'Glücksfaserrisse' von Gabriele Popma
Kindle Edtion | Tolino | Taschenbuch |
Unterdessen verliebt sich ihr Sohn Gerry mitten im Abiturstress in eine Mitschülerin. Die Beziehung erweist sich jedoch als ungeahnt problematisch. Große Sorgen macht er sich zudem um einen Freund, der seit einem einschneidenden Erlebnis keinen Sinn mehr im Leben sieht. Als Gerry die komplette Tragweite seiner Geschichte erfasst, ahnt er, dass Hilfe für ihn zu einem Wettlauf gegen die Zeit wird.
Und dann taucht auch noch Corinnas Ex-Ehemann wieder auf ...
Leseprobe:
„Jetzt komm schon in die Hufe, Junge. Das Layout muss heute noch raus. Wenn du dich nicht beeilst, schaffen wir es nie rechtzeitig zur Feier.“
Sandie sah von seinem Computer auf, um seinem Kollegen Dieter einen kurzen Blick zuzuwerfen. Er war noch müde von dem langen Abend zuvor und hätte den Empfang nach der Arbeit am liebsten geschwänzt. Doch Frau Hahn hatte alle Mitarbeiter persönlich eingeladen und er fand keinen plausiblen Grund, um jetzt noch abzusagen.
„Ich hätte nichts dagegen, wenn ich hier noch so lange beschäftigt wäre, dass ich das ganze Getue verpasse“, grunzte er unwillig.
„So ein Unsinn“, widersprach Dieter. „Ich habe vorhin gesehen, welche Köstlichkeiten dafür angekarrt wurden. Das gibt ein Festessen, sage ich dir.“ Er leckte sich genüsslich über die Lippen.
Sandie grinste. Dieter hatte sich besonders fein gemacht. Er trug eine graue Hose und ein schickes Sakko. Am Morgen war er sogar mit Krawatte erschienen, die er jedoch abgelegt hatte, als Sandie bei seinem Anblick laut herausgeprustet war. Er selbst hatte widerwillig Corinnas Drängen nachgegeben, wenigstens ein weißes Hemd anzuziehen. Die Leinenhose, die sie ihm herausgelegt hatte, hatte er allerdings verschmäht und sich stattdessen für eine schwarze Jeans entschieden. Es waren nun mal seine Lieblingshosen und bei der Arbeit am praktischsten. Er musste schon höllisch auf das weiße Hemd aufpassen. Feixend dachte er an Corinnas Gesichtsausdruck, als sie entdeckt hatte, dass er ein rotes T-Shirt darunter angezogen hatte. Er konnte von Glück sagen, dass sie ihm seine Klamotten nicht um die Ohren geschlagen hatte. Aber sie hatte keine Ruhe gegeben, bis er wenigstens das T-Shirt gegen ein weißes eingetauscht hatte.
Er schob sich von der Tischkante zurück. „Wir haben ja noch fast zwei Stunden Zeit“, beschwichtigte er seinen Kollegen. „Das reicht locker für das Layout. Ich hole mir erst mal einen Kaffee, sonst schlafe ich hier noch ein.“
Sandie machte sich auf den Weg zur Kantine, in der ständig frischer Kaffee für die Mitarbeiter bereitstand. Wie immer umfasste er die Ecksäule vor dem Eingang in den großen Raum mit der Hand und drehte sich mit Schwung um sie herum. Allerdings kam ihm dieses Mal jemand entgegen. Sandie sah nur einen vagen Schatten, war jedoch geistesgegenwärtig genug, seinen Rollstuhl mit einem schnellen Griff in die Greifräder zu stoppen. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass eine schlanke, ihm unbekannte Frau fast auf seinem Schoß landete. Sie bewahrte in letzter Sekunde ihr Gleichgewicht, doch den Becher Kaffee, den sie in der Hand gehalten hatte, leerte sie dabei über seiner Brust aus. Er zuckte zurück, als der heiße Kaffee ihn traf und sah dann fassungslos auf sein so gehegtes, ehemals weißes Hemd.
„Können Sie nicht aufpassen?“, fuhr er die Frau an, die ihm gegenüberstand, obwohl er genau wusste, dass es seine Schuld gewesen war.
„Entschuldigung“, murmelte sie. Sie hatte eine Hand vor den Mund geschlagen, als wolle sie ihr Entsetzen verbergen, doch die Laute, die Sandie hörte, klangen eher wie ein Kichern. Plötzlich hielt sie es nicht mehr aus, und sie platzte laut heraus.
„Sehr witzig“, knurrte Sandie und drehte sich um.
„Warten Sie, rennen Sie nicht davon.“ Die Frau, die nach Sandies Meinung etwa in seinem Alter sein musste, lief um ihn herum und stellte sich ihm in den Weg. „Es tut mir leid, dass ich lachen musste“, entschuldigte sie sich. „Aber Ihr Gesichtsausdruck war einfach zu komisch.“ Sie wurde ernst. „Sie gehören doch hoffentlich nicht zu der Sorte Mensch, die schnell beleidigt ist, oder?“
Gegen seinen Willen musste Sandie lachen und sein Ärger verflog. Das freundliche, offene Gesicht der Frau war ihm sympathisch. Außerdem gab es nicht viele Leute, die sich trauten, im Zusammenhang mit ihm das Wort rennen zu benutzen. Das allein imponierte ihm schon. „Nicht wirklich“, gab er zu.
„Hervorragend.“ Eine schmale Hand streckte sich ihm entgegen. „Ulla Hanke. Ich fange morgen hier offiziell als Sekretärin an.“
„Hanke?“, hakte Sandie nach, als er die gepflegte Hand schüttelte.
„Ja.“ Sie lächelte. „Um die Frage vorwegzunehmen, die man mir inzwischen etwa zwanzig Mal gestellt hat, ja, ich bin mit Ihrem Chef verwandt. Er ist mein Schwager.“
Also doch Vetternwirtschaft, dachte Sandie, doch er konnte sein anzügliches Grinsen gerade noch zu einem freundlichen Lächeln umwandeln.
„Aha“, sagte er nur, als ihm einfiel, dass er sich ebenfalls vorstellen sollte. „Mein Name ist Alexander Wegener.“
„Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Frau Hanke erwiderte das Lächeln. „Was haben Sie denn jetzt vor?“
„Wie meinen Sie das?“
„Na, in dem Hemd können Sie doch nicht zu Frau Hahns Abschiedsfeier gehen.“
„Ein guter Grund, dem Fest fernzubleiben.“
„Kommt nicht in Frage.“ Frau Hanke schüttelte energisch den Kopf. „Kommen Sie mit. Für mich ist ein kleines vorläufiges Büro eingerichtet worden. Ich wasche ihnen die Flecken schnell heraus, dann lassen wir das Hemd auf der Heizung trocknen und wenn ich mich nicht irre, hat Frau Hahn in ihrem unerschöpflichen Bestand sogar ein Bügeleisen.“
„Wundert mich nicht“, murmelte Sandie.
„Eine Chefsekretärin muss auf alles vorbereitet sein. Kommen Sie.“
Er folgte der Frau in einen Raum in der Nähe des Vorstandszimmers.
„Also, runter mit dem Hemd.“
Sandie gehorchte. Während er sein Hemd aufknöpfte, betrachtete er verstohlen die neue Chefsekretärin. Sie war sehr attraktiv. Das kurze dunkelbraune Haar trug sie in einer eleganten Dauerwelle, was ihr ein würdiges Aussehen verlieh, das allerdings durch ihre joviale und freundliche Art wieder zunichte gemacht wurde. Sie war mittelgroß, schlank und modisch gekleidet. An der rechten Hand trug sie einen Ehering und einen Vorsteckring mit zwei kleinen Saphiren, sowie ein zartes Goldkettchen.
„Sie sind also Alexander der Große.“
„Wer bin ich?“ Sandie hielt in der Bewegung inne und sah die neue Kollegin erstaunt an. Wer um alles in der Welt hatte ihr gegenüber diesen uralten Spitznamen ausgegraben?
„Wissen Sie denn nicht, wie man Sie nennt? Ihr Ruf ist Ihnen schon voraus geeilt.“ Frau Hanke streckte die Hand nach dem Hemd aus und Sandie reichte es ihr gehorsam.
„Doch“, gab er zu. „Allerdings ist das schon eine Ewigkeit her.“ Er hoffte, dass die neue Sekretärin den Namen tatsächlich seiner Größe von 1,90 Metern zuordnete, die man ihm sogar im Rollstuhl ansah und ihr die wahren Hintergründe dieser Bezeichnung verborgen geblieben waren.
Sie sah ihn prüfend an. „Ihr T-Shirt hat ebenfalls etwas abbekommen. Soll ich das auch mitnehmen?“
„Nein, danke. Die Flecken sieht man ja unter dem Hemd nicht.“ Es wäre ihm einfach zu peinlich gewesen, mit nacktem Oberkörper vor dieser attraktiven und resoluten Frau zu sitzen.
„Okay.“ Sie nickte, während sie ein Papiertaschentuch aus ihrer Rocktasche zog. „Hier sind auch noch ein paar Spritzer. Darf ich?“ Mit einer Selbstverständlichkeit, die Sandie erstaunte, wischte sie seinen Rollstuhl ab. „So, jetzt dürften alle Spuren unseres ersten Treffens beseitigt sein.“ Sie lächelte. „Ab morgen habe ich eine Kaffeemaschine zur Verfügung. Darf ich Sie mal zu einer Tasse einladen? Als Ausgleich für den, mit dem ich Sie getauft habe.“
„Es war ja eigentlich meine Schuld“, gab Sandie zu. „Aber ich komme gern. Allerdings muss ich jetzt noch etwas arbeiten. Sonst bin ich zur Feier nicht fertig.“
„Das wäre schade.“
„Ja, das wäre es wirklich.“ Sandie stellte fest, dass er sich plötzlich auf die Betriebsfeier freute. Vielleicht ergab sich dabei die Möglichkeit, diese Bekanntschaft zu vertiefen. Als Frau Hanke ihm die Hand reichte, elektrisierte ihn die Berührung. Tief verwirrt drückte er fester zu, als er beabsichtigt hatte und fühlte deutlich, wie zwischen ihnen ein Funke der Sympathie übersprang.
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Labels: Familie, Gabriele Popma, Liebe
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