9. August 2016

'Der Klarträumer' von Nicolai Richter

Ein erfolgreicher Vloger in der Klartraumszene gerät in die Zwischenwelten von Traum, Klartraum, Drogentrip und Realität. Geschehnisse und Personen aus seinen Träumen erscheinen plötzlich in der Wirklichkeit. Als sein Compagnon tot aus der Elbe geborgen wird, deuten alle Zeichen darauf hin, dass er ihn ermordet hat. Doch er kann sich an nichts mehr erinnern.

Um sich selber und die Menschen in seinem engsten Umfeld vor sich zu schützen, begibt er sich freiwillig in die geschlossene Abteilung einer Psychiatrie. Nur langsam fängt er an, die tatsächlichen Ereignisse hinter seiner Geschichte zu durchschauen. Doch als er endlich die wahren Drahtzieher hinter seinem Albtraum erkennt, scheint es schon zu spät zu sein.

Gleich lesen: Der Klarträumer: Psychothriller

Leseprobe:
Berlin, 6 Tage vor der Wahrheit
Gegen 21 Uhr betrat Schwester Martha die Eingangshalle der Psychiatrischen Klinik in Dahlem. Es war ihre fünfte Nachtschicht in Folge.
Heute Nacht war irgendetwas anders als sonst. Die vergitterten Fenster warfen ein bizarres Licht auf die Stufen und Wände und ihre Schritte hallten durch das Treppenhaus. Dann bemerkte sie, dass es anders roch als gewöhnlich, genau genommen roch es nach gar nichts. Schwester Martha erklärte das mit ihrer schlechten Laune, sie hasste diese Jahreszeit, seit Tagen lag eine zähe Smoke-Decke über Berlin und hüllte die Menschen in Dunkelheit. Durch die Strassen fegte ein eisiger Wind und überall sammelte sich Schneematsch mit den Abfällen und verstopfte die Gehwege. Am liebsten würde sie einfach im Bett bleiben, bis der Frühling kam, dachte sie, als sie die letzte Treppe in Angriff nahm. Plötzlich blieb sie stehen, sie glaubte, etwas gehört zu haben. Sie konnte nicht genau sagen, ob da einer ihrer Patienten schrie oder irgendwo nur der Fernseher zu laut lief. Schwester Martha beschleunigte ihren Gang nach oben. Dann hörte sie einen Knall, als wenn jemand die Türe zugeschlagen hätte. Sie eilte die letzten Stufen hoch und blieb im Gang stehen. Jetzt hörte sie nichts mehr, auch keinen Fernseher. Sie ging ins Schwesternzimmer, lies die Tür aber auf und schaltete das Radio leise ein. Gegen 21 Uhr 30 setzte sie sich in den Sessel und las eine Illustrierte.
Mit der Zeit wurde sie müde und die Augen fielen ihr immer wieder zu. Sie war gerade eingenickt, als sie durch den schrillen Ton des Zimmeralarms aus ihrem kurzen Traum gerissen wurde. Schwester Martha schaute auf den Monitor, Johnny Kunze in Zimmer 414.

Berlin, 6 Monate vor der Wahrheit
Kurz vor Weihnachten hatte Johnny schon einmal den Alarm ausgelöst. Nicht in der Psychiatrie, sondern in einem Parkhaus.
Dort traf er sich um 2 Uhr in der Nacht mit einem Freier in seinem BMW Van 220i. Ein Familienvater, wie er sehen konnte, als der Mann mit Wohlstandsbauch und Goldrandbrille den Hunderter aus seiner Brieftasche zupfte. Auf dem Foto in der Brieftasche sah man ihn mit seiner Frau und zwei kleinen Mädchen, wie sie im Garten an einem Tisch mit einer grossen Geburtstagstorte sassen. Es sah so aus, als würden sie alle Happy Birthday singen. Das grössere Mädchen hatte einen weissen Labrador-Welpen mit einer roten Schleife am Halsband auf dem Schoss. Im Hintergrund konnte man einen Baum erkennen, auf dem zwei Krähen sassen. Mit offenen Schnäbeln und ausgestreckten Fittichen, als würden sie mitsingen.
Mit dem verdienten Hunderter bezahlte er als erstes den Dealer, der im Treppenhaus auf ihn wartete. Dann setzte er sich auf der Herrentoilette durch die Vene des linken Fusses einen Schuss Heroin und rauchte aus Alufolie ein Gemisch aus Chrystal Meth und Kokain. Kurz darauf ist er neben der Toilette für ein paar Stunden eingeschlafen. Er träumte von weissen Wölfen, die ihn auf einem Schlitten durch die Milchstrasse zogen. Neben ihm sass eine Prinzessin in einem silbernen Mantel. Auf den Mantel waren alle Sterne des Universums genäht. Ihre goldenen Haare waren das Licht der Welt und ihre Augen die grossen blauen Weltmeere.
Als er dann aufwachte, wusste er weder, wo er war, noch konnte er sich erinnern, wie er in dieses Parkhaus gekommen war. Dann setzte die Paranoia ein. Er rannte panisch durch das Parkhaus, rannte in Kreisen, rannte das Treppenhaus hinauf und wieder hinunter. Kurz darauf setzte der Juckreiz des Crystal Meths ein und er fing an, sich an den Armen und Unterschenkeln zu kratzen. Dann hämmerte er mit geballten Fäusten und schlug mit dem Kopf gegen die Wände, die sich ihm plötzlich in den Weg stellten. Unter seiner Haut sah er kleine Käfer und Würmer. Und hinter jeder Ecke, in jedem fahrenden Auto sah er CIA-Agenten, die ihn töten wollten. Er fing an, Zahlen der Parkplätze mit Zahlen der Etagen zu multiplizieren und addierte sie mit den ungeraden Zahlen auf den Nummernschildern von schwarzen Autos. Dann tippte er die Zahlen in die Parkscheinautomaten.
Nach sieben Stunden brach Johnny erschöpft und dehydriert drei Meter vor dem Ausgang zusammen. Nachdem er mit letzter Kraft noch die Scheibe des Feuermelders eingeschlagen hatte.
Die Feuerwehre lieferte ihn dann im Krankenhaus ab, wo man ihn nach einer Woche soweit aufgepäppelt hatte, dass er in die geschlossene Abteilung der Psychiatrie verlegt wurde.

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