22. Februar 2019

'Unvollendet' von Christine Jaeggi

Kindle | Tolino | Taschenbuch
Über den Traum von Hollywood, die Vergangenheit einer Schauspielerin und ein dunkles Familiengeheimnis

Die 29-jährige Grace träumt von ihrem Durchbruch als Filmschauspielerin. Bisher stand sie jedoch stets im Schatten ihrer verstorbenen Großmutter, der Hollywood-Legende Hanna Miller. Nun scheint sich ihr Schicksal zu wenden: Hollywoods größter Filmproduzent hat herausgefunden, dass eine Fortsetzung des weltberühmten Romans Unvollendet existiert, mit dessen Verfilmung ihre Großmutter bekannt wurde.

Grace soll die Hauptrolle in dem neuen Film spielen, doch leider ist das Manuskript verschollen. Die junge Schauspielerin macht sich auf die Suche und reist nach Zürich, zu dem Hotel, in dem Hanna Miller während des 2. Weltkriegs lebte. Dort trifft sie auf den charmanten Benjamin, der ihr Herz höher schlagen lässt. Nach und nach kommt Grace jedoch nicht nur dem Geheimnis ihrer Großmutter, sondern auch dem von Benjamin auf die Spur.

Leseprobe:
Zürich
Samstag, 29. August 2015


Leonie, wo bist du?
Benjamin bemerkte, dass die Anwesenden allmählich unruhig wurden. Im Minutentakt drehten sie ihre Köpfe Richtung Tür, schauten auf die Uhr und wechselten fragende Blicke miteinander. Flüsterlaute gingen durch die Menge, Kinder zappelten auf den Bänken, ein Baby schrie. Selbst der Pfarrer wirkte nicht mehr so gelassen wie noch vor zwanzig Minuten und schob wiederholt das Rosengesteck auf dem Altar hin und her. Benjamin stand neben ihm und betrachtete das hochgewölbte, gotische Querschiff der Kirche, dessen Orgel wie eine Krone über dem Eingangsbereich thronte. Die Organistin wartete geduldig, bis sie Pachelbels Kanon in D-Dur zum Auftritt der Braut spielen konnte. Beim Eingang standen bereits zwei Fotografen, um die Szene mit ihren Kameras festzuhalten.
Alle waren bereit. Nur Leonie, die Braut, fehlte.
Zu Beginn hatte Benjamins Trauzeuge Mark noch Witze gerissen und ihn gefragt, was er machen würde, wenn Leonie nicht käme. Inzwischen hing er verzweifelt am Handy und versuchte seit Minuten vergeblich, Leonie und ihre Schwestern zu erreichen.
»Geht niemand ran«, zischte er ihm zu. »Wo sind die nur? Das Fotoshooting sollte längst vorbei sein.«
Benjamin nickte. Leonie hatte sich nach dem Friseurtermin zusammen mit ihrer Mutter und ihren Schwestern im Hotel fotografieren lassen, und um vierzehn Uhr wollten sie in der Kirche sein. Aber da Pünktlichkeit noch nie Leonies Stärke gewesen war, ließ sich Benjamin von der Unruhe der anderen nicht anstecken. Er fühlte sich ohnehin schon wie ein nervöses Wrack; sein Herz schlug von Minute zu Minute schneller, und seine Beine zitterten leicht. Dabei war er sonst nie aufgeregt, im Gegenteil. Seine Mitarbeiter im Hotel betonten stets, er sei die Ruhe in Person.
Er spähte wieder zur Eingangstür, die sich jeden Moment öffnen konnte. Leonie würde in Begleitung ihrer Mutter und Schwestern zum Altar schreiten, da ihr Vater nicht mehr lebte.
Was sie wohl für ein Kleid trägt?
Eigentlich spielte es keine Rolle. Mit ihrem dunkelbraunen Haar, der hellen Haut und den blauen Augen sah sie sowieso aus wie eine Prinzessin. Sein Schneewittchen.
Und er? Der Prinz? Er sah an sich herab: schwarzer Smoking, schwarze Fliege, weißes Hemd, cremefarbene Ansteckrose. Amüsiert dachte er an die Worte des Schneiders, als er damals den Stoff ausgesucht hatte. Der hatte gemeint, das Schwarz würde sein kastanienbraunes Haar und seine dunklen Augen besonders gut zur Geltung bringen. Wahrscheinlich sagte er das zu allen Kunden, unabhängig von deren Haar- und Augenfarbe.
Plötzlich fasste Mark ihn am Arm. »Vielleicht ist etwas passiert! Ein Autounfall!«
»Ach was, sie stecken vermutlich bloß im Verkehr fest. Du weißt ja, wie es an Samstagen in der Stadt ist.«
Mark ließ sich durch die Antwort nicht beruhigen und fuchtelte wild mit den Händen herum. Auf seiner Stirn hatten sich kleine Schweißperlen gebildet. »Aber sie hätten wenigstens mal anrufen können!«
Benjamin schmunzelte. Sollte der Trauzeuge nicht eigentlich Ruhe bewahren? »Sie werden bestimmt bald hier sein.«
Er ließ den Blick über die Menge schweifen; von seinen ehemaligen Studienfreunden bis hin zu Leonies dementem Großvater Oskar, der abwesend ins Leere starrte – alle waren hier. Knapp hundertsechzig Gäste. Kannten sie wirklich so viele Leute?
»Ben!«, rief seine Tante aus der vordersten Bankreihe und erhob sich. In ihrem pinken Etuikleid mit passendem Hütchen auf dem dunkel gefärbten Haar wirkte sie ein wenig verkleidet. »Was ist eigentlich los? Wo ist Leonie?«
Unzählige Augenpaare richteten sich jetzt auf ihn. Er hob bloß die Schultern und zog sein Handy hervor. »Ich rufe im Hotel an. Vielleicht wissen die mehr.«
Als sich auch nach mehrmaligem Klingeln niemand meldete, starrte er verwundert auf das Display, um sich zu vergewissern, dass er die richtige Nummer gewählt hatte. »Eigenartig. Im Hotel geht auch niemand ran.«
»Ben! Mara ruft zurück! Endlich!« Mark zeigte auf sein Handy, als wäre es aus Gold. »Hey Mara, hat Leonie etwa Panik bekommen und – …« Er verstummte plötzlich und hörte zu. Der amüsierte Ausdruck auf seinem Gesicht erstarb und er schloss die Augen.
»Was ist?« Benjamin schaute seinen Freund entgeistert an. In einem solchen Zustand hatte er ihn noch nie erlebt. »Ist etwas passiert? Komm, gib mir das Handy.« Ehe er nach dem Telefon griff, blickte er nochmals zur Kirchentür. Doch er ahnte, dass Leonie nicht mehr kommen würde.

Im Kindle-Shop: Unvollendet: Roman.
Für Tolino: Buch bei Thalia
Mehr über und von Christine Jaeggi auf ihrer Website.

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