1. März 2019

'Waffenkinder' von Elsa Bergh

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Der neunjährige Benjamin verschwindet spurlos aus dem Park einer exklusiven Schweizer Privatschule.
In Südfrankreich löst sich die zehnjährige Caroline vor dem Haus ihrer Großeltern in Luft auf.

Die Verbindung zwischen den Entführungen wird schnell klar: Beide Kinder haben Familienmitglieder, die in hohen Positionen für die Leonberg-Werke arbeiten – eines der größten Unternehmen der deutschen Rüstungsindustrie. Die Entführer wollen kein Lösegeld, sondern die sofortige Annullierung aller Waffenlieferungen in die heißesten Krisengebiete der Welt.

Der Privatermittler Werner Steger wird mit der Suche nach den Kindern betraut, doch die Jagd auf die gefährlichen Unbekannten wird zum Hürdenlauf. Für Steger und sein Team beginnt ein Wettrennen gegen die Zeit und quer durch Europa, bei dem es gilt, Interpol und BKA zu täuschen, wütende Kunden in Afrika und im mittleren Osten zu beschwichtigen und sich einem skrupellosen Gegner zu stellen, der zu allem bereit und fähig scheint …

Leseprobe:
BENJAMIN
Er wurde geschüttelt und gerüttelt wie ein Eiswürfel in einem Cocktailshaker. Zumindest kam es ihm so vor, als er aufwachte. Die Schädeldecke stieß immer wieder heftig an eine Wand. Egal, worauf er lag, es war keine Matratze, sondern steinhart. Sein Körper schien unbeweglich, wie gelähmt, Arme und Beine. Er konnte nichts erkennen, absolute Dunkelheit umgab ihn. Oder hatte er die Sehkraft verloren? Verzweiflung überkam ihn. Wie kam er nur hierher?
Plötzlich flog er unsanft einige Zentimeter hoch, schlug mit der Nase gegen eine harte Oberfläche. Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen. Die drängte er zurück, denn Männer weinen nicht. Reflexartig wollte er das schmerzende Gesicht abtasten, aber die Hände, die er endlich wieder fühlte, kribbelten unangenehm. Lähmung ausgeschlossen, überlegte er nahezu erfreut, trotz des Ziehens in den Gliedmaßen. Doch die eng gefesselten Handgelenke, Knöchel und Knie machten ihn panisch.
Benjamin hatte das Gefühl, dass das Blut keinen Weg durch Adern und Arterien fand, sein Schädel schien zu zerspringen. Bis auf ein paar blaue Flecken, Schürfwunden und eine rinnende Nase kannte er weder Schmerzen noch Kinderkrankheiten. Die andauernden Schläge des Kopfes gegen die Wand verursachten Übelkeit. Atemluft fehlte. Es roch wie an einer Tankstelle, nach Benzin. Endlich weiß ich, wo ich bin, dachte er. Im Kofferraum eines fahrenden Autos!
Sein Blick versuchte erneut die Dunkelheit zu durchdringen, doch es war sinnlos. Jetzt traten ihm Tränen in die Augen. Benjamin hatte Angst. Egal, was andere denken konnten, er musste nicht den Starken spielen, niemand sah ihn. Vor allem Jens und die Bande, allesamt durch die Bank kräftiger und älter als er – und weit weg. Obwohl Erwachsene meinten, dass er für neun Jahre sehr groß sei, machte er sich aus dem Staub, sobald sie auftauchten. Doch was hätte er jetzt um ihre Nähe gegeben!

CAROLINE
Ihre Augen waren von einer Gesichtsmaske bedeckt, ähnlich der, mit der ihre Mutter schlief. Der Mundknebel trocknete ihre Kehle aus. Es kam ihr vor, als würde er stetig an Größe zunehmen. Sie hatte eine Riesenangst, zu ersticken, und atmete deshalb zunehmend rascher durch die Nase. Hin und wieder kam ein unangenehm nach Schweiß riechender Typ, lockerte unwirsch das Tuch vor ihrem Mund, entfernte den Knebel und forderte sie auf zu trinken. Dazu schob er ihr mit Gewalt einen Strohhalm zwischen die Lippen – ob sie wollte oder nicht. Das dickflüssige Getränk schmeckte schokoladig und bitter zugleich. Sobald sie trank, verflog der Hunger, doch sie schlief sofort ein.
Caroline wachte auf, als ihr ein maskierter Mann behutsam die Binde von den Augen nahm, bevor er sie in das Zimmer schob. Endlich konnte sie sich frei bewegen, ohne enge Plastikfesseln an Armen und Beinen. Man hatte ihr die abgeschundenen und leicht blutenden Handgelenke mit einer Salbe bestrichen und verbunden. Jetzt war der Schmerz erträglicher.
Ihr Blick streifte vorsichtig durch den halbdunklen Raum, über die saubere, in Plastik verpackte Matratze, auf der ein Plaid und ein Kissen lagen. An der gegenüberliegenden Wand hing ein Waschbecken, daneben, auf dem blanken Steinboden, stand ein abgesplitterter Holzsessel. Darauf ein Handtuch, eine Seife, eine Bürste und eine Klopapierrolle. Ein orangefarbener Raumteiler trennte eine kleine Kabine ab. Wie in der Schule, überlegte das Mädchen, da ist sicher ein Klo dahinter. Doch es roch wie in einem Wald mit Pinien im Sommer. Sie sah zwar keinen Heizkörper, jedoch zwei dicke Rohre unterhalb der Decke. Für das Heißwasser, dachte sie, und sie wärmen das Zimmer. Das Licht drang spärlich durch ein längliches, weit oben in der Wand eingelassenes Fenster. Das Glas wurde außen von einem Gitter geschützt. Selbst wenn sie auf den Sessel stieg, konnte sie nicht hinaussehen, bestenfalls nur Tag und Nacht unterscheiden. Der Lichtschalter neben der Tür funktionierte, entzündete die Neonleuchte an der Zimmerdecke.
Alles in allem hatte diese Unterbringung etwas Komfort. Caroline verzog ihr Gesicht zu einem Lächeln, dem ersten, seitdem man sie aus ihrem normalen Leben gerissen hatte. Sie erinnerte sich, dass es soeben zu regnen begonnen hatte. Für den Weg zwischen dem Haus Annes und dem von Mamie und Papy, ihren Großeltern, musste sie nur an zwei Gärten vorbei. Das Gewitter kam näher. Sie beschleunigte den Schritt, wollte den Hauseingang noch halbwegs trocken erreichen. In Gedanken war sie bereits beim Abendessen, freute sich auf die Lasagne. Plötzlich packte sie jemand von hinten, drückte ein übel riechendes Tuch auf ihren Mund und die Beine sackten unter ihrem Körper weg. Das war ihre letzte Erinnerung an den Nachmittag, als noch alles in Ordnung war, denn als sie wieder aufwachte, lag sie mit verbundenen Augen auf dem kalten Boden des ersten Gefängnisses.
Sie wusste nicht, wie oft sie von einem Ort zu einem anderen gebracht worden war, einmal im Kofferraum einer Limousine, dann im rückwärtigen Teil eines Lieferwagens. Im Transporter konnte sie auf einer harten Bank sitzen. Das war bequemer als im dunklen, engen Stauraum eines Autos. Auch besser als in dem feuchten Raum mit Steinboden, in dem es nach Schimmel gerochen hatte.
Immer wieder hatte man sie betäubt mit dem Milchgetränk oder dem Wasser, das man ihr gab. Wann hatte sie zuletzt etwas gegessen? Wenn sie aufwachte, so mit verbundenen Augen. Caroline hatte keine Ahnung, wie viel Zeit seit Freitagnachmittag vergangen war und weshalb man sie ständig woanders hinbrachte.
Wo bin ich? Warum hört dieser Albtraum nicht auf? Sie rollte sich wie ein Kätzchen auf der himmelblauen Matratze zusammen und schloss die Lider. Langsam kullerten Tränen über ihre Wangen. Sie dachte mit Sehnsucht an Bruno, ihren Teddy, den sie im Bett stets fest an sich drückte. An einigen Stellen fehlte ihm sein braunes Fell, doch sie liebte ihn so wie damals, als er auf dem Gabentisch gelegen hatte. Das war vor langer Zeit, zu ihrem fünften Geburtstag, als sie klein war und noch gemeinsam mit ihren Eltern in einem Haus lebte. Jetzt war sie doppelt so alt.

Der erste Tag
Das Palais der Familie Leonberg an der Wiener Ringstraße war nur einer der Prachtbauten, die der weltberühmte dänische Architekt Theophil Hansen seiner österreichischen Wahlheimat überlassen hatte. Doch so beeindruckend das Palais auf all diejenigen wirkte, die eine Einladung zu einem der raren Empfänge erhielten, Ludwig Leonberg ertrug es nicht.
Die hohen Räume im Untergeschoss waren seit mehr als einem Jahrhundert mit den Originalmöbeln eingerichtet, spiegelten den griechischen Einfluss des Erbauers wider. Der Hausherr war jedoch nach eigener Aussage ein typischer Landmensch, der Wiesen und Wälder zum Leben brauchte wie Fische das Wasser. Daher lebte er, sobald er in Wien war, nur im zweiten Stock, überließ das Erdgeschoss den repräsentativen Zwecken, die seine soziale Position zeitweilig erforderten.
Ludwig Leonberg saß in seinem ledernen Drehsessel am modernen, schlichten Schreibtisch und starrte gedankenverloren auf den Screensaver seines Computers. Seifenblasen bewegten sich unhörbar quer über den Bildschirm, kamen von irgendwo und verschwanden nach nirgendwo. Immer noch hielt er sein Smartphone auf Kopfhöhe, obwohl der Anrufer längst aufgelegt hatte.
Es hatte um 19:10 geläutet. Urs Egli, der Direktor der elitären Schweizer Privatschule, hatte ihm mitgeteilt, dass Benjamin unauffindbar war. Sein geliebter Enkel, der seiner verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, hatte sich in Luft aufgelöst. Er hatte den Jungen mit sechs Jahren in das Swiss-Institut bei Luzern eingeschrieben, wo er die bestmögliche internationale Ausbildung erhalten konnte. Zudem wurden die Sprösslinge reicher Familien aus aller Welt in der alpinen Abgeschiedenheit rund um die Uhr von militärisch geschultem Personal bewacht. Er selbst hatte sich damals vor Ort von den angepriesenen Sicherheitsmaßnahmen des Instituts überzeugt.
Seine Vorfahren verdankten ihr Vermögen der Fertigung von Waffen, vor allem Jagdgewehren. Heute produzierten die Düsseldorfer Leonberg-Werke hochtechnologische Waffen und weitere Güter, die für den friedlichen Gebrauch wie in bewaffneten Konflikten benötigt wurden. Ebenfalls weltweit bekannt waren die beiden Münchner Firmen, die Leonberg-IT-Solutions und die Leonberg-Security, die er gegründet hatte. Ludwig war davon überzeugt gewesen, für seinen Enkel mit dem Swiss-Institut die beste Wahl getroffen zu haben – auch sicherheitstechnisch. Aber jetzt war er verschwunden.
Egli hatte beruhigend auf ihn eingeredet, die Sachlage klar beschrieben. Benjamin war um sechs Uhr nicht zum Abendessen erschienen. Einige Kameraden hatten den Jungen zuletzt am Ende des Basketballtrainings in der Garderobe der Sporthalle gesehen. Da war es kurz nach fünf. Dies wurde auch vom Coach bestätigt, der noch mit älteren Schülern in der Halle trainierte. Benjamin war der Letzte seiner Gruppe gewesen, was dem Charakter und den Gewohnheiten des verschlossenen Jungen entsprach.
Als der Schüler um sieben Uhr unauffindbar war, hatte man es vorgezogen, den Großvater zu verständigen. Das Schul- und Sicherheitspersonal hatte sämtliche Gebäude auf dem Areal bis in den letzten Winkel durchsucht, Geräteschuppen und Garagen inklusive, und Suchmannschaften mit Hunden ausgeschickt. Es galt, knapp neunzig Hektar an Wiesen und Wäldern zu durchforsten, den Fluss in der Klamm beiderseits zu kontrollieren und jede Felsspalte des weitläufigen Klettergartens abzusuchen. Man musste davon ausgehen, dass der Junge irgendwo abgerutscht oder gefallen war und sich verletzt hatte. Allerdings war dies sicher nicht auf dem Weg von der Sporthalle zum Wohngebäude geschehen, da dieser gut ausgeleuchtet und kaum zweihundert Meter lang war.
Leonbergs Gedanken wurden abrupt unterbrochen.
Werner Steger stieß die halb geöffnete Tür mit einem Fuß auf und trat mit ihrem kalten Abendessen ein.
»Ungarische Salami, Peperoni und Liptauer, mein Lieber«, meinte er lachend, stellte das Tablett ab und sah auf. Ein Blick auf Ludwigs Gesichtsausdruck reichte aus, um sein Lächeln verschwinden zu lassen. »Was ist passiert?«
»Benjamin ist verschwunden.«

In den letzten fünfzehn Jahren hatte sich zwischen ihnen anfangs ein freundschaftliches, später ein fast brüderliches Verhältnis entwickelt. Wie jeden Abend setzte sich Werner ihm gegenüber an den Schreibtisch und griff nach einem Sandwich. Gedankenverloren tat es ihm der Unternehmer gleich, biss in das Brot und räusperte sich. Mit wenigen Worten berichtete er von dem Anruf, der kaum fünf Minuten zurücklag, und fragte seinen Vertrauten, wie er vorgehen sollte.
Ludwig Leonberg hatte Steger direkt vom KSK, dem Kommando Spezialkräfte der deutschen Bundeswehr, abgeworben. Der damals erst Dreiunddreißigjährige war bereits eine Legende der militärischen Spezialeinheit und sehnte sich nach einer neuen Herausforderung. Kurzerhand hatte er die Stelle des Sicherheitsverantwortlichen für den Leonbergschen Privatbesitz übernommen, Familienangehörige inklusive.
Damals war Ludwig achtunddreißig und alleinerziehender Vater eines pubertierenden Teenagers. Seine Frau war bei der Geburt ihrer Tochter Susanne an den Folgen eines Blutsturzes gestorben und hatte ihn mit fünfundzwanzig zum Witwer gemacht. Wenige Jahre darauf erlitt sein Vater auf dem Flug von Wien nach München am Steuer seiner Cessna einen Infarkt. Die kleine Maschine fiel führerlos vom Himmel wie ein Stein, erzählten die befragten Augenzeugen. Auf einen Schlag verlor der geschwisterlose Ludwig auch die Eltern, trug plötzlich die Alleinverantwortung für seine kleine Tochter und das Firmenimperium.
Susanne war ein Ausbund an Fröhlichkeit und Energie. Ihr am stärksten ausgeprägter Charakterzug war ihr Eigensinn. Kurz gesagt: Sie war dickköpfig und hatte das Interesse für Technik von ihren Vorfahren geerbt. Nach dem Abitur wählte sie das MIT in Cambridge. Es bestand kein Zweifel, dass sie eines Tages die Leonberg-Werke leiten würde. Nur zehn Monate nach Studienbeginn war sie überraschend heimgekehrt mit einem Bauch, der die fortgeschrittene Schwangerschaft nicht nur erahnen ließ. Susanne war neunzehneinhalb, als Benjamin zur Welt kam. Stur, wie sie schon immer gewesen war, weigerte sie sich, den Namen des Kindsvaters preiszugeben. Werner und Ludwig liebten den Kleinen vom ersten Augenblick an und verbrachten all ihre freie Zeit mit dem Kind, wenn sie daheim waren.
Kurz nach der Geburt ihres Sohnes immatrikulierte Susanne an der Technischen Universität München, teilte fortan ihre Zeit zwischen Benjamin und dem Studium. Diskotheken und Feste interessierten sie ebenso wenig wie Männer. Am Abend nach der letzten Prüfung vor dem Staatsexamen fuhr sie mit einem Jugendfreund, der in der Nachbarschaft wohnte, von München heim nach Starnberg. Der Student wollte einem Reh ausweichen, das die Fahrbahn querte, und knallte mit dem Wagen frontal an einen Baum. Beide Fahrzeuginsassen waren auf der Stelle tot.
Ludwig und Werner, die den kleinen Jungen vergötterten, übernahmen in ihrem großen Schmerz die Erziehungsfunktion als Ersatzeltern. Das hatte sich bis zum heutigen Tag nicht geändert – und jetzt war ihr Kind verschwunden.

»Pack deine Tasche, wir fliegen in die Schweiz«, entschied Werner Steger, der ihm zugehört hatte, ohne ihn zu unterbrechen. Dann griff er zum Haustelefon und sprach kurz mit den Piloten, die in einem der Personalzimmer im letzten Stockwerk des Palais Leonberg untergebracht waren. Zwei Stunden später saßen sie einander im Passagierraum des Firmenjets gegenüber. Der Pilot teilte ihnen die Freigabe des Starts mit. Ludwig beendete das Gespräch mit der Schule, wo die Suche nach Benjamin weiterging. Urs Egli erwartete sie, egal, zu welcher Uhrzeit, Zimmer im Gästehaus des Swiss-Instituts standen bereit.
Sie flogen nach Zürich. »Auf dem großen internationalen Flughafen sollte die Ankunft des Leonberg-Firmenjets weniger Beachtung finden als in Luzern«, hatte Werner gemeint. Er sprach es nicht aus, aber ihnen war beiden klar, was das spurlose Verschwinden Benjamins, des zukünftigen Erben eines der größten deutschen Rüstungsunternehmen, bedeuten konnte.
Um 23:46 Uhr setzte der Bombardier Learjet 60 XR auf und rollte von der Landebahn zur Parking Position, wo ein Mercedes 500 der S-Klasse mit Chauffeur wartete. Einreiseformalitäten und die Zollabfertigung erledigte ein freundlicher Mitarbeiter des Flughafens Kloten direkt auf der Piste. Kopien der Dokumente Leonbergs, Stegers und des Flugzeugs lagen hier seit Jahren vor, ebenso wie in anderen Destinationen, die sie regelmäßig anflogen. Kurz vor Mitternacht verließ die Limousine den Flughafenbereich in Richtung Luzern.

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