'Einen Kopf kürzer: Dunkle Geschichten' von Stefan Barth
"Einen Kopf kürzer" sammelt zwölf dunkle Kurzgeschichten, nach denen das Löschen der Nachttischlampe womöglich etwas schwerer fällt.
Ob bei einem nächtlichen Freibadbesuch, beim Joggen im Stadtwald, in einem Erdloch in Syrien oder in uns selbst. Das Böse lauert überall und in den unterschiedlichsten Formen.
Gleich lesen: Einen Kopf kürzer: Dunkle Geschichten
Leseprobe:
Carsten hört, wie Roy um sein Leben bettelt.
Er hört, wie sich das Betteln in panische Schreie verwandelt und die Schreie in Grunzen. Aber dieses Grunzen wird nicht von Roy ausgestoßen, sondern von den Männern, die ihm bei lebendigem Leib den Kopf absägen. Jemanden zu enthaupten muss eine anstrengende Arbeit sein.
Roy ist nicht der Erste, den Carsten sterben hört. In seiner beinahe dreimonatigen Gefangenschaft wurden seine Ohren Zeugen der Enthauptung von sechs weiteren Männern. Ein russischer Journalist, zwei japanische Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation, ein syrischer Offizier, ein englisch sprechender Mann mit türkischem Akzent, der über seine Herkunft nicht sprechen wollte und ein Texaner, dessen letzte Worte „Das dürft ihr nicht. Ich bin Amerikaner“ waren.
Carsten hat viel Gewalt und Tod und Leiden gesehen.
Das gehört zu seinem Beruf.
Das ist sein Beruf.
Er hat nach einem Jahrhundert-Taifun in Indonesien Hunderte von Leichen gesehen, die wie ungepflücktes Obst in den kahlen Bäumen hingen. Er ist mit der Nord-Allianz in Kabul einmarschiert, Blumen in den Gewehrläufen der triumphierenden Männer, vorbei an den zerfetzten Körpern der von amerikanischen Bombern in Stücke gerissenen Taliban. Er war dabei, als Massengräber in Libyen ausgehoben und Hunderte von menschlichen Überresten fein säuberlich auf weißen Tüchern platziert wurden. Er hat in Ruanda in Kirchen gestanden und meterhohe, knallbunte Kleiderberge gefilmt, die sich als mit Macheten niedergemetzelte Frauen und Kinder entpuppten. Er hat geholfen, aufgedunsene Wasserleichen, afrikanische Flüchtige, die glaubten, in Europa ein besseres Leben zu finden, aus dem Meer vor Lampedusa an Bord der Küstenwache zu ziehen. Er hat zwei Jahre lang in Moskau die alltägliche Grausamkeit der Großstadt dokumentiert, die Opfer der Mafia und banaler häuslicher Gewalt, zu Tode geprügelte junge Prostituierte, Babys, die von Müttern im Drogenrausch in Mikrowellen gebraten wurden. Dinge, die den Gräueltaten der Kriegsgebiete in nichts nachstanden.
Er hört, wie die Tür zum Nebenraum aufgeschlossen wird. Dann schiebt Said die vor der Tür hängende Decke beiseite. Er trägt ein silbernes Tablett. Darauf ein Teller mit Reis und klein gehacktem Fleisch, ein Glas mit dampfendem Schwarztee. Said stellt das Tablett auf dem Boden vor Carsten ab und macht einen Schritt zurück. Bleibt mit verschränkten Armen stehen und sieht auf Carsten hinab. Er spricht britisches Englisch mit arabischem Akzent. Carsten vermutet, dass Said die Hälfte seiner geschätzten vierzig Lebensjahre in England verbracht hat.
„Er hat gewinselt wie ein Hund“, sagt Said und meint damit Roy, Carstens Kameramann, eine dauergrinsende Frohnatur aus Leicestershire, verheiratet und Vater von drei Kindern, den sie heute früh ermordet haben.
Carsten erwidert nichts.
„Wirst du auch winseln wie ein Hund?“
Carsten bleibt still.
Said schlägt ihm mit der flachen Hand auf den Kopf. Nicht besonders schmerzhaft, aber unglaublich erniedrigend. „Gib mir Antwort, wenn ich dich etwas frage.“
Carsten hebt den Kopf und sieht Said in die Augen. „Ich weiß es nicht.“
Said lächelt verächtlich. „Natürlich wirst du winseln. Ihr seid keine Männer. Ihr seid Hunde. Ihr habt keine Ehre und keine Eier. Deswegen wird Allah euch vom Angesicht der Erde fegen.“
Statt einer Erwiderung greift Carsten zum Tee und trinkt vorsichtig einen Schluck von der heißen Flüssigkeit.
Said zieht Rotze hoch und spuckt auf Carstens Teller. „Guten Appetit, du Hund.“
Die ersten Männer, die Carsten und seine inzwischen toten Leidensgefährten bewachten, waren erstaunlich freundlich zu ihnen. Said, der seit zwei Wochen kommt, ist ein ausgemachtes Arschloch. Ein Sadist. Er provoziert in Hoffnung auf eine Reaktion. In der Hoffnung, zuschlagen zu dürfen. Nicht, dass er dazu von irgend jemandem eine Erlaubnis bräuchte. Carsten vermutet, dass Said eine Art Kommandeur ist.
„Danke, Said“, sagt Carsten, ohne ihn anzusehen. Dann nimmt er den Teller. Er sieht Saids Spucke auf dem Fleisch. Greift mit den Fingern zu und schiebt es sich trotzdem in den Mund. Widersteht dem kurz aufsteigenden Brechreiz, kaut und schluckt das fade gewürzte Fleisch hinunter.
Said schüttelt angewidert den Kopf. „Ehrenlos.“ Er wendet sich ab, verlässt den Raum und schließt die Tür hinter sich ab.
Carsten hört die Schritte auf der Treppe, die sie ihn vor genau zwei Monaten, drei Wochen und einem Tag mit verbundenen Augen hinabgeführt haben, leiser werden und schließlich ganz verstummen.
Mit dem Tod von Roy ist er zum ersten Mal seit Beginn seiner Gefangenschaft allein. Ganz allein.
Werden neue Gefangene kommen? Oder werden sie ihn vorher töten?
Er sieht Roys Gesicht vor sich, als sie ihn heute früh aus dem Raum geholt haben. Den flehenden Blick, den Roy ihm zuwarf, so als könnte Carsten irgendetwas tun.
Er checkt seine G-Shock, die sie ihm erstaunlicherweise nicht weggenommen haben. Es ist acht Uhr abends. Er macht Liegestütze. Zwanzig Stück. Wie jeden Tag. Morgens, mittags und abends. Ein paar Yoga-Übungen. Dann hört er seinen Magen rumoren und schafft es gerade noch auf den gelben Plastikeimer, der in der hinteren rechten Ecke des Raumes steht. Dünnflüssige Kacke spritzt in den Eimer und sein Anus brennt. Hoffentlich kein Virus, sondern nur eine verspätete psychische Reaktion auf Saids Rotze in seinem Essen.
Er löscht das Licht der batteriebetriebenen Campinglampe, die sie ihnen zusammen mit einem makellosen, mit Gold verzierten Koran gegeben haben, um darin zu lesen und zu dem wahren, dem einzigen Gott zu finden. Dann rollt er sich auf dem handgewebten Teppich zusammen, der den Boden bedeckt. Er sucht das große schwarze Loch in seinem Kopf, dieses Universum von Nichts, und lässt sich treiben.
Er wacht auf, als er Stimmen hört.
„Pass doch auf, du Idiot.“
„Pass doch selber auf.“
Er drückt auf den Knopf für die Beleuchtung der G-Shock. Acht Uhr morgens. Er hat genau zwölf Stunden geschlafen. Den ganzen Tag mehr oder weniger bewegungslos eingepfercht, in einem vier mal vier Meter großen, fensterlosen Raum, und doch schläft er fast jede Nacht so lang und tief wie ein Kleinkind.
Die Erkenntnis schießt ihm durch den Kopf: Sie sprechen Deutsch.
Im Kindle-Shop: Einen Kopf kürzer: Dunkle Geschichten
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Labels: Erzählungen, Horror, Kurzgeschichten, Stefan Barth
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