alter zählen nur noch die Sonnenaufgänge«, pflegte Miguel zu sagen.
Und Nicolau war bei ihm sitzen geblieben. Hatte fürsorglich eine Decke über seine Beine gebreitet – gegen die Kälte, denn immerhin war es bereits Anfang November – und ihnen beiden eine große Tasse mit heißem Kaffee gebracht.
Sie hatten nicht viel gesprochen, während sie gemeinsam beobachteten, wie das helle Licht der Dämmerung die Schatten der Nacht vertrieb, und dann ebenso schweigend dem roten Ball zugesehen, der sich seinen Weg durch die grauen Wolken am Horizont bahnte. Es bedurfte keiner Worte, um einander nahe zu sein. Das Band zwischen ihnen war eng geknüpft und überaus haltbar. Niemandem sonst gewährte Nicolau so tiefe Einblicke in sein Inneres, nicht einmal seinem eigenen Vater.
Schon aus diesem Grund war es für alle Familienmitglieder klar gewesen, dass Nicolau einmal Miguels Erbe sein würde – und damit der Padron über ein Stück Land, das so groß war, dass man seine Grenzen an einem einzigen Tag nur schwer abschreiten konnte. Es war schon immer Familienbesitz gewesen, hieß es. Und Nicolau hatte nie darüber nachgedacht, es war ein Erbe, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Einen vom Schicksal vorbestimmten Zeitraum lang würde er der Eigentümer sein dürfen.
Auf dem Papier gehörte es ihm bereits seit Jahren, denn Miguel hatte an seinem neunzigsten Geburtstag darauf bestanden, die erforderlichen Urkunden zu unterzeichnen. Dennoch war nach wie vor Miguel der Padron und würde es auch bleiben, bis zum Tag seines Todes.
Höher und höher stieg die Sonne, wechselte ihre Farbe, wurde leuchtender – bis sie so hell erstrahlte, dass man ihr nicht länger mit den Augen folgen konnte.
Dafür wärmten die Strahlen jetzt die Gesichter der beiden, die nebeneinander auf der Terrasse ausharrten, und füllten alles ringsum mit dem neuen Leben des anbrechenden Tages.
Miguel griff nach Nicolaus Hand, worauf dieser ihm einen überraschten Blick zuwarf. Für gewöhnlich war es nicht Miguels Art, Gefühle in körperlichen Gesten auszudrücken, doch obwohl er sicher sein konnte, dass Nicolau über die Tiefe seiner Zuneigung genau Bescheid wusste, schien er in letzter Zeit besonders bedacht zu sein, daran keinen Zweifel aufkommen zu lassen.
»Wünsch mir, dass mein letzter Wunsch in Erfüllung geht«, sagte er daher auch jetzt zu Nicolau.
»Ich wünsche es dir«, antwortete Nicolau mit ruhiger Stimme, ehe er versuchte, Miguels Blick einzufangen. »Egal, wie viele es sind, alle deine Wünsche sollen sich erfüllen.«
Miguel schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er, »ich habe nur noch diesen einen Wunsch.«
»Und was genau wünschst du dir?«, fragte Nicolau, während er weiterhin die Hand des alten Mannes in seiner hielt.
Miguel lächelte. Es war ein stilles, beinahe trauriges Lächeln.
Ich möchte, dass du alles bekommst«, sagte er.
Nicolau, der zunächst glaubte, Miguel würde von dem Land und anderen Besitztümern reden, horchte auf.
»Was meinst du damit? Was soll ich denn noch bekommen?«, fragte er, und die Ratlosigkeit, die er empfand, schwang in seiner Stimme mit.
»Alles, was wichtig ist«, sagte Miguel. »Das, worauf es im Leben ankommt.«
Nicolau sah ihn weiter unbeirrt an. Dabei bildete sich zwischen seinen Augenbrauen eine Falte, und Miguel konnte beobachten, wie er anschließend auch noch die Stirn runzelte, ehe sich seine Pupillen plötzlich verengten.
Für den alten, lebenserfahrenen Mann war es nicht schwer, den Augenblick zu erkennen, in dem Nicolau den Sinn hinter den Worten begriff, denn seine Augenlider zuckten ein wenig, ehe der Blick wie von selbst ins Leere ging, um sich an irgendeinem Punkt in der Ferne zu verlieren.
Kurz blitzte etwas wie Schmerz in den dunklen Augen auf, verwandelte sich gleich darauf wieder in den beinahe melancholischen Ausdruck, der Nicolau seit Jahren schon zu eigen war und den man, wenn man ihn nicht so gut kannte, wie Miguel es tat, leicht für eine gewisse Schwerfälligkeit hätte halten können.
Dennoch ging Nicolaus Atem jetzt ein wenig schneller, und die Hand, mit der er sich in das volle schwarze Haar fasste, zitterte.
Einmal mehr stellte Miguel fest, wie ähnlich ihm sein Großneffe war. Genau so hatte er selbst im Alter von achtundzwanzig Jahren ausgesehen: groß gewachsen, mit ebenmäßigen Zügen und einer olivfarbenen straffen Haut – kräftig von Statur, ohne füllig zu sein, mit Muskeln, die von der Arbeit auf dem Land gestählt waren.
Selbst im Charakter waren sie einander ähnlich. Obwohl beide kein Problem damit hatten, sich überall durchzusetzen, waren sie doch empfindsam.
Wie Miguel war Nicolau ein sanfter Mann, und so manche Frau hätte ihn gerne für längere Zeit – wenn nicht gar für immer – behalten, obwohl er stets betonte, an keiner dauerhaften Beziehung interessiert zu sein.
Die Hände in die Hosentaschen vergraben, stand Nicolau jetzt auf und gab vor, der aufgehenden Sonne noch ein wenig zusehen zu wollen.
Längere Zeit sprachen sie beide nichts und Miguel widmete sich seinem Kaffee.
Bis zu dem Moment, als es hupte, und ein rotes Auto inmitten einer Wolke aus staubiger Erde über den Zufahrtsweg bis vor die Terrasse rollte.
Während Nicolau gebannt auf den Wagen starrte, lächelte Miguel still vor sich hin.
Die Tür auf der Fahrerseite öffnete sich, und ein Paar Frauenbeine tauchte auf, in flachen Sandalen mit langen Riemchen, die einander überkreuzend um die gazellenschlanken Fesseln und ebenso schlanken Waden gebunden waren.
Nicolau nahm die Hände aus den Hosentaschen, während er beobachtete, wie den Sandalen zunächst der gerüschte Saum eines weißen Kleides folgte, in dem – wie man gleich darauf zu sehen bekam – der vollendete Körper einer jungen Frau steckte, die sich gerade überaus elegant aus dem winzigen Auto schälte.
Ihre blonden Haare, scheinbar achtlos zu einem Pferdeschwanz gebunden, reichten ihr fast bis zur Hüfte und glänzten wie Gold in der Sonne.
Das Gesicht, so ebenmäßig, dass man es anstarren musste, wurde von dem hellen Augenpaar noch überstrahlt, das mit dem kirschroten Mund um die Wette lachte.
»Miguel«, rief sie. Ihre weißen Zähne blitzten, während sie eine riesengroße achteckige Schachtel balancierte, »Feliz cumple y Molts d’Anys!«
Sie kam die Stufen heraufgestürmt, drückte Nicolau – an dem sie ohne innezuhalten vorbeilief – die Schachtel in die Hände, stürzte auf Miguel zu und warf sich in dessen Arme.
»Alles Gute zum Geburtstag«, redete sie übergangslos weiter, »ich bin so glücklich, dass ich heute bei dir sein kann. Du bist der liebste und beste Mann in meinem ganzen Leben. Und ich wünsche mir, dass du noch viele Jahre in Gesundheit mit uns hier verbringen kannst.«

Im Kindle-Shop: Wer Mondstaub sieht

Mehr über und von Eva-Maria Farohi auf ihrer Website.

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