5. Oktober 2015

"Die Geschichtenerzählerin: Die Schatten" von Stella Jante

Band 2 der Fantasy-Trilogie mit alpinen Sagen und irischen Mythen.

Die Geschichtenerzählerin der Anderswelt Mena ist zu ihrem Freund Kinnon, dem halben Sìdhe, nach London gezogen, doch ihre Beziehung wird einer schweren Prüfung unterzogen. Mena leidet unter Heimweh und die Beiden stoßen im Alltag an ihre Grenzen.

Die Beziehungen in der Anderswelt mit den Drachen, dem Nörggele, den Sìdhe, den Saligen und den Wilden Männern vertiefen sich, aber gleichzeitig braut sich etwas Gefährliches zusammen …

Gleich lesen: Die Schatten - Die Geschichtenerzählerin Band 2





Leseprobe:
„Wo bleibst du denn, babe?“
Zwei Arme schlingen sich um meine Taille. „Was ist los, Mena?“, flüstert eine tiefe Stimme, immer etwas heiser, in mein Ohr. „Du stehst vor dem Schrank und schaust hinein, als ob dort, ich weiß nicht was, herauskommen würde.“
Ich lehne mich zurück und genieße, in seinen Armen zu sein. Kinnon, mein „Traum-Mann“, den ich in einer Vision in der Anderswelt vor nicht einmal einem halben Jahr kennengelernt habe. Vor zwei Wochen bin ich zum Studieren extra für ihn nach London gezogen, um mit ihm in seiner WG zu leben.
„Ich weiß nicht, was ich anziehen soll“, versuche ich das Heimweh, das mich mehrmals am Tag überfällt, zu verheimlichen. Aber wahr ist, das Wetter hier macht mich wahnsinnig! In London muss ich im Oktober täglich mit einem Nieselregen rechnen. Der ist so fies, dass er mich bis auf die Unterwäsche durchnässt.
Kinnon dreht mich um und sieht mich langsam von Kopf bis Fuß an. Ihm gefällt, was er sieht. Das lässt mich Heimweh und Wetterverhältnisse vollkommen vergessen. Auf einmal kommt es mir im Raum sehr heiß vor.
Er weiß genau, was er bei mir auslöst.
„Mena, du bist angezogen“, meint er mit seinem sexy schiefen Lächeln.
Ich sehe an mir herab, betrachte Jeans, T-Shirt und meinen taillierten Pullover. „Das ist meine Uni-Kleidung“, protestiere ich schwach. „Süße, wir gehen auf eine Studentenparty. Da musst du dich nicht fein machen“, lacht er mich aus.
„Kinnon, ich kenne da niemanden.“ Ich höre selbst, wie weinerlich das klingt. Autsch! Seit wann bin ich so eine Jammerliesl geworden?
Er legt einen Finger unter mein Kinn. „Ich bin bei dir, auch Liam und Kayla“, sagt er mit einer Geduld, die ich nicht verdiene. „Außerdem gehen wir da hin, damit du auch andere kennenlernen kannst. Komm schon, Mena, ich möchte dir ein paar Kollegen vorstellen.“
Ja, das möchte er nicht zum ersten Mal … Kinnon hat eine Menge Kollegen, in erster Linie Iren wie er, die ebenfalls in London studieren. Seine Kolleginnen mustern mich alle mit Argusaugen, so nach dem Motto: „Was hat die, was ich nicht habe?“ Wahr ist: Nicht nur ich bin der Meinung, dass er mit Abstand der schönste Mann ist, den ich je getroffen habe.
Kinnon nimmt mein Gesicht liebevoll in seine riesigen großen Hände. „Mena“, sagt er und sieht mir tief in die Augen, „ich kann beinahe sehen, wie viele Gedanken in deinem Kopf herumschwirren. Wenn du nicht zu dieser Party gehen möchtest, dann bleiben wir hier. Ich sage nur schnell Liam und Kayla, dass wir nicht mitkommen, und die Sache hat sich. Möchtest du das?“
Kein Wunder, dass ich ihn „meinen Traum-Mann“ genannt habe! Er ist schon damals zu schön und zu gut gewesen, um wahr zu sein. Auch heute ist er wieder so fürsorglich und liebevoll, dass ich nur noch den Kopf über mich selbst schütteln kann. „Ach Kinnon, nimm mich nicht ernst. Ich fühle mich noch nicht heimisch hier. Das Wetter deprimiert mich …“ Das zu meinem Vorsatz, ihn heute nicht mit meinem Heimweh zu konfrontieren!
„Ja, das würde es mich auch, wenn ich aus deiner Gegend käme“, unterbricht er mich verständnisvoll. Lächelnd streichelt er mir mit seinen Daumen die Wangen, während er meinen Kopf nach wie vor in den Händen hält. Er ist im vorigen Sommer bei mir daheim zu Besuch gewesen, in Meran in Südtirol, und weiß, wie ich von der Sonne verwöhnt bin. 300 Tage Sonnenschein im Jahr gegen 250 Tage mit bedecktem Himmel zu tauschen soll einem die Laune nicht verderben?
Die Jammerliesl in mir hat jetzt richtig Fahrt aufgenommen. „… Und das Studium ist genauso schwierig für mich. Ich verstehe die Hälfte, tue mich schwer, jemanden dort kennenzulernen. Auf diesen Partys bin ich die Einzige deutscher Muttersprache.“
„Ich verspreche dir, dass ich dir heute nicht von der Seite weiche und dein persönlicher Übersetzer bin“, grinst Kinnon unbeeindruckt von meiner Litanei.
Die Liebe, die ich momentan für meinen Traum-Mann empfinde, hat die Jammerliesl momentan zum Stillschweigen gebracht. Ich falle ihm um den Hals. „Wenn ich dich nicht hätte! Du bist mein persönlicher Sonnenschein.“
Kinnon lacht. „Klar doch! Nur reicht er nicht, Londons grauen Himmel zu überstrahlen.“ Er hält mich nochmals auf Entfernung und sieht mich an. „Mena, aller Anfang ist schwer. Ich habe mich ähnlich gefühlt, als ich von Irland nach London gezogen bin. Hinzu kommt, dass du genauso wenig der Großstadttyp bist wie ich. Dir fehlen die Berge und du vermisst deine Familie. Ich sehe dir an, dass du Heimweh hast.“
Seine Worte bringen mich den Tränen nahe. Ich schlage ihm auf die Brust. „Hör auf! Ich habe mich gerade geschminkt, da kann ich es mir nicht leisten, zu weinen.“ Ich lächle ihn gezwungen an. „Es geht schon, Schatzele. Es tut mir gut, wenn du mich verstehst. Ich hoffe, Du hast recht und ich lebe mich hier bald ein.“
Kinnon küsst mich zärtlich. „Das hoffe ich auch, babe, denn ich kann ohne dich nicht mehr sein.“ Woraufhin er seinen Kuss nochmals intensiviert, und wir uns darin verlieren …
„Ich glaube es nicht! Kayla, die knutschen hier herum, während wir unsere Zeit totschlagen und längst schon ein Bier auf der Party trinken könnten. Würdet ihr Turteltäubchen jetzt endlich vorwärtsmachen?“, ruft Liam entrüstet zur Tür herein.
Wir grinsen uns an. Kinnon reicht mir bedeutungsvoll die Hand. „Kommst du?“ Er strahlt mich an und mir wird mehr als nur warm ums Herz – und nicht nur dort. Kinnon, der Grund, warum ich in London bin …
Der Abend gestaltet sich schöner als erwartet. Kinnon hat sein Versprechen wahr gemacht und mir geholfen, mich zu integrieren, zeitweise auch den Übersetzer gespielt – von Englisch mit irischem Slang zu Oxfordenglisch, worüber nicht nur ich mich kaputtgelacht habe. Ab und zu hat er noch zur Belustigung aller ein paar Brocken Deutsch eingeworfen, weil er sich in einen Deutschkurs eingeschrieben hat, trotz seines übervollen Terminkalenders. Im zweiten Jahr seines dreijährigen Informatikstudiums arbeitet er „nebenbei“ in einer berühmten japanischen Firma, bei der er die Spiele für die trendigste Spielkonsole entwickelt.
Während seiner „Sprachshow“ sieht er mich plötzlich ernst an und nimmt mich in seine Arme. „Ich arbeite darauf hin, dass wir eines Tages in unserer jeweiligen Muttersprache miteinander sprechen können. Ich möchte so bald wie möglich mit deinen Großeltern ein Gespräch führen können – ohne deine Übersetzung. Sonst werde ich immer der Fremde in deiner Familie bleiben. Das ist schlimmer, als auf einer Party nur die Hälfte zu verstehen …“, flüstert er mir ins Ohr.
Es freut mich, dass es ihm so wichtig ist, mich eines Tages in meiner Muttersprache zu verstehen. Wenn ich ihm wahrscheinlich auch Extra-Lektionen in unserem Dialekt werde geben müssen, denn der ist noch einmal deutlich anders als Hochdeutsch.
Während Kinnon sich gerade wieder mit einigen Leuten unterhält, zieht mich Kayla kurzerhand auf die Tanzfläche. Ich sehe, wie ihr Kinnon dankbar zulächelt.
Kayla ist herrlich unkompliziert. Ich habe sie erst bei meinem Einzug in die WG kennengelernt. Sie stammt aus Wales und ist schon seit drei Jahren in London, wo sie an einer Hochschule für Event Management studiert. Ihr Freund ist auch Ire, der in Wales lebt, sodass sie gerne in Gesellschaft von Iren ist. Sie ist klein, dunkelhaarig, zierlich, quirlig und lacht gerne. Ich habe sie sofort ins Herz geschlossen – und sie mich zu meinem Glück auch, obwohl sie eine Freundin von Ava ist.
Ava ist heute nicht auf der Party. Sie wäre die vierte Mitbewohnerin von Kinnons WG gewesen, aber sie zieht gerade um. Seit er nach London gezogen ist, hat sie sich darauf versteift, mit ihm eine Beziehung zu beginnen. Mit meinem Einzug in die WG hat sie nicht mehr länger die Augen vor der Tatsache verschließen können, dass sie bei ihm nie eine Chance haben wird. Ava hasst mich dafür.
„Au!“ Mit einer Grimasse hebe ich meinen rechten Fuß hoch, der die Bekanntschaft mit spitzen High Heels gemacht hat. Das kommt davon, sogar beim Tanzen in den eigenen Gedanken zu versinken.
„Was soll das?“, ruft Kayla empört.
Die blonde Tussi ignoriert sie und grinst mich nur gehässig an, bevor sie weitertanzt. Warum sollte ich mir denn von einer, die mir mit ihren Aufreißschuhen fast die Zehen abgesäbelt hat, erwarten, dass sie sich entschuldigt?
Ich lege beruhigend eine Hand auf die Schulter von Kayla, die so aussieht, als ob sie auf sie losgehen möchte. „Lass gut sein.“
Ein Reggae wird gespielt, und ich nehme sie bei den Händen, um ausgelassen mit ihr herumzuhüpfen.

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Mehr über und von Stella Jante auf ihrer Website.

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