13. Februar 2020

'Durch die kalte Nacht' von Jürgen Ehlers

Kindle | Tolino | Taschenbuch
Website Jürgen Ehlers
Liebe und Verrat in den besetzten Niederlanden 1943-45

Gerhard Prange wird verhaftet. Im Machtkampf zwischen Wehrmacht und SS hat die SS sich durchgesetzt. Der junge Doppelagent bricht aus dem Gefängnis aus. Es gelingt ihm, sich bis zur Wohnung seiner Freundin Sofieke durchzuschlagen, aber dort endet die Flucht.

Als im Herbst 1944 die niederländische Exilregierung die Eisenbahner des Landes zum unbefristeten Streik aufruft, schlägt der Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart gnadenlos zurück. Im Hungerwinter und im Chaos des Zusammenbruchs sucht Gerhard nach Sofieke und nach der kleinen Sara.

3. Band der Trilogie „Liebe und Verrat in den besetzten Niederlanden“.

Anleser:
Eine Lautsprecherdurchsage. Sofieke eilte ans Fenster. Ein deutsches Militärauto fuhr durch die Straße, und jemand sagte in gebrochenem Niederländisch, dass alle Einwohner dieser Straße innerhalb von 2 Stunden ihre Häuser verlassen sollten, Türen und Fenster offen stehen lassen und nicht vor 5 Uhr am nächsten Morgen zurückkehren. Ein Grund wurde nicht angegeben, aber Sofieke wusste, weshalb sie weg sollten: die Deutschen wollten ihre Raketen diesmal mitten aus der Stadt abschießen. Auf dem flachen Land war es ihnen zu brenzlig geworden. Den ganzen Tag machten die englischen Flieger Jagd auf sie.
Sofieke beschloss, den Befehl zu ignorieren. Sie öffnete Fenster und Türen aber blieb in der Wohnung. Die Deutschen würden wohl kaum kommen, und alle Wohnungen durchsuchen. Sie würden die Raketen ja nicht direkt von ihrer Straße aus abschießen, dazu war hier viel zu wenig Platz. Sofieke nahm an, dass sie in den Haagse Bos gehen würden, den Stadtwald – oder vielmehr in das, was vom Stadtwald noch übriggeblieben war. Ein erheblicher Teil der Grünanlage hatte dem Panzergraben und den anderen Verteidigungseinrichtungen der Festung Den Haag weichen müssen.
Nach und nach verließen die anderen Bewohner das Haus. Jemand klopfte an Sofiekes offene Wohnungstür. Sie reagierte nicht.
»Schon weg«, sagte der Nachbar. Sie hörte, wie er die Treppe hinunterging.
Sofieke sah, wie die Menschen die Straße entlanggingen, in Richtung Süden. Es dauerte etwas länger als zwei Stunden, aber am Ende waren alle verschwunden. Bei Einbruch der Dunkelheit kamen die Deutschen. Sofieke hatte nicht erwartet, dass sie durch ihre Straße fahren würden, aber vielleicht war es der unauffälligste Weg. Vorweg fuhren Lastwagen mit ein paar Dutzend Soldaten, und dann kamen die Transporter mit den Raketen. Riesige Raketen – Sofieke hatte sie noch nie aus der Nähe gesehen. Sie hatte nicht gedacht, dass sie so groß waren. Hinterher fuhr ein Tanklastwagen, der vollständig mit Eis bedeckt war. Das musste der flüssige Sauerstoff sein, von dem Gerhard erzählt hatte. Soldaten und Fahrzeuge verschwanden in Richtung Haagse Bos.
Dann geschah nichts. Sofieke war schon im Bett, als vielleicht zwei Stunden später plötzlich ein lautes Donnergrollen einsetzte. Sofieke stürzte ans Fenster. Das Geräusch wurde lauter, ging in ein infernalisches Zischen über, und schließlich erhob sich unendlich langsam, wie es schien, die Rakete in die Luft, einen langen Feuerschweif hinter sich herziehend. Eigentlich sah man nur den Feuerschweif. Die Rakete wurde schneller und schneller, dann hörte das Geräusch plötzlich auf, auch das Feuer war nicht mehr zu sehen, und alles wurde wieder still.
Die Ruhe dauerte nur wenige Minuten, dann wurde die zweite Rakete abgeschossen, von einer etwas anderen Position, sodass Sofieke wenig davon sehen konnte. Auch dieser Abschuss funktionierte einwandfrei. Eigentlich hätte Sofieke jetzt Fenster und Türen wieder schließen können, aber wahrscheinlich war es besser, wenn sie das nicht tat. Es wäre zu offensichtlich gewesen, dass sie entgegen dem Befehl hier im Haus zurückgeblieben war. Sie stand am Fenster und sah hinaus in die Nacht. Nichts regte sich. Die leeren Häuser waren vollkommen dunkel. Sie war allein in dieser Stadt, in der alle Häuser heil und alle Menschen tot waren.
Nein, sie war nicht der einzige Mensch in dieser Stadt. Irgendjemand ging mit langsamen Schritten die Straße entlang. Er blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an. Sofieke war sich sicher, dass es ein deutscher Soldat war. Wer sonst hatte noch Zigaretten? Was wollte der Mann? Er hatte eine Taschenlampe. Sofieke sah, wie er im Eingang des Hauses gegenüber verschwand. Wenig später sah sie den Lichtkegel seiner Taschenlampe hinter den offenen Fenstern hin und her wandern. Der Mann durchsuchte die Wohnung. Kein Zweifel, er suchte nach Dingen, die er stehlen konnte.
Sofieke zog sich vom Fenster zurück und ging wieder in ihr Bett. Sie konnte nicht einschlafen. Waren das nicht Schritte im Haus? Nein, sie hatte sich getäuscht. Alles war ruhig. Oder? – Nein, das waren Schritte. Unten, im Erdgeschoss. Und Geräusche, als würden Schränke geöffnet und Schubladen herausgezogen.
Sofieke erschrak. Sie stieg im Nachthemd aus dem Bett, lief so leise wie möglich zum Eingang und schloss die Wohnungstür. Nicht leise genug. Die Schritte waren jetzt auf der Treppe. Wo war der Schlüssel? Warum steckte der Schlüssel nicht? Sie hatte ihn abgezogen, vorhin, als sie erwogen hatte, das Haus zu verlassen. Er musste in ihrer Handtasche stecken. Sie riss die Handtasche vom Tisch, aber bevor sie den Schlüssel fand, wurde die Tür geöffnet, und ein junger Soldat stand im Eingang.
»Wen haben wir denn da?«, sagte er.
Er richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf sie.

Blick ins Buch (Leseprobe)

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