'Mal düster, mal heiter' von Bernd Töpfer
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Es begann im Winter
Am Rande der Kleinstadt gibt es einen Park mit einer kleinen Anhöhe. Es ist Januar, es liegt viel Schnee und die Kinder rodeln begeistert den Hügel hinab. Danach ziehen sie den Schlitten nach oben, um daraufhin wieder kreischend runter zu sausen. Ohne zu ermüden.
Unten am Hügel, seitlich der Rodelbahn, steht Marie und schaut dem Treiben traurig zu. Gern würde sie wie die anderen Kinder rodeln, doch leider haben ihre Eltern kein Geld für einen Schlitten. Sie gehören zu den armen Leuten. Vielleicht im nächsten Jahr, haben sie gesagt. Aber das glaubt die Zehnjährige nicht, denn die gleichen Worte haben die Eltern im Vorjahr und die Jahre zuvor benutzt. Immer ging irgendwas im Haushalt kaputt, da war eine Neuanschaffung oder Reparatur dringender nötig als ein Schlitten.
Vor Marie, gerade mal zwei Meter entfernt, kommt ein Junge nach der Abfahrt mit seinem Schlitten zum Stehen. »Willst du mal mitfahren?«
»Wer, ich?« Marie sieht ihn erstaunt an. Sie kann es nicht glauben, der fremde Junge lädt sie zum Rodeln ein. Natürlich möchte sie gern.
Der zwölfjährige Helmut nimmt sie bei der Hand und gemeinsam laufen sie den Hügel hinauf. Oben setzen sie sich auf den Schlitten, Marie vorn, er hinter ihr, und runter geht’s. Sie schreit während des Rodelns vor Begeisterung. Die Abfahrt dauert nicht lange, nur ein paar Sekunden. Doch diese kurze Zeit reicht, um Marie glücklich zu machen. Unten angekommen bedankt sie sich bei Helmut. Bevor sie zum vorherigen Aussichtsplatz zurückkehren will, hält er sie zurück und nimmt sie wieder mit nach oben.
»Setz dich in die Mitte, jetzt fährst du mal allein.«
Maries Herz klopft aufgeregt. Sie ist noch nie allein Schlitten gefahren. Aber was soll daran schwer sein, überlegt sie. Dennoch ist sie schon ein wenig angespannt. Helmut schiebt sie an, und schon schlittert sie abwärts. Marie ist so glücklich, das muss sie später unbedingt den Eltern erzählen und der fünf Jahre jüngeren Schwester.
Unten angekommen, steht sie vom Schlitten auf, dreht sich um und schaut zu Helmut. Der winkt ihr zu und deutet damit an, sie soll wieder nach oben kommen.
Den Schlitten hinter sich herziehend, begibt sich Marie auf die Anhöhe. Wie schön muss es wohl sein, wenn sie auf einem richtig großen Berg wäre und dann ganz lang weit nach unten rodeln könnte. Viele, viele Minuten lang. Das möchte Marie irgendwann einmal machen. Ja, das wird sie tun, irgendwann, schwört sie sich.
***
Sechzig Jahre später, wieder Januar. Marie steht an Helmuts Grab. Es ist mit Schnee bedeckt. Das Grab ist noch frisch, gerade mal neun Tage alt. Sie kann es nicht verstehen, Helmut hat sie einfach allein gelassen. Warum? Er legte sich abends ins Bett und wachte am anderen Morgen nicht mehr auf. Er war nie krank. Immer kerngesund.
Einen schönen Tod hast du gehabt, redet sie im Stillen mit ihm. Doch es war zu früh, mein Lieber, viel zu früh. Was soll ich jetzt allein? Immer hast du dich um mich gekümmert. Weißt du noch, damals beim Schlittenfahren? Mein Gott, da waren wir noch Kinder. Du hast mich zum Rodeln eingeladen. Das war meine erste Schlittenfahrt. Eine ganze Stunde lang sind wir pausenlos den Hügel hinauf und wieder hinunter. Das war einer meiner glücklichsten Momente. Am nächsten Tag haben wir uns wieder getroffen, und du hast dir Zeit für mich genommen. Im Sommer hast du mich auf deinem Fahrrad mitgenommen, hinten auf dem Gepäckträger saß ich. Da sind wir bei schönem Wetter zum Baggersee gefahren. Und dann kam wieder der Winter. Du hast mir deinen Schlitten geschenkt, weil du zu Weihnachten von deinen Eltern Skier bekommen hattest. Ich wollte dein Geschenk nicht annehmen, was würden deine Eltern dazu sagen?, habe ich dich gefragt. Doch die hatten zugestimmt. Ein wenig schämte ich mich, weil meine Eltern arm waren. Und zu Weihnachten bekam ich wieder keinen Schlitten geschenkt. Dass deine Eltern nichts dagegen hatten, meine Güte, das war damals mein schönstes Weihnachtsgeschenk. Wir waren Kinder und wussten noch nichts von Liebe. Aber es war der Anfang von etwas Großem. Wir sahen uns öfter. Du warst immer für mich da. Ich konnte mit allen Problemen zu dir kommen. In Mathematik war ich ein bisschen blöd, da hast du mir beim Lernen geholfen. Ich konnte sogar meine Note verbessern. Und weißt du noch, unser erster Kuss? Mein Gott, es war ja eher nur ein sanftes Berühren der Lippen. Es war alles neu für uns. Und wir waren so jung. Dennoch spürten wir eine besondere Zuneigung füreinander. Ich hatte meine ersten schönen Träume, Sehnsüchte. Für mich gab es nur noch dich. Dir das zu gestehen, traute ich mich nicht. Damals war ja eine ganz andere Zeit. Ich glaubte, dass gehöre sich nicht, dass ein Mädchen einem Mann seine Liebe gesteht. Zumindest glaubte ich es früher. Ach Helmut, du warst mein Held, mein Idol, meine große Liebe, das ganze Leben lang. An deiner Seite war ich glücklich bis zum letzten Tag. Du hast mich auf Händen getragen, dich fürsorglich um mich gekümmert. Ich war deine Prinzessin. Und jetzt bist du gegangen, ohne ein Wort, nicht mal einen letzten Gruß. Was soll ich ohne dich? Ohne dein Lachen, deine Liebe, deine Fürsorge. Was meinst du? Unsere Kinder? Ja, die schauen oft bei mir vorbei. Aber die haben ihr eigenes Leben, und ich bin ja nicht gebrechlich. Ich kann allein für mich sorgen. Aber abends, wenn ich allein zuhause sitze, dein Sessel leer bleibt …
Gestern war ich im Keller, ich wollte mich ablenken, musste mich beschäftigen. Ich hatte vor aufzuräumen und alten Plunder wegzuschmeißen. Weißt du, was ich da entdeckt habe? Ganz hinten in einer Ecke? Deinen alten Schlitten. Meinen Schlitten. Mein Gott, da sind mir die Tränen gekommen.
Ich habe daraufhin den Keller gelassen, wie er war. Ich wollte nicht noch mehr Erinnerungsstücke finden. Mein Lieber, was soll ich ohne dich? Ich esse wenig, habe überhaupt keinen Appetit. Du hast ein großes Loch in meinem Leben hinterlassen. In unserem Leben. Ich fühle mich lebend tot. Wenn die Kinder nicht wären, die Enkelkinder …
Marie hält weitere zwei Monate durch. Eines Abends nimmt sie ihr Hochzeitsfoto in die Hand. Tränen laufen ihr die Wange hinunter. Ich komme jetzt zu dir, murmelt sie leise. Dann nimmt sie all die gesammelten Schlaftabletten und legt sich ins Bett.
Am nächsten Nachmittag kommen ihre Tochter und die Enkelin zu Besuch. Sie können nicht fassen, dass die Mutter diesen Weg gewählt hat. Warum? Wir sind doch für sie da.
Marie hat einen Abschiedsbrief hinterlassen. Es täte ihr schrecklich leid, sie will ihnen allen nicht weh tun, aber sie wäre am Ende ihrer Kräfte. Ohne ihren Helmut, nein, das sei kein Leben mehr. Sie wolle zu ihm.
Es fiel den Hinterbliebenen schwer, diesen Grund zu akzeptieren. Man kann sich kaum in die Gefühlswelt eines anderen Menschen hineinversetzen, auch dann nicht, wenn es das eigene Fleisch und Blut ist.
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Labels: Bernd Töpfer, Kurzgeschichten
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