'Mathias: und andere Erzählungen vom Leben' von Bettina Dyes
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Wir alle kennen die Lebensdaten unserer Mütter, Väter, Großeltern, geprägt durch die beiden Weltkriege. Die Zurückgebliebenen erwähnen oft nur wenig mehr als die Daten, die bewegenden Geschichten dahinter werden selten hervorgeholt. Aber auch eigene Erlebnisse und Beobachtungen der Autorin bildeten Samen, die beim Schreiben aufgingen.
Die Erzählungen kreisen um Momente im Leben, die alles verändern, tief im Inneren und auch tragisch im Äußeren. Wie erleben das die Menschen? Was machen sie daraus? Wohin führt sie das Geschehen?
Anleser:
Das entwichene Leben
Sie ist so freundlich, für jeden hat sie ein strahlendes Lächeln, ein liebes Wort. Und sie ist immer auf den Beinen. Aufmerksam packt sie überall mit an, wo eine helfende Hand gebraucht wird und kümmert sich um andere, um die, die noch schlechter dran sind als sie.
Sie ist anders als die übrigen, die mit ihr hier wohnen, in diesem großen Haus, in dem alles so wohlüberlegt, funktional ist und so bemüht freundlich, hier in der vermutlich letzten Wohnstätte ihres Lebens.
Das ist nun das, was übrig ist von ihrem Leben, aber das ist der Frau vermutlich nicht bewusst. Dabei ist sie weit jünger als die meisten anderen hier. 76 Jahre war sie, als ihr Mann sie vor zwei Jahren hierher gebracht hatte. Über 50 Jahre, so lange sind sie schon miteinander verheiratet.
Kinder hatten nie einen Platz zwischen ihnen gefunden, nie in ihrem Bauch ihr Wachstum begonnen. Ihre Beziehung zueinander war für die beiden immer etwas Besonderes geblieben. Sie waren ein gutes Team. Und der Mann war auch dankbares Kind genug für die Frau. In ihrem Herzen war so viel Liebe gewesen, wenn sie alles tat, damit es ihrem »Günthchen« gut ging, wenn sie ihn im Alltag unterstützte mit ihrer unerschütterlichen Kraft und ihrem Optimismus. »Ist er nicht wieder fantastisch gefahren?«. Solche Begeisterungsstürme kamen ihr ganz natürlich über die Lippen, sie empfand das genauso. Die Bestätigung seiner Großartigkeit war Teil des besonderen Bands ihrer Beziehung.
Er war nicht so aufgewachsen, dafür hatte es in den Kriegsjahren keinen Raum und keine Person gegeben. Niemand wusste, was mit seinen Eltern geschehen war und er war 1945 zu klein gewesen, es zu erzählen. Und vielleicht hatte das Grauen auch sein Herz und seine Zunge verschlossen über das, was er seit seiner Geburt 1941 erlebt hatte.
Die Frau war ihm sofort ins Auge gefallen, damals in den noch zaghaft wilden Zeiten auf der Uni in den 60er Jahren. Klein und etwas füllig, keine langbeinige Schönheit wie manch andere, hätte man sie glatt übersehen können, wenn sie nicht mit ihrem strahlenden Optimismus sofort der Mittelpunkt einer jeden Unterhaltung gewesen wäre. Aber sie hatte schließlich ihn gewählt. Weil sie sich bald immer öfter geistreich über die Bücher, die sie beide lasen, austauschten? Weil er sie begleitete ins Museum oder zu all den kulturellen Veranstaltungen, die sie gerne besuchen wollte? Vielleicht aber auch, weil er so reizend hilflos war und sie ihn bemuttern konnte, er den perfekten Rahmen bildete für ihr Leben, in dem sie die Hauptrolle spielte und den ganzen Raum ausfüllte, den das Leben ihr bot.
Es war ein perfektes Leben wie sie beide fanden: sie hatten eine schöne, große Wohnung, ergänzt durch ein Ferienhäuschen im Allgäu. Die vielen Besuche von Theatervorstellungen, all die Reisen, die Treffen mit gleichfalls kulturell Interessierten füllten ihrer beider Leben bis zum Rand aus. Sie waren ein perfektes Team gewesen mit so viel Liebe füreinander, wie es ihren Vorstellungen entsprochen hatte.
Die Frau hatte den Mangel, den es in ihrem Herzen gab, nie gespürt, es hatte ja auch keinen Raum, keine Zeit gegeben, ihn zu spüren. Sie hatte dagegen angelacht und auch angetrunken, immer vergnügt und strahlend optimistisch. In ihren Augen gehörte der Wein dazu, gehörte zu ihrer Vorstellung eines schönen Lebens voller Genuss und Freude. Man konnte dann noch strahlender optimistisch sein, noch herzlicher lachen und alles erschien noch viel leichter. Wirklich schwer war es ja nie. Gegen das Komplizierte arbeitet man an und gönnt sich ein schönes Glas danach …
Eigentlich hätte sie es wissen können, dass dies nicht endlos weitergehen kann, dass man für alles bezahlen muss, wenn man sich etwas nimmt, in ihrem Fall die erzwungene Leichtigkeit. Den Blick auf das eigene Leid ...
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Labels: Bettina Dyes, Kurzgeschichten
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