'Die Moral des Todes' von Mark Franley
Eine Woche lang Weiterbildung in Berlin. Hauptkommissar Lewis Schneider ist sich sicher, dass es sich dabei nur um eine Bestrafung seines Chefs handeln kann. Als am Ende des ersten Seminartages eine schaurig inszenierte Leiche gefunden wird, nutzt er die Chance und versucht an den Ermittlungen beteiligt zu werden.
Ein Mord, ein Unglück ungekannten Ausmaßes und eine Reporterin, die zu viel weiß. Bereits die ersten Erkenntnisse der Mordkommission weisen darauf hin, dass es sich nicht um Zufälle handelt, und bald darauf steht fest, dass der Täter gerade erst mit seinem perfiden Spiel begonnen hat. Sein Ziel ist es, Angst und Schrecken zu verbreiten. Kein Mensch in dieser Stadt soll sich mehr sicher fühlen, sie sollen spüren, wie es ist, wenn man auf der anderen Seite steht.
Die Gründe für Lewis gespaltenes Verhältnis zu Berlin scheinen sich zu bestätigen. Kann er den Psychopathen aufhalten und ein Stück seiner Vergangenheit zum Guten wenden?
Gleich lesen: Die Moral des Todes: Psychothriller
Leseprobe:
»Wie geht es Ihnen?«
Der Standardsatz klingt so abgedroschen wie immer. Ich bemühe mich und höre mich selbst sagen: »Ich hatte gute Tage.« Seine Augen zeigen eine erfreute Reaktion, ich habe meine Sache gut gemacht. Er schließt die Tür mit dieser eingeübten Bewegung, die sie alle draufhaben. Die linke Hand drückt die Tür ins Schloss, während die rechte bereits auf den mir zugedachten Stuhl zeigt. Der Boden unter meinen Schuhen fühlt sich weich an. Vielleicht auch einer dieser Tricks, um von vornherein für etwas Entspannung zu sorgen.
Während mir das kalte Kunstleder des Stuhls ein leichtes Frösteln über die Haut jagt, nimmt auch er Platz. Wie erwartet folgt der obligatorische Blick in meine Akte, dann hebt er den Kopf und mustert mich. Alles wie immer, wobei ich mich frage, für was dieser Blick in die Akte gut sein soll. Wir kennen uns inzwischen seit über einem Jahr und die Gespräche drehen sich immer um die gleichen Themen. Auf diesem Papier kann faktisch nichts Neues stehen.
»Sie wirken etwas abwesend, geht es Ihnen wirklich gut?«
Die Frage war gefährlich. Alarmiert schiebe ich meine eigentlichen Gedanken ein wenig zur Seite: »Ja … ja, alles gut. Ich musste nur gerade über Ihren Teppich nachdenken.«
»Über meinen Teppich?«
Ich habe ihn überrascht und damit abgelenkt, das ist gut. Nun vermittelt meine Körperhaltung eine Entspanntheit, die ich nicht habe, zumindest nicht mehr in dem Leben, das gemeinhin als normal bezeichnet wird. Meine Stimmlage trifft exakt den richtigen Plauderton, als ich erkläre: »Ihr Teppich fasziniert mich jedes Mal. Er vermittelt einem das Gefühl zu schweben. Darf ich fragen, wo man so etwas bekommt?«
Für einen kurzen Augenblick glaube ich, er hat mich durchschaut, aber so gut ist er nicht. Wie jeder Mensch, der ein Kompliment bekommt, kann auch er sich der Wirkung nicht entziehen. Mit dem Versuch, nicht auf dieser banalen Ebene zu bleiben, murmelt er wie nebenbei: »Ich gebe Ihnen später die Adresse des Ladens«, und mit einer Geste, die wichtig wirken soll, kehrt er zu dem eigentlichen Grund meines Besuchs zurück: »Sie sagten vorhin, dass Sie sehr gute Tage hatten. Wie darf ich das verstehen?«
Ich kenne deine Fallen, schießt es mir durch den Kopf, und ich antworte ohne jede Aggressivität in der Stimme: »Sehr gut waren sie nicht, das sagte ich auch nicht. Aber ja, ich hatte gute Tage.« Und nach der obligatorischen Pause füge ich hinzu: »Diese Geschichte, die Sie mir das letzte Mal erzählt haben. Wissen Sie noch? Die, in der es um das Kind mit den Alpträumen ging und darum, wie das Kind dagegen ankämpfen konnte. Diese Geschichte ist irgendwie hängen geblieben, und immer wenn es in mir dunkel wurde, konnte ich dem etwas entgegensetzen.«
BAM, das nächste Lob, und ich weiß: In dieser Sitzung kann er mir nichts mehr anhaben.
»Möchten Sie die Geschichte noch einmal hören?«
Ich nicke, denn genau das war der Grund, warum ich ihn gelobt habe. Solange er mir etwas vorliest, kann ich meinen Gedanken freien Lauf lassen und muss nicht ständig auf der Hut sein. Folglich antworte ich fürsorglich: »Haben wir denn noch so viel Zeit?«
Ein schneller Blick zur Uhr, eine Geste der Entspannung, dann greift er zum Buch. »Ja, das schaffen wir noch, und wenn es Ihnen so gut geholfen hat, kommt es auf ein paar Minuten mehr nicht an.«
Lüge, das Wort flammt in mir auf, als hätte jemand einen Scheinwerfer eingeschaltet. Prof. Dr. Gayer hat für einen Pflichtpatienten, wie ich einer bin, noch nie eine Minute mehr als nötig geopfert. Die Krankenkasse zahlt lausig und vor der Tür sitzt mit Sicherheit schon jemand, bei dem er ein Vielfaches abrechnen kann.
Während er das schmale Kinderbuch zur Hand nimmt, mache ich, was er mir bereits beim letzten Mal gesagt hat. Ich lehne mich zurück, schließe die Augen und tue, als würde ich seiner Stimme lauschen.
Natürlich höre ich nicht zu. Erstens ist mir die Geschichte scheißegal und zweitens ist der Mann ein furchtbarer Vorleser. Ob ich ihn vielleicht doch töten sollte, kommt es mir wieder einmal in den Sinn, aber eigentlich habe ich dieses Thema bereits abgehakt. Es wäre einfach nur dumm und schon zu viele sind an ihren dummen Fehlern gescheitert. Außerdem halte ich den Mann für keinen schlechten Psychiater. Im Gegensatz zu manchen anderen lässt er sich nicht zu voreiligen Schlüssen hinreißen und was das Wichtigste ist, er versucht, das Gute in jedem zu sehen. Ein Umstand, der ihm vermutlich gerade das Leben rettet. Prof. Dr. Gayer macht, was er gelernt hat, und bei den meisten seiner Patienten gelingt ihm vielleicht tatsächlich der Blick hinter den Schädelknochen. Dass es bei Menschen wie mir nicht funktioniert, ist nicht seine Schuld. Gegen die Mauern in meinem Geist ist die Chinesische Mauer nicht mehr als ein Blatt Papier. Nein, ich kann ihm wirklich nichts zum Vorwurf machen.
Zurück auf der Straße lobe ich mich selbst für die Abschiedszene. Meine Tränen der Erleichterung waren über jeden Zweifel erhaben und stimmten Prof. Dr. Gayer zuversichtlich, bald einen Abschlussbericht schreiben zu können. Es ist unglaublich, wie viel Zeit ich in meinem alten Leben darauf verschwendet habe, darüber nachzudenken, was andere von mir halten und wie ich es ihnen allen recht machen kann. Doch das ist vorbei, jetzt geht es nur noch um mich und darum, meinen göttlichen Auftrag auszuführen. Ich bin das Zentrum und da dies nicht jeder wahrhaben will, ziehe ich meine Konsequenzen.
»Es waren gute Tage«, sagte ich vor einer Stunde und in der Tat, das waren sie. Wie lange habe ich nach Antworten darauf gesucht, was dieser Dämon in mir eigentlich will? Wie haben mich seine tausend Gesichter malträtiert. Mal als Wutausbruch, mal in tiefer Traurigkeit, mal mit dem Messer über der Haut meiner Pulsadern. Dann las ich sie, diese eine kurze Geschichte. Es war ein plötzliches Begreifen von bestechender Klarheit. Nicht ich bin das Problem, es ist die Gesellschaft, die hinter der Maske aus Moral alles in Schutt und Asche legt.
Schließlich begriff ich, was mit Worten nicht zu vermitteln ist. Auge um Auge, Zahn um Zahn, etwas anderes versteht man damals wie heute nicht.
Er, mein erstes Geschenk an mich selbst, sitzt bereits in meinem Keller und wartet darauf, dem gegenüberzutreten, dessen Worte er mit Füßen getreten hat.
Jahrelang hat er geglaubt, Menschen manipulieren zu können. Im Namen einer falschen Moral hat er hochmütig Lügen erzählt und sein Wort als das einzig Wahre dargestellt.
Heute Nacht, nachdem ich ihm gezeigt habe, was für ein Unglück seine Macht über die Menschen gebracht hat, wird Gott die Hand ausstrecken und sich holen, was ihm gehört … eine weitere kalte Seele.
Noch ist es nicht so weit, bis zu meinem großen Auftritt bleibt mir genügend Zeit, und so beschließe ich, diesen ersten Paukenschlag zu feiern. Es ist ein komischer Gedanke, aber warum eigentlich nicht? Der kleine Supermarkt liegt auf dem Weg. Hier kennen mich die Leute, auch wenn wie immer niemand Notiz von mir nimmt.
Normalerweise liebe ich ein gut gebratenes Steak, ob es mir heute Abend schmecken wird, weiß ich allerdings noch nicht, dazu fehlen mir einfach die Erfahrungswerte. Egal.
Während mir die freundliche Verkäuferin ein zwei Finger dickes Stück Fleisch herunterschneidet, plaudern wir ein wenig über die anderen Kunden. Im Laufe eines Tages hat sie ständig mit den unterschiedlichsten Menschen zu tun und ich verstehe nur zu gut, was sie über einige von ihnen denkt. Im Gegensatz zu mir steht sie noch immer ganz am Ende der Nahrungskette. Eine alternde, alleinerziehende Verkäuferin mit schmutziger Schürze entlockt den meisten Menschen allerhöchstens einen betroffenen Gedanken. Der großen Masse ist sie schlicht egal.
Mit den Worten »Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag und lassen Sie sich nicht mehr ärgern« nehme ich das Bündel mit dem blutigen Fleisch entgegen und verabschiede mich. Sie lächelt, vielleicht das einzige Mal an diesem Tag.
Die weiteren Zutaten für meine kleine Privatfeier sind schnell gefunden und so verlasse ich zehn Minuten später den Laden. Eine gute Flasche Wein, roter natürlich, ein paar Zuckerschoten und ein paar Kroketten zu dem frischen Fleisch. Welch ein Leichenschmaus, denke ich schmunzelnd und gleichzeitig begreife ich, wie gut mir das alles tut. Es gleicht am ehesten einer Transplantation. Als ob man das faulige Stück Seele für eine Weile auslagert … Allerdings ist es auch, und dessen bin ich mir durchaus bewusst, eine Erleichterung auf Zeit. Doch wenn ich alles richtig mache, kann ich es jederzeit wiederholen, denn es gibt noch so viele von ihnen. Der Gedanke daran jagt mir einen wohligen Schauer über den Rücken.
Pünktlich um fünfzehn Uhr betrete ich den kleinen Raum im Keller meines Elternhauses. Früher habe ich hier meine Fotos entwickelt, doch seit es Digitaltechnik gibt, erübrigt sich das. Trotzdem steht alles, was man dazu benötigt, noch fein säuberlich abgedeckt in einer Ecke. Ich mag den Gedanken nicht, aber vielleicht kommt irgendwann der Tag, an dem ich die jetzige Bestimmung dieses Raums leugnen muss.
In Gedanken noch nicht ganz bei der Sache werfe ich zunächst nur einen flüchtigen Blick auf ihn, wobei ich feststelle, dass es nun auch genug ist. Diese schmalen braunen Augen, das inzwischen ungewaschene Haar und der Mund, mit dem er mich einlullen wollte, erzeugen nur noch Ekel in mir. Alles, was ihn noch ein kleines bisschen interessant macht, ist diese Angst, die er ausstrahlt und mit der er mir nur noch mehr Macht verleiht.
Ohne auf das wehleidige Gewinsel einzugehen, klappe ich den mitgebrachten Laptop auf und sage: »Ich werde dir jetzt den Knebel abnehmen und dir etwas zu trinken geben. Anschließend wirst du mir die Passwörter für deine Konten bei den sozialen Netzwerken geben und mir mit deinen Worten einen Text an deine Anhänger diktieren. Hast du das verstanden?«
Er nickt, aber in seinem Blick liegt keine Zustimmung. Ich stelle den Laptop auf den Stuhl, der ihm gegenübersteht, trete hinter ihn und löse den Knoten des Tuchs, das ihn am Reden hindert. Doch bevor ich den Stoff freigebe, beuge ich mich an sein Ohr und flüstere: »Nicht dass wir uns falsch verstehen, dein Leben wird davon abhängen, ob ich mit der Zusammenarbeit zufrieden bin. Du solltest dir also Mühe geben.« Er nickt erneut und ich nehme den Knebel aus seinem Mund. Seine ersten Sprechversuche sind so jämmerlich wie alles an ihm. Er bekommt das versprochene Wasser, trinkt gierig und fragt dann mit rauer Stimme: »Was soll ich tun?«
»Zuerst die Passwörter für Facebook, Twitter und den Zugang für deine Parteien-Website.«
»Warum?«
Der Schlag ins Gesicht trifft ihn völlig unerwartet und hinterlässt eine kleine Platzwunde über dem Auge. Eigentlich kann ich mit dieser Form von Gewalt nichts anfangen, habe aber keine Zeit für Spielchen. Ich setze mich auf den Stuhl, lege den Laptop auf meine Oberschenkel und frage ruhig: »Wie lauten die Passwörter?«
Er räuspert sich, zwinkert das Blut aus seinem linken Auge und sagt widerwillig: »Adolf1939 … bei allen drei Seiten.«
»Hätte ich mir denken können«, murmele ich und tippe die Buchstaben in die entsprechenden Felder der bereits geöffneten Internetseiten
Im Kindle-Shop: Die Moral des Todes: Psychothriller
Mehr über und von Mark Franley auf seiner Website.
Labels: Mark Franley, Thriller
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