1. Dezember 2020

'Die Maskenpflicht des Weihnachtsmannes' von Rega Kerner

Kindle (unlimited) | BoD | Taschenbuch
Website Rega Kerner
»Wie viele Türchen hat ein Lockdown-Kalender?«, wollte die alleinerziehende Mutter Maria vom Weihnachtsmann erfragen, doch dessen Wunschzettelgruppe war im Frühlingsurlaub stumm geschaltet. Nun in der Vorweihnachtszeit bastelt sie am regulären Adventskalender für ihre Tochter. Nach all den Unwägbarkeiten dieses verflixten Jahres 2020 zweifelt sie dabei sogar an der Anzahl abzuwartender Dezember-Tage, bis zum letzten Türchen.

Den Weihnachtsmann plagen andere Sorgen bei den Vorbereitungen zum Fest. Sein Rauschebart sträubt sich gegen den Mundschutz, zu dem der Himmelsrat ihn verdonnerte. Leider mit handfesten Argumenten: Er sei schließlich der Einzige mit direktem Kundenkontakt, und habe eine Vorbildfunktion.

Noch schlimmer: Ob sein Nebenjob auf dem Bremer Weihnachtsmarkt dieses Jahr ausfällt, kann bisher nicht einmal der Senat der altehrwürdigen Hansestadt beantworten. Solange das in den Sternen steht, ist auch die Finanzierung der Weihnachtsgeschenke aller Kinder nicht gesichert ...

Was wird bloß aus dem Fest, wenn die Corona-Beschränkungen sogar den Weihnachtsmann lahmlegen?

Nicht nur, aber insbesondere für Eltern gilt in diesen Zeiten wohl besonders: Nie den Humor verlieren!

Anleser:
Der Weihnachtsmann riss sich den himmelblauen Mundschutz von den Ohren und pfefferte ihn in eine Ecke seines Schlittens.
»Es kann doch wohl nicht wahr sein, dass die gesamte himmlische Heerschar es nicht hinkriegt, eine ordentliche Maske zu nähen?«, wetterte er gegen drei Engelchen, die auf der Wolke neben seinem Fahrzeug standen. Sie wackelten betreten mit den Flügelspitzen. Es war bereits die vierte Anprobe.
Bei dieser lag ein ganz besonders ausgefeiltes Modell vor, mit diversen elastischen Elementen, insbesondere im Mundbereich. Das sah ein wenig nach Patchwork aus. Doch der dicke Rauschebart hob den Stoff dennoch luftig weit vom Gesicht ab und schob ihn bei jedem Wort herum. Spätestens beim dritten »Ho« vom »Ho Ho Ho«, hüpfte der Draht von der Nase, oder der ganze Lappen hing gleich quer über dem Kinn.

*

Da hing er wieder, grellrot am grünen Schrank. Kinderaugen würden glitzern. Maria sackte erschöpft auf den Küchenstuhl und betrachtete ihr Werk: Ein rotes, längliches Stück Stoff mit Fransen oben und unten, 24 goldene Ringe zum Aufhängen der Päckchen, der Rand dekoriert mit mehreren Engeln aus Filz. Das war ein recht schlichtes Exemplar, in dieser Zeit der Superlativen. Würde Tomke wieder nörgeln?
Letztes Jahr hatte ihre Tochter neidisch aufgezählt, welch kreative Kalender all ihre Schulfreunde hätten. Die sie auch lieber haben wollte. Doch letztlich gefiel die mütterliche Erklärung: »Viele sind aber identisch, vom Fließband aus der Fabrik. So ein antikes Einzelstück wie du, hat bestimmt fast keiner mehr. Da kannst du stolz drauf sein!«
»Ich hab ihn seit immer, heißt antik so alt wie ich?«
»Nein, viel älter. Meine Paten-Tante nähte und bastelte ihn Anfang der 70er Jahre für mich und als ich erwachsen war, wartete er im Keller auf dich. Den gibt es kein zweites Mal. Guck hier, die Holzkugel-Köpfe der Engel musste ich mehrfach wieder ankleben. Noch öfter benötigte ganz unten der Schneemann, aus halben Styropor-Kugeln, kleine Schönheitsreparaturen. Aber ich liebe ihn immer noch und er begleitet mich. Über all die Jahre hinweg.«
Die Mutter hatte ihre Erinnerung an das Gespräch von 2019 hörbar vor sich hin gemurmelt, während das Kind unbemerkt in die Küche gekommen war und einen fast achtlosen ›kenn-ich-schon-Blick‹ auf die noch leicht vom Aufhängen schwingenden Päckchen geworfen hatte.
»Und jetzt begleitet er mich«, stellte Tomke den Besitzerwechsel klar.
»Uns«, lächelte Maria und dachte: In diesem denkwürdigen Jahr sogar zweimal.
Angesichts des aufziehenden Gewitters im Gesicht ihres Kindes korrigierte sie schnell: »Klar, er gehört jetzt ganz und gar nur noch dir allein. Aber ich freue mich dann über deine Freude, also habe ich auch noch etwas davon.«

*

Der Weihnachtsmann freute sich ganz und gar nicht. Die Engelnäherei hatte immer wieder ihr Bestes gegeben, um die handelsüblichen Klinikmasken so zu modulieren. Mit dem Ziel, sein wichtigstes Wahrzeichen, den wilden Bart, nicht komplett platt zu legen, aber doch Mund und Nase abzudecken. Was leider ein Ding der Unmöglichkeit schien.
Man sollte den Engeln natürlich zugute halten, dass nähen nicht zu ihren üblichen Aufgaben oder gar Hobbys zählte. Aber in diesen Pandemie-Zeiten musste sich eben jeder flexibel einbringen, also auch mal den Beruf wechseln. Oder hätte der Weihnachtsmann sich etwa selbst eine Maske nähen sollen? Ihm war es peinlich genug, eine zu tragen!

*

Was so ein selbstgenähter Kalender alles tragen kann,sinnierte Maria noch in der Küche sitzend, als ihr Kind längst das Interesse an den verschlossenen Säckchen verloren, ein paar Kekse vorab erbettelt und sich damit in sein Zimmer verzogen hatte. Nicht ohne vorher ihrer Mutter zu erklären, dass die einen Knall hätte: »Da muss ich ja noch ewig warten! Wer hängt denn den Adventskalender schon im Oktober auf?«
Er trägt viel mehr als Päckchen oder Säckchen, er trägt häuslichen Frieden, egal ob alt oder neu, dankte Maria innerlich für die pure Existenz dieser Tradition und trank einen Schluck Kaffee. Denn alle Eltern kennen das Problem, wie ich, total unabhängig von der Jahreszeit:»Papa, Mama, wann sind wir endlich da?«
Zeit kann man nicht anfassen. Was man nicht anfassen, also nicht greifen kann, ist für Kinder nicht zu begreifen. Und wenn Kinder etwas nicht begreifen, führt das unweigerlich zu ständiger Quengelei: »Mama, Papa, wann ist endlich Weihnachten?«
Spätestens, wenn dies jede halbe Stunde oder gar im Minutentakt ertönt, reißt jeder Mutter oder jedem Vater der Geduldsfaden. Egal, wie geduldig sie sonst sind oder sein wollten. Da bin ich nicht die Einzige. Das ist heutzutage so und jede Generation meint, früher war alles anders. Früher war alles besser.
Stimmt das? Waren früher alle Kinder brav und wohlerzogen?, überlegte Maria. Wenn dem so gewesen wäre, welchen Sinn und Zweck hätte dann die Erfindung des Adventskalenders gehabt?

*

Über Sinn, Zweck und Notwendigkeit von Masken für Adventsgestalten hatte es Anfang Oktober eine außerplanmäßige Himmelssitzung mit langen, hitzigen Debatten gegeben. Alles was über den Wolken Rang und Namen hatte, versammelte sich auf den Sternbänken. Um die Abstände zu wahren, wurden einige Asteroiden aus ihrer Bahn gezerrt und zu Nothockern am Rande der Milchstraße umfunktioniert.
Das Christkind war sofort fein raus: »Ich bin unter sechs. Ich bin freigestellt.«
»Das ist angesichts deines wahren Geburtstages aber minimal gemogelt«, nörgelte ein Jungengel, vermutlich eifersüchtig, weil er selbst mindestens zwölfjährig aussah. Aus den vollbesetzten Reihen der Seraphim erklang unruhiges Gemurmel.
»Geht es beim Weihnachtsfest um historische Fakten oder um Glauben?«, zischte ihm das Christkind zu. Das Engelchen strich prüfend über den Rand eines seiner goldenen Flügel, die sicher in keinem Geschichtsbuch als Fakten verzeichnet waren und sagte lieber nichts weiter.
Der Nikolaus argumentierte: »Die Kinder bekommen mich doch gar nicht zu Gesicht. Da wäre Maske tragen total unsinnig.«
»Und wenn dich doch eines vor seiner Tür erwischt?«, fürchtete das Christkind.
Das Lachen des Nikolauses hallte von den Sternen über alle Wolken bis auf die Erde: »Das hat bei mir in über 1500 Jahren noch keines geschafft! Das passiert bei mir nie! Und alle, die das behaupten, die lügen.«
»Ach, das passiert immer nur anderen? Ähnlich hatten die modernen Europäer auch bezüglich Pandemien gedacht, obwohl die letzte große gerade mal hundert Jährchen her war. Und manche, die bisher nicht persönlich betroffen sind, glauben das immer noch«, mahnte ein älterer Cherub, irgendwo von den hinteren, höchsten Plätzen.
Die Mehrheit stimmte jedoch zu, das Risiko einer Begegnung sei beim Nikolaus derart gering bis ausgeschlossen, dass er auf Maske und Reiseprotokolle verzichten könnte.
Die Engel verpflichteten sich freiwillig, das Abstandsgebot demonstrativ auf über zwei Meter zu erweitern und einzuhalten. Was für sie, selbst im größten Gedränge, leicht war, da sie nach oben ausweichen konnten. Wo sie sich ohnehin meist aufhielten.
Kaum war das Thema für diesen größten Teil der Anwesenden geklärt, jammerten die ersten nach einer Versammlungspause.

*

Diese Pause hab ich mir nach der Kalenderfüllerei auch verdient, fand Maria ...

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