20. November 2019

'Das geheime Kapitel' von Mara Winter

Kindle (unlimited) | Taschenbuch
pinguletta Verlag
Was wäre, wenn jemand versuchen würde, dir dein Leben zu stehlen?
Wenn eine Fremde es auf dein Zuhause und deinen Ehemann abgesehen hätte?
Und wenn du plötzlich Zugang zu einem verbotenen Buch mit Zaubersprüchen bekämst … würdest du sie einsetzen?

Als Anna am Tiefpunkt ihres Lebens ein geheimnisvolles Buch mit Zaubersprüchen auf dem Dachboden findet, rechnet sie mit vielem, aber nicht mit einem Mord in ihrem eigenen Heim. Und damit fängt der Albtraum erst an ...

Leseprobe:
2008
Der alte Mann stöhnte.
»Martha! Wo ist Martha?«
»Ach, Vater. Hast du es schon wieder vergessen? Sie ist gestorben.«
»Nein!« Der Mann schrie auf und wimmerte. Sein erwachsenes Kind rückte ihm die Decke zurecht und sah ihn bedauernd an. »Nun beruhige dich doch. Es ist schon dreißig Jahre her.«
»Meine Martha ist tot?«
»Jeden Tag dasselbe. Es ist nicht mehr auszuhalten mit dir. Uns fehlt sie auch, hörst du? Uns auch. Ruh dich aus, ich gebe dir noch etwas von deinem Schlafmittel.«
Der Greis starrte an die Decke. »Ihr habt sie in den Tod getrieben.«
»Sei still, Vater. Sie hat sich selbst umgebracht, das weißt du genau. Wir ertragen all deine Launen seit Jahren! Lass mich jetzt in Ruhe! Es ist spät und ich will ins Bett.«
»Nein!«, heulte er auf. »Verlass mich jetzt nicht! Bleib bei mir, ich bin krank!«
»Du bist nicht krank, du bist nur alt und nutzlos. Ich ertrage dich nicht mehr. Du hast mir alle Kraft ausgesaugt! Du ruinierst mich! Ich hasse dich!«
Er wollte widersprechen, doch das Kissen lag plötzlich schwer auf seinem Gesicht. Er bäumte sich auf und wollte schreien, doch der kratzige Stoff wurde immer stärker auf seinen Kopf gepresst und verschloss ihm Mund und Nase. Hilflos fuchtelte er mit den Armen in der Luft und versuchte, seinen Angreifer zu packen, doch der war stärker.
»Gleich ist es vorbei«, sagte sein Kind, nun mit einer sanften, geduldigen Stimme. »Gleich ist alles vorbei.«

Kapitel Eins. Silke
Ich habe die Zeichen immer gesehen, aber niemand hat mir geglaubt. Am Abend, als Vater starb, saß ein Schwarm Krähen im Baum vor unserem Haus. Sie schlugen mit den Flügeln und krächzten in einer düsteren Sprache, die offensichtlich Unheil verkündete. Mein Bruder Heiner lachte, als ich ihn zum Fenster rief.
»Rabenbraten, zum Greifen nahe. Da hol ich gleich das Schrotgewehr!«
Ich war als einzige nicht überrascht, als der Anruf kam und wir ins Krankenhaus gerufen wurden. Vater starb in derselben Nacht und wir verloren das Haus innerhalb eines Monats. Seitdem mag ich keine Raben mehr leiden.
Heiner machte deutlich, dass ihn Vaters Tod kaltließ. »Er war ja nur mein Stiefvater!«, sagte er auf der Beerdigung, als Frau Izmelda ihm kondolierte. Anstatt Mama und mir zu helfen, nahm er sich eine eigene Wohnung und kam nur noch vorbei, um mich zu kritisieren und zu erziehen. Er zwang mich, meine Kristalle fortzuwerfen und mich ausschließlich auf die Schule zu konzentrieren. »Du brauchst einen guten Abschluss, sonst kommt ihr nie aus diesem Ghetto raus!« Es machte mich wütend, dass mein Halbbruder unsere Hochhaussiedlung als Ghetto bezeichnete, obwohl sie eng und düster war und ich sie hasste. Aber Heiner musste nicht hier leben, wo es blühende Gärten nur im Fernsehen zu sehen gab.
»Wenn ich die Ausbildung fertig habe und Makler bin, dann suche ich euch eine bessere Wohnung«, versprach er mir zum neunten Geburtstag, was er jedoch nie einhielt.

Ich vermisste Papa glühend, der stets lustig und zuversichtlich gewesen war. Auch unser Haus fehlte mir und vor allem der Garten mit dem Flieder und den Himbeerbüschen. Ich hatte jedes Fleckchen gekannt, wusste, wann die Sträucher blühten und welche Pflanzen giftig waren. Mit Papas Tod hatte ich nicht nur meine einzige Bezugsperson, sondern auch mein Zuhause verloren. Ich wünschte mir eine Schwester oder wenigstens eine Freundin. Alles, was ich hatte, waren ein strenger, grausamer Bruder und eine weinerliche, leidende Mutter, die niemals selbst etwas in die Hand nahm, sondern jammernd vor sich hinwelkte. Bis dann Vera in meine Klasse kam, mager und blass, wohnhaft im Kinderheim. Genau wie ich fand sie keinen Anschluss, und in unserem Elend taten wir uns zusammen. Sie beschrieb mir das Heim als einen Ort mit regelmäßigen Mahlzeiten, frischer Wäsche und sogar einem Waldstück zum Spielen. Das klang besser als das Leben mit meiner Mutter, die sich aufgegeben hatte. Wahrscheinlich hätte sie einen Job finden und uns aus der modernden Sozialwohnung herausschaffen können, doch sie hatte resigniert, nahm Tabletten und schlief die Tage durch. Ob ich pünktlich zur Schule ging, war ihr gleichgültig.
Ohne unsere Nachbarin, Frau Izmelda, wäre ich verloren gewesen. In ihrem düsteren Wohnzimmer brachte sie mir bei, Tarotkarten zu legen. »Auf dich wartet etwas Großes, Mädchen. Sei zur rechten Zeit am rechten Ort und wachsam, dann kann es dir nicht entgehen. Sei vorsichtig, dass du nicht die falsche Abzweigung nimmst, sonst landest du im Verderben.«
Ich grübelte darüber nach, was das Große sein mochte, aber meinen größten Wunsch, Papa und mein Zuhause zurückzubekommen, konnte mir niemand erfüllen.
Täglich putzte Izmelda zehn Stunden, um die Schulden ihres Mannes zu bezahlen, der sie ohne Nachricht verlassen hatte. Außer für Tabak blieb ihr kein Cent für Vergnügliches. »Geld müsste man haben, Mädchen, mit Geld kannst du dir alles kaufen. Einen schönen Ausblick vom Balkon, Massagen für die müden Beine, Fußbodenheizung im Bad, frisches Obst und Glückspillen für den Kopf.« Ihre Durchblutung funktionierte nicht richtig, sie hatte Schmerzen in den Beinen und Lymphödeme. »Du bist jung und hübsch, versprich mir, dass du etwas aus dir machst! Wirf dich nicht irgendeinem Tölpel an den Hals, such dir einen Mann mit Geld. Die Liebe vergeht, dann ist die Hauptsache, dass die Kasse stimmt.«

Ich besaß ein einziges Märchenbuch, voller faszinierender Geschichten. Abends im Bett, wenn das Licht ausgeknipst war, spann ich die Geschichten im Kopf weiter. Dort trafen sich all meine Lieblingsgestalten im Garten des glücklichen Riesen und feierten gemeinsam ein Fest. Frau Izmelda saß in der Mitte, wurde von der Goldmarie bekocht und von Zwerg Nase bedient. Der Kronprinz sang lustige Lieder und spielte dazu auf der Laute, während die liebe Großmutter den feinsten Brotteig knetete.

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