'Der Fjord schweigt' von Gabriele Popma
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Dreißig Jahre später: Bei der Beerdigung ihres Vaters erfährt Kerstins Tochter Annika, dass sie einen Zwillingsbruder hatte, der als Kleinkind in einem norwegischen See ertrunken ist. Sie will mehr erfahren, doch ihre Mutter verweigert ihr jede Information. So reist Annika selbst nach Norwegen in den kleinen Ort, in dem das Unglück geschehen ist. Kerstin ist entsetzt und nimmt ihr ein Versprechen ab: Verlieb dich nie in einen Norweger! Ein Versprechen, das nicht so leicht zu halten ist, als Annika die Brüder Jan und Erik kennenlernt.
Schließlich bricht Kerstin ihr Schweigen. Was ist damals wirklich passiert?
Ein dramatischer Liebesroman auf zwei Zeitebenen vor der großartigen Kulisse Norwegens.
Leseprobe:
Prolog
Mühsam versuchte sie, ihre Tränen im Zaum zu halten, als sie seine Hand streichelte. Auch wenn er mit Sicherheit wusste, wie ihr zumute war, wollte sie sich das auf keinen Fall anmerken lassen. »Ich hab dich lieb«, flüsterte sie mit erstickter Stimme.
»Ich dich auch.« Er lächelte. Wie konnte er lächeln, wo praktisch der Tod an seinem Bett stand?
Sie sah sich in dem kleinen Zimmer auf der Palliativstation um. Es war spärlich möbliert, sorgte aber immerhin für eine vernünftige Privatsphäre, die es ermöglichte, sich in einem einigermaßen würdigen Rahmen zu verabschieden. Sie biss sich auf die Lippe, als ihr bei dem Gedanken schon wieder Tränen in die Augen schossen.
»Weine nicht, Annika, es ist okay.«
Wie konnte er so etwas sagen? Es war überhaupt nicht okay. Ihr Vater war noch viel zu jung, um zu sterben. Drei Jahre lang hatte er sich gegen den verdammten Krebs gewehrt und es hatte tatsächlich so ausgesehen, als würde er den Kampf gewinnen. Doch die Hoffnung hatte sie alle getrogen und einer grausamen Wahrheit Platz gemacht. Es ging zu Ende und niemand konnte ihm mehr helfen. Sie schluckte.
Langsam drehte er den Kopf. »Kerstin?«, fragte er und die schwache Stimme klang hoffnungsvoll.
Ein kurzer Schatten flog über das Gesicht der Frau an der anderen Bettseite. »Nein, mein Schatz. Ich bin es. Iris.«
»Ja, natürlich.« Er lächelte traurig. »Entschuldige.«
Sie nahm seine Hand und legte sie an ihre Wange. »Kein Problem, Schatz. Es tut mir leid, dass sie nicht hier ist.«
»Ich hatte es nicht anders erwartet.« Seine Augenlider senkten sich langsam, doch dann riss er sie gewaltsam auf. »Du musst es Annika sagen«, verlangte er mit erstaunlich kräftiger Stimme.
Vehement schüttelte Iris den Kopf. »Nein, das ist Kerstins Sache.«
»Sie wird es ihr nie erzählen.«
»Und du hast versprochen, es auch nicht zu tun.«
Annikas Blick ging zwischen den beiden hin und her. Wovon sprachen sie? Was erzählen?
»Ich habe dieses Versprechen über zwanzig Jahre lang gehalten.« Die kurz aufgeflackerte Kraft in seiner Stimme ließ nach und er schien in sich zusammenzusinken. »Aber Annika hat ein Recht, es zu erfahren.«
»Kerstin wird dich umbringen, wenn du dein Versprechen brichst.«
Er lachte. Sein Lachen wurde begleitet von einem rasselnden Geräusch, das tief aus seiner Lunge zu kommen schien und Annika durch Mark und Bein fuhr. »Da kommt sie zu spät.« Seine Mundwinkel hoben sich. »Gib ihr wenigstens den Umschlag. Du weißt, welchen. Bitte, Iris, tu es. Es ist nicht gut, Geheimnisse zu haben. Du hast gesehen, was es meiner Familie angetan hat. Wir haben so viel falsch gemacht.« Er seufzte tief. Langsam, wie in Zeitlupe, wandte er sich Annika zu. »Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich hätte mehr Zeit. Ich wünschte, ich hätte mich früher entschlossen, dir alles zu sagen. Annika, du hast ...«
Er verstummte und schloss die Augen. Annika hielt erschrocken den Atem an, doch dann sah sie, dass sich seine Brust gleichmäßig hob und senkte. Noch hatte er sich nicht aufgegeben, aber die Anstrengung hatte ihn ermattet in Schlaf sinken lassen.
Sie seufzte. Wie oft würde er aus einem solchen Schlaf noch erwachen, bis es endgültig zu Ende ging? Für ihn hoffte sie, dass er bald in Frieden gehen durfte, aber ihr zerriss es bei dem Gedanken das Herz immer wieder aufs Neue. Vielleicht gab es nochmal eine Gelegenheit, zu reden. Sie hatte keine Ahnung, wovon er gesprochen hatte und was sie unbedingt erfahren sollte, aber es schien ihm sehr wichtig zu sein.
Fragend sah sie zu Iris hinüber. Doch ihre Stiefmutter beachtete sie nicht. Gedankenverloren kaute sie an ihrer Unterlippe und ihr Blick war abweisender denn je.
1
Heiße Tränen brannten in ihren Augen, als sie in das dunkle Loch hinabsah, in das gerade der Sarg hinabgelassen wurde. Sie bemühte sich, nicht zu weinen, doch dann fragte sie sich warum. Es war die Beerdigung ihres Vaters und sie hatte jedes Recht dazu. Mit einem leisen Schluchzen gab sie dem Bedürfnis nach. Fast augenblicklich legte sich ein Arm um ihre Schultern, der sie tröstend drückte. Iris hatte ihr gegenüber immer eine gewisse Reserviertheit an den Tag gelegt, doch eines war unbestritten: Sie hatte ihren Vater geliebt und litt unter seinem Verlust ebenso sehr wie sie. Annika lehnte sich an ihre Stiefmutter und fühlte sich ihr so verbunden wie noch nie.
Mit einem Rumpeln setzte der dunkle Eichensarg auf dem Boden auf und sie zuckte zusammen. Trotz des sonnigen Wetters fröstelte sie. Sie hatte schon lange gewusst, dass dieser Tag schneller kommen würde als ihr lieb war, und dennoch war es unfassbar, dass ihr Vater plötzlich nicht mehr da sein sollte. Zwei Tage hatte er nach ihrem letzten Gespräch noch durchgehalten, doch er hatte meistens nur vor sich hingedämmert. Zusammen mit Iris war Annika an seinem Bett gesessen und hatte seine Hand gehalten. Manchmal hatte sie einen leisen Druck gespürt, der ihr bewusst machte, dass ihr Vater ihre Anwesenheit wahrnahm. Sie sprachen mit ihm und bekamen vereinzelt eine gemurmelte und unverständliche Antwort, doch eine vernünftige Unterhaltung kam nicht mehr zustande. Vermutlich war das auch den starken Medikamenten geschuldet. »Wir können nichts mehr für ihn tun«, hatte der behandelnde Arzt gesagt. »Nur noch, ihm die letzten Tage erträglich zu machen.«
Es war bestimmt das Beste für ihn, doch Annika vermisste sein fröhliches Lächeln, das verschmitzte Zwinkern seiner grau-blauen Augen und seine ruhige, immer zuversichtliche Art. Wie sollte sie ohne ihn weiterleben?
Ihre Stiefmutter stupste sie sachte an. »Komm.«
Sie nickte und wischte sich die Tränen ab. Dann warf sie die roten Rosen, die Iris vor der Beerdigung besorgt hatte, in die Grube hinab auf den Sarg, und ließ ihnen Weihwasser und eine Schaufel Erde folgen. Nach einem letzten schmerzerfüllten Blick trat sie zurück und beobachtete die lange Schlange an Menschen, die am Grab vorbeizogen.
Es waren viele fremde Gesichter dabei. Freunde und Kollegen ihres Vaters, die sie nie kennengelernt hatte. Sein Chef hatte eine kurze, aber bewegende Rede gehalten, bevor er einen Kranz der Firma niedergelegt hatte. Die Vorsitzenden der Vereine, in denen ihr Vater tätig gewesen war, hatten das ebenfalls getan. Er war sehr aktiv und beliebt gewesen. Der Gedanke wärmte Annikas Herz und trieb ihr erneut einen Schwall Tränen in die Augen.
Sie ließ ihren Blick über die bekannten Gäste schweifen. Die Geschwister ihres Vaters waren aus dem fernen Bayern angereist. Auch drei ihrer fünf Cousins und Cousinen waren gekommen. Ihre Großeltern dagegen hatten es rundheraus abgelehnt, nach Norddeutschland zu fahren, was Annika nicht verstehen konnte. Schließlich wurde ihr Sohn beerdigt. Sie konnten ihm doch unmöglich noch im Tode grollen, dass er seine Heimat aufgegeben hatte und nach Schleswig-Holstein gezogen war.
In Annikas Kindheit hatte es häufigere Besuche in Bayern gegeben, sie hatte auch manche Ferien bei den Großeltern verbracht. Doch nach der Scheidung war das alles eingeschlafen, vielleicht auch, weil ihr Vater die endlosen Vorwürfe nicht mehr hören konnte, dass er seine Familie im Stich gelassen hatte.
Wer allerdings nicht anwesend war, war ihre Mutter. Annika hatte vergeblich gehofft, dass sie kommen würde. Dabei war es nicht überraschend. Sie würde bestimmt eine Ausrede parat haben. Vielleicht hatte sie Kopfweh oder hatte sich nicht aufraffen können.
Dass Annika nicht überrascht war, bedeutete nicht, dass sie nicht bitter enttäuscht war. Ihre Mutter hatte es nicht ein einziges Mal über sich gebracht, ihren Ex-Mann während seiner letzten Tage im Krankenhaus zu besuchen, aber wenigstens zur Beerdigung hätte sie erscheinen können. Sie hatte ihn doch einmal geliebt und auch nach der Scheidung war ihr Vater immer für sie da gewesen. Er hatte sich um alle Dinge gekümmert, die für ihre Mutter zu schwierig waren, und dafür gesorgt, dass es ihr an nichts fehlte. War es wirklich zu viel verlangt, ihm das letzte Geleit zu geben?
Aber ein anderes Gesicht überraschte Annika. Sven war da. Prompt begann ihr Herz aufgeregt gegen ihre Rippen zu klopfen. Er sah so gut aus in der schwarzen Jeans und dem dunklen Hemd, das seine blonden Haaren betonte. Es war sehr anständig von ihm, zu kommen. Annika sehnte sich nach dem zärtlichen Streicheln seiner Hände und sie wünschte sich, sie könnte sich einfach in seine Umarmung fallen lassen.
Er lächelte sie an, als er ihrem Blick begegnete, und beschämt wandte sie sich ab.
Doch er wartete am Tor auf sie, als sie mit Iris als Letzte der Trauernden den Friedhof verließ.
»Hast du kurz Zeit, Annika?«, fragte er.
»Ist ein schlechter Moment«, wich sie aus.
»Ich weiß. Aber wir müssen reden.«
»Nicht jetzt, Sven, ich bin viel zu sehr durch den Wind.«
»Das verstehe ich.« Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. Annika wehrte sich kurz, doch dann ließ sie es geschehen. Das vertraute Gefühl tröstete sie und sie lehnte sich an seine Schulter.
»Es tut mir so leid mit deinem Vater«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Er war ein feiner Kerl.«
»Ja, das war er.« Mehr fiel ihr nicht ein.
Iris räusperte sich neben ihr. »Wir müssen los. Unsere Gäste warten.«
»Ja.« Annika löste sich von Sven. »Sei nicht böse, aber ich muss ...«
»Ich weiß«, nickte er verständnisvoll. »Wir reden später.« Er drückte Iris die Hand, murmelte einige Beileidsworte und wandte sich um.
Labels: Dramatik, Gabriele Popma, Liebe
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