"Wenn das alles ist" von Lisa Kammermeier
Seit ihrer Kindheit sind Toni und Martin gute Freunde. Durch die gemeinsame Leidenschaft fürs Bergsteigen und ihre Arbeit als Wissenschaftler sind sie eng verbunden. Als sie während einer Klettertour im Mont-Blanc-Massiv wegen eines Unwetters in einer engen Felsspalte Schutz suchen und ausharren müssen, liegen die Nerven bald blank und die Männer geraten in Streit. In der dramatischen Gewitternacht brechen Konflikte auf, die schon auf festem Boden im Tal zu schwelen begannen …
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Leseprobe:
Ich glaube an mich. Selbst in den Felswänden der höchsten Berge Europas habe ich das Vertrauen in mich nie verloren. Ich kann mich auf meinen Körper verlassen, meine Arme, Beine, Füße und Hände führen zuverlässig und kraftvoll aus, was ich ihnen anbefehle. Ich trainiere vier Mal die Woche. Ausdauer, Kondition, Kraft. Ich meditiere. Ich habe gelernt, dass alle Stärke aus der Mitte kommt, physisch wie mental. Mein Körper versagt nicht. Mein Geist lässt mich nicht im Stich. Ich denke mir den Weg hinauf zum Gipfel und plane meine Schritte sorgfältig. Ich bin kein Draufgänger. Ich bin erfahren genug, um die jeweils angemessene Technik einzusetzen. Ich bin geduldig, kein Gipfel läuft mir davon. Ja, ich kann umkehren! Ich habe es bewiesen – am Mont Blanc habe ich meine Geduld sogar wiederholt bewiesen. Der Mont Blanc ist ein besonderer Berg – darum hänge ich jetzt auch hier in der Felswand und kann nicht weiter. Der Mont Blanc ist der höchste in den Alpen, in Europa, der nächsthöhere Gipfel liegt vier Flugstunden entfernt östlich, den Namen weiß ich nicht mehr, auch Martin erinnert sich nicht. Martin kauert neben mir in einer Felsspalte, die Platz für eineinhalb Personen bietet. Jede Lageveränderung unserer Gliedmaßen muss abgesprochen werden. Will ich zum Beispiel mein rechtes Bein ausstrecken, muss Martin eine Seite seines Hinterns lupfen, damit ich den Fuß unten durchstecken und an die Felswand schmiegen kann. Das heißt, mein linkes Bein hängt aus dem Unterschlupf, und draußen umkreist seit Stunden ein Gewitter das Massiv wie ein Raubvogel seine Beute.
Ich rieche Martin.
Mein linkes Bein hängt gefährlich aus der Spalte, und obwohl der Rest meines Körpers in unserem Unterschlupf nicht wesentlich besser geschützt ist, will ich das Bein lieber an mich und unter die Überdachung bringen. Martin stöhnt Unverständliches. Als ich ihn erneut bemühe, Unfreundliches. Ich verzeihe ihm.
Wir drücken unsere Köpfe so tief wie möglich unter das klamme Felsendach. Wenn die Köpfe geschützt sind, sind wir sicher.
Bullshit.
Über der Wand ist die Nacht hereingebrochen und liefert den Blitzen eine alle Farben verschluckende Bühne. Dort draußen liegt unermesslicher Raum unbelichtet, Raum, der nicht für uns ist, die Vertikale der Felswand ist nicht für Menschenfüße gedacht. Darum schlagen wir Haken in den Granit und spannen Seile und sichern uns gegenseitig und lernen uns zu vertrauen, weil ein Leben am Seil des anderen hängt. Überall müssen wir hin! Seit Jahrhunderten in die menschenverachtende Wildnis. Auf die Meere der Welt hinaus, in die Eiswüsten und Sandwüsten, auf die Gipfel der Gebirge hinauf und in die Tiefen der Ozeane hinunter. Martin und ich können uns noch nicht einmal darauf berufen, Entdecker sein zu wollen. Alles Gefährliche ist längst bekannt. Die tödlichsten Waffen, die bissigsten Tiere. Die Kälte. Die Hitze. Die Anstrengung, die Einsamkeit.
Wir haben uns immer sicher gefühlt, Martin und ich, er noch sicherer als ich selbst, weil er sich auf mich verlässt, der ihn zurückpfeift, wenn es zu gefährlich wird. Wir sind nicht zum ersten Mal gemeinsam hier und auch warten wir nicht unsere erste Schlechtwetterfront gemeinsam ab. Doch so wenig Distanz zwischen unseren Körpern und den um den Berg schießenden Blitzen war noch nie.
Martin stöhnt leise vor sich hin. Er geht in die Berge, weil er sich überall sonst eingeschlossen fühlt. Wenn Martin nicht im Abstand von zwei Wochen auf einen Berg hinaufklettern kann, bekommt er diesen scharfen Blick, vor dem die Menschen fliehen. Martins Frau fürchtet die Gefahren der Berge, aber noch mehr fürchtet sie die Blicke ihres Mannes, wenn er zu lange bei ihr und den Töchtern ausharren muss. Es liegt nicht an ihnen, sie weiß das, aber es hilft ihr nicht. Sie drängt ihren Mann in die Berge und in die Gefahr, in die Naturgewalt eines sich aus dem Nichts zusammenbrauenden Wetterumschwunges und weint jedes Mal Abschiedstränen.
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Labels: Erzählungen, Kurzgeschichten, Lisa Kammermeier
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