21. April 2020

'Im Glashaus gefangen zwischen Welten' von Devakumaran Manickavasagan

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Das Glashaus erläutert die Folgen, die bei der Erziehung von Kindern festzustellen sind, wenn sie zwischen zwei Kulturen aufwachsen. Es ist ein Thema, das seit Jahren in der Politik aktuell ist und auch innerhalb von Gesellschaftskreisen diskutiert wird. Zugleich soll dieses Werk neben betroffenen Jugendlichen auch die deutsche Gesellschaft erreichen. In den Nachrichten erfährt man lediglich das Resultat eines hinter verschlossenen Türen ablaufenden Prozesses. Einen Blick hinter die Kulissen ermöglichen die nachfolgenden Betrachtungen, aus denen bestimmte Aspekte auch auf andere Kulturen übertragen werden können. Eine Reise in die Gedanken- und Gefühlswelt von heranwachsenden Kindern- und Jugendlichen.

Der Autor Devakumaran Manickavasagan (Deva Manick) wurde 1987 in Ratingen geboren. Seit über 10 Jahren beschäftigte er sich mit dem Wandel verschiedener Kulturen in Deutschland. Dies gelang ihm durch den Austausch mit betroffenen Menschen, begleitet von zahlreichen Beobachtungen und persönlichen Erfahrungen mit dem Leben zwischen zwei Kulturen. Während der Flüchtlingskrise, die Deutschland im Jahre 2015 heimsuchte, konnte er als Betreuer und später Leiter einer Notunterkunft mit seiner tatkräftigen Unterstützung einen Beitrag für die neu angekommenen Menschen in Deutschland leisten. Der Autor war lange Jahre im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit aktiv, um seine Forschungen und Beobachtungen, die er persönlich im Glashaus gemacht hat, zu widerlegen.

Leseprobe:
Wer bin ich wirklich?
Wer bin ich wirklich? Diese Frage stellen sich manche Jugendliche und vermuten, die Antwort während ihres Wandelns zwischen den kulturellen Welten zu finden. Die wirkliche Antwort müssen sie jedoch direkt vor ihren Augen suchen, nämlich bei sich selbst!
Wie ich bereits erläutert habe, befindet sich das Individuum eines tamilischen Kindes in den Fesseln der Kultur beziehungsweise der Gesellschaft. Durch diese Gefangenschaft gelingt es dem Kind nicht, sich selbst zu finden, da es die meiste Zeit gedanklich damit beschäftigt ist, wie es der Kultur gegenüber gerecht werden kann. Sei es durch die Teilnahme an Feierlichkeiten, die Erfüllung bestimmter familiärer Pflichten, die Übernahme der Verantwortung für jüngere Geschwister oder die Erreichung eines bestimmten Berufsstandes, mit dem der junge Mensch den Namen seiner Familie in ein gutes Licht rückt. Dass dadurch das eigene Leben vernachlässigt wird, bemerken viele erst, wenn sie von den Fesseln befreit sind. Dies kann zum Beispiel durch einen Auszug aus dem Elternhaus geschehen.
Ich vermute, dass an dieser Stelle einige Leser darüber nachdenken, inwiefern dies auf sie zutrifft.
War oder ist man selbst Gefangener der Gesellschaft?
Wie lange hat man unbewusst die Rolle einer Marionette übernommen, nur um den Willen anderer zu erfüllen und sie glücklich zu machen?
Für Gefühle gibt es in der Gesellschaft wenig Platz, denn es gilt immer noch die Devise: „Was denkt die Gesellschaft darüber?“ Erlaubt sie Gefühle nicht, so sind sie einem, der sich in diesem System befindet, verboten. Ich konnte sehen, dass selbst Menschen, denen es finanziell gut ging, etwas in ihrem Leben fehlte, nämlich die Freude.
Umso schwerer ist es sicherlich für ein Kind, die materielle Freude der Eltern zu teilen, wenn es sich nach mehr Zuneigung und Wärme sehnt. Dieser Zwiespalt bewirkt im Innern des betroffenen Kindes eine tiefe Wunde, welche die Eltern ohne Weiteres nicht sehen, denn das Zeigen von Gefühlen ist in der Gesellschaft untersagt.
Hierzu kommt als weitere Belastung die unzureichende Kommunikation zwischen dem Kind und seinen Eltern. Während die Eltern sich gedanklich in ihrer heimatlichen Welt in Sri Lanka befinden, sind die Kinder in dem Zwiespalt zwischen der deutschen und der tamilischen Welt gefangen. Die Problematik entwickelt sich, wenn die Kinder den Eltern gegenüber die eigenen Wünsche erklären müssen.
Hierzu ein Beispiel: Es steht eine Party an, wo die gesamte Jahrgangsstufe aus der Schule eingeladen ist und man selbst auch gern hingehen möchte. Die erste Hürde ist die Erlaubnis der Eltern. Während sich die Freunde und die anderen auf die baldige Party freuen, meldet sich das Gewissen, welches die Vorfreude bremst. Mit einem „Nein“, das schon in Gedanken vorprogrammiert ist, macht man dennoch den Versuch, die Eltern um Erlaubnis zu fragen, denn schließlich ist die gesamte Jahrgangsstufe aus der Schule dort und der Freundeskreis geht hin. Dann die meist gestellte Frage, die von den Eltern kommt: „Wann fängt es an?“ Dass eine solche Party nicht zur Kaffee-und- Kuchen-Zeit beginnt, ist den meisten Jugendlichen klar, doch nicht vielen tamilischen Eltern. Die Uhrzeit, zu der eine Veranstaltung beginnt, ist Grund genug, den Kindern die Teilnahme zu verbieten. Trotz überzeugender und logischer Erklärungen ist es ihnen schwierig, das Einverständnis zu bekommen. Falls doch ein Elternteil zustimmen sollte, könnte dieser wiederum durch den anderen Elternteil umgestimmt werden.
In der Welt zu Hause ist man damit beschäftigt, die schulische Welt zu rechtfertigen. Schlussfolgernd kommt in den meisten Fällen das Resultat, dass die Eltern es nicht verstehen und man als junger Mensch an solchen Feiern nicht teilnehmen kann. Man zieht sich in sein Zimmer zurück und versucht, sich mit seinen verletzten Gefühlen selbst zu trösten.
Mit den kulturellen Erklärungen seitens der Eltern wird versucht, ein Aufbegehren der Psyche zu dämmen, sodass der innere Schrei nach Freiheit und Selbstbestimmung vorläufig gestoppt wird. In diesem Moment des Leidens bietet sich das Medium „Internet“ als weiterer Zufluchtsort an, um von den verletzten Gefühlen abzulenken und wenigstens anonym seine Gefühle äußern zu können.
Eines Tages stieß ich durch Zufall auf ein tamilisches kulturelles Forum, in dem unter anderem die von mir hier angesprochenen Themen diskutiert wurden. Erstaunt konnte ich feststellen, dass es dort eine Vielzahl von Mädchen gab, die in ihrem Zuhause mit all diesen Problematiken konfrontiert waren. Aus der Reihe der Jungen gab es nicht einen offiziellen Fall, der auch nur im Ansatz eine Konfrontation mit den Eltern angedeutet hätte. Der Grund dafür, vermute ich, liegt darin, dass es gerade den Männern in der Gesellschaft nicht erlaubt ist, über ihre Gefühle zu sprechen, ohne dabei auf irgendeine Weise abgestempelt zu werden.
Es gilt ja selbst auch in anderen Gesellschaften die Faustregel:
„Wer cool und hart ist, ist erst ein Mann.“
Ein weiterer Grund könnte sein, dass Jungen nach dem Gesellschaftsbild automatisch mehr Rechte bekommen als Mädchen.
Hier die folgende Regel, wonach sich die Gesellschaft richtet:
„Über einen Jungen kann gesprochen werden. Das würde der Familie nicht so viel Schaden zufügen, als wenn über ein Mädchen gelästert würde. Denn es wäre dann umso schwerer für dieses Mädchen, einen geeigneten Partner zu finden, da ihr Ruf bereits verschmutzt wäre.“
Die Angst, dass andere über sie sprechen könnten, bedeutet für viele Eltern, es um jeden Preis zu verhindern. Und dabei heißt es, etwaige „westliche Feierlichkeiten“ zu umgehen und die Tochter davor zu schützen. In solchen Fällen sind meist die Töchter in ihrem Zufluchtsort, dem Internet oder der Filmwelt, Gefangene ihrer eigenen Emotionen, aus denen sie meist nicht allein herauskommen können. Im genannten Beispiel ist ein betroffenes Mädchen in Erklärungsnot gegenüber Klassenkameraden und Freunden, die eine Erklärung der Eltern, basierend auf der kulturellen Ebene, nicht nachvollziehen können. Und auch hier folgt eine weitere Verletzung, nämlich die des Außenseiters. Auch wenn man in der Klasse ein unbeschriebenes Blatt ist, so stellt man sich in dem Moment durch die Nichtteilnahme an einer „westlichen Feier“ als Sonderling dar, und dies geht wieder zulasten der Psyche. In einer solchen Situation sind die betroffenen Jugendlichen auf sich gestellt und versuchen, den wiederkehrenden inneren Schrei nach „Freiheit und Selbstbestimmung“ zu unterdrücken. Eine gezwungene Identifikation mit der eigenen Kultur, indem man sich selbst einredet:
„Das hat alles seine Richtigkeit, es ist die tamilische Kultur – meine Kultur –, die die anderen nicht verstehen.“ Dabei ist es gerade die Kultur, die einem durch die Aufstellung der Fesseln innere Verletzungen zufügt. Obwohl manche betroffene Jugendliche es im Innern wissen, sind sie dennoch gezwungen, die tamilische Kultur vor der deutschen Kultur zu beschützen und diese als „gut“ beziehungsweise „perfekt“ und „schön“ zu präsentieren. Dieses „gut“ wird mit der Hinnahme solch feierlicher Blockaden akzeptiert. Man redet sich ein, dass das alles sein muss, da man sonst gleichzeitig in der eigenen tamilischen Kultur ein Außenseiter ist.
Betrachtet man das Beispiel ein wenig genauer, kann der Leser erkennen, dass betroffene Jugendliche sowohl in der eigenen Kultur als auch in der westlichen Kultur als Außenseiter gelten. Zu Hause im Zimmer mit den verletzten Gefühlen und in der Schule durch die fehlende Teilnahme am Gesellschaftsleben. Unbewusst schleppen diese jungen Menschen jahrelang Verletzungen ihrer Seele mit sich, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Dahingehend ist es für mich keinesfalls eine neue Entdeckung, dass das wirkliche Schätzen des Lebens vielen so schwer fällt. Gefangen zwischen den Welten, wandert die eigene Persönlichkeit eines tamilischen Kindes mal hierhin, mal dorthin, was zu einer fortwährenden Unterdrückung der eigenen Persönlichkeit führt. Irgendwann wird auch der innere Schrei oder das Verlangen nach Freiheit und Selbstbestimmung von den betroffenen Jugendlichen aufgegeben, und manche geben ihr ganzes Leben in die Hände der anderen. Es ist eine Scheinwelt, in der sie leben und auch anderen etwas vorleben. Eine Welt, in der nach außen Glück und Freude herrschen, während im Innern genau das Gegenteil der Fall ist.
Die falsche Definition von Freude durch den Besitz materiellen Reichtums und Geldes ist eine mögliche Folge für die Isolation von der Gesellschaft. Es ist keine Seltenheit, dass sich betroffene Kinder im Laufe ihres Lebens, spätestens, wenn sie erwachsen sind, die Frage stellen: „Wer bin ich eigentlich wirklich?“

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