'Ich schenke dir den Schmerz' von Ralf Gebhardt
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Ohne zu wissen, dass sich der Psychopath mit einer Bestie verbündet hat, muss Störmer gleichzeitig ein Rätsel um die unbekannte Macht einer noch aktiven DDR-Seilschaft der Staatssicherheit lösen. Als der Kommissar selbst zur Zielscheibe wird, läuft die Zeit davon …
Leseprobe:
ZWEI
Der Nebel lag wie zäher Wattedampf auf den nassen Gräbern. Es war Samstag, kurz nach acht Uhr morgens. Eine Zeit, zu der man lieber unterwegs war, um frische Brötchen vom Bäcker zu holen.
Staatsanwalt Bernhard Nagel und Kriminalhauptkommissar Richard Störmer bummelten schweigend über den halleschen Südfriedhof. Sie betrachteten die Steine der Erinnerung, hatten ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt und ihre Mantelkragen hochgeschlagen. Im Schutz der Bäume versuchten sie, dem Nieselregen auszuweichen. Die Sonne nutzte die Wolken als Versteck. Es mochten kaum acht Grad sein, die sich aber deutlich kälter anfühlten. Trotz Frühling roch es nach Herbst und Moder.
Störmer räusperte sich. „Wir haben ein Problem. Wahrscheinlich.“
„So was vermutete ich schon. Du hast bestimmt einen trefflichen Grund, mich am frühen Morgen hierher zu bitten.“
„Ich bin auf dem Weg zur Polizeidirektion. Und ja, einen Grund habe ich.“
Sie waren an einem Doppelgrab angekommen. Störmer kniete sich hin, wischte verwelkte Blätter von der Marmorplatte und ordnete das schmückende Tannengrün neben dem schlichten Holzkreuz. Er wandte sich Staatsanwalt Nagel zu.
„Hier ruhen zwei deiner ehemaligen Mitschülerinnen, Bernhard. Ich befürchte, sie erhalten bald Gesellschaft.“
„Du meinst … “
„Ja. Hör zu, ich bin gestern Abend in der Dienststelle kurz vor Feierabend noch die Vermisstenlisten durchgegangen, reine Routine. Normalerweise schaue ich, ob mir der eine oder andere Name etwas sagt. Wäre unser letzter Fall länger her, hätte ich sicher nichts bemerkt.“
Jetzt hatte er die volle Aufmerksamkeit von Nagel. „Wegen dem entkommenen Entführer und Serientäter Michels? Habt ihr eine neue Spur?“
„Wie man es nimmt. Also, du kennst doch das Einkaufszentrum in Halle-Peißen. Dort ist neben dem Eingang zum Elektronikmarkt eine öffentliche Toilette.“
„Wo man erst den endlosen Gang hinuntergeht?“
„Genau, da sind in den letzten Tagen vier Frauen, die sich zum Schlussverkauf getroffen haben, spurlos verschwunden.“ Er zog eine Kopie der Liste mit den Namen der Vermissten aus seiner Innentasche und hielt sie Nagel hin. Der zog tief mehrmals zischend Luft ein.
„Verdammt. Was wissen wir schon?“
„Also, zu den Toiletten geht es links in einen kleineren Seitengang. Es gibt Zeugen, die haben hier einen Angestellten mit blauem Kittel und Basecap gesehen. Unser Problem ist, dass dort ausschließlich weibliches Personal mit der Toilettenreinigung beauftragt ist.“
„Okay, und was hat das mit dem Verschwinden der vier Frauen zu tun?“
„Im Papierkorb haben wir ein weggeworfenes Sperr-Schild gefunden. Es war am Computer selbst gebastelt. An den Ecken hing das Klebeband noch dran.“ Er reichte ihm Fotos.
„Du meinst, der Täter hat eine Art selbstgemachtes Plakat angebracht und die Frauen damit einfach vom stillen Örtchen umgeleitet? Mit einem so billigen Trick? Getreu dem Motto: Tür geschlossen, bitte die nächste? Da lässt sich doch keiner darauf ein. Ich fasse es nicht.“
„So muss es gewesen sein. Wie damals in Mansfeld, da hat er auch einfach VIP-SHUTTLE-SERVICE auf ein Schild geschrieben und von innen an die Frontscheibe seines Transporters geklebt. Die Menschen glauben, was sie sehen, und steigen ein. Dazu kommt, dass die Außentür des Einkaufscenters neben den Sanitäranlagen sonst verschlossen ist. Diesmal stand sie offen. Wir vermuten, dass er dahinter rückwärts mit seinem VW-Bus parkte. Die Frauen mussten auf die Toilette, sind den gefälschten Hinweisen gefolgt. Nachdem sie die falsche Tür geöffnet haben, muss er sie in seinen Bus gezogen oder gestoßen haben. Tür zu und los. Sie hatten keine Chance zu begreifen, was da passiert. Dank der selbsterstellten Hinweisschilder war es die perfekte Entführungsfalle.“
„Verdammt!“ Nagel stampfte. Er öffnete seinen Mantel. Ihm war heiß.
„Wenn das bekannt wird, traut sich doch nie wieder jemand dort auf die Toilette, dann gibt es Angst und Panik unter den Leuten! Das darf nicht passieren. Keine Frau wird je wieder einfach so in Ruhe aufs Klo gehen können! Nicht dort und nicht woanders. Umgeleitet, wo gibt’s denn so was.“
Das schwache Morgenblau des Himmels war jetzt komplett verschwunden und hatte eine tiefgraue, schlierige Schattierung bekommen.
„Genau deshalb fand ich, solltest du es wissen.“
Staatsanwalt Nagel nickte ihm dankbar zu. „Wir müssen etwas unternehmen. Ich werde mit der Oberstaatsanwältin reden, damit sie uns den Fall überträgt. Niemand kennt Michels so wie du, deshalb will ich dich bei den Ermittlungen dabei haben.“
Störmer war bereits einige Schritte weitergegangen. Er hatte vermutet, dass es so laufen würde.
„Verschon mich damit. Für mich ist es noch zu früh. Außerdem wissen wir nicht, ob es überhaupt Michels war.“
„Aber die Wahrscheinlichkeit ist sehr groß. Also gut, lass die Toilette sperren, schieb bauliche Gründe vor.“ Nagel sah auf die Uhr, bevor er weitersprach. „Ich muss los, bin spät dran, es geht nach Berlin zu einer Weiterbildung. Bitte stell eine Akte zusammen, schreib einen Bericht und mail ihn mir. Du erreichst mich auf dem Handy.“
Sie gaben sich zum Abschied die Hand. „Ich muss jetzt wirklich los, noch die neue Referendarin abholen. Ich mache euch bei Gelegenheit miteinander bekannt. Wir sehen uns am Dienstag, okay?“
Samstag zu einem Seminar? Das entsprach nicht den Abläufen einer Staatsanwaltschaft. Ein schöner Versuch, ein Alibi für das Wochenende zu finden. Nagel und die Frauen. Das würde sich wohl nie ändern.
Störmer schob die Hände tief in die Manteltaschen und lief los. Seine verletzte Schulter war immer noch wetterfühlig. Er verzog das Gesicht, als er daran dachte, wie Michels sie im Kampf mit einem Holzbalken bearbeitet hatte.
War das jetzt eigentlich sein neuer Fall?
Die Wunden tief in ihm drin waren zu groß und er noch nicht bereit, überhaupt einen Fall zu übernehmen. Das musste er nur noch Nagel beibringen.
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Labels: Bücherbord, Krimi, Ralf Gebhardt
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