'Wenn die Sonne den Horizont küsst' von Annette Hennig
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werden wir nicht verloren sein
Usedom 1947: Der Krieg ist vorüber, doch während noch allerorts Not und Entbehrung den Alltag der Menschen bestimmen, kehren allmählich Normalität als auch ein klein wenig Zuversicht und Frohsinn auf die Ostseeinsel zurück.
Die junge Charlotte lernt den russischen Offizier Nikolai kennen und verliebt sich Hals über Kopf in den adretten Mann. Einige Monate sind sie miteinander glücklich, doch ihre Liebe steht unter keinem guten Stern.
Nikolai hütet ein Geheimnis, das er Charlotte nicht anvertrauen kann. Zu groß ist die Gefahr, die junge Frau mit in den Abgrund zu stürzen, der ihn selbst zu verschlingen droht. Mit einer Lüge auf den Lippen, die auszusprechen ihm alles abverlangt, trennt er sich schweren Herzens von ihr.
Fortan vergeht kein Tag, an dem Charlotte nicht auf ihn wartet. Mit jedem Jahr, das verstreicht, zweifelt sie stärker an seiner Rückkehr, nicht aber an seiner Liebe zu ihr.
Je weniger Charlotte an ein Wiedersehen glaubt, umso mehr bewahrt sie den Traum von einem gemeinsamen Glück in ihrem Herzen.
Band 2 der Sankt-Petersburg-Trilogie .
Anleser:
Leningrad, September 1945
Nikita ging schleppenden Schrittes den Newski Prospekt entlang. Die Sonne schickte ihre Strahlen von einem blauen Himmel auf die armselig gekleideten und ausgehungerten Gestalten hinab, die sich zu dieser Stunde aus ihren Behausungen gewagt hatten. Ungeachtet des Elends tauchte der goldene Schein die Stadt in ein warmes Licht. Er brachte die Not umso deutlicher zum Vorschein.
Nikita blickte nicht auf. Die wärmenden Sonnenstrahlen linderten die Schmerzen ein wenig, die ihn Tag und Nacht in seinem Rücken plagten. Schwer stützte er sich auf seinen Stock, den er mehr hasste als diesen Krieg, mehr als diese verdammten Deutschen, die Schuld an seinem Schicksal trugen.
Vor nunmehr zwei Jahren war er dem Tod von der Schippe gesprungen. Als er damals im Lazarett nach Tagen, die er im Koma zugebracht hatte, wieder zu sich gekommen war, hatte er geglaubt, er sei im Paradies. Eine junge Frau hielt seinen Kopf, beugte sich über ihn und er hörte aus weiter Ferne, wie sie fortwährend seinen Namen rief. Er war nicht imstande, ihr zu antworten, kein Ton kam zwischen seinen Lippen hervor, von denen er doch glaubte, sie zu bewegen. Heute wusste er, dass er nicht einmal dazu fähig gewesen war.
Unwirsch blieb Nikita stehen und stieß den Stock auf den Boden. Er hob den Kopf und blickte sich um. In seine einstmals ebenmäßigen Züge hatte sich Bitterkeit geschlichen, die ihn um Jahre älter erscheinen ließ. Tiefe Furchen um Mund und Augen zeugten von dem Leid, das er hatte ertragen müssen.
Sein Blick flog an den Häuserfassaden entlang und musterte die vorübereilenden Menschen. Nie wieder würde es ihm möglich sein, eilig auszuschreiten, den Rücken gerade, aufrecht wie der Mann, der er einst gewesen war.
Erneut stieß der Stock auf den Boden. Verzweiflung machte sich in Nikita breit. Seit Monaten war sie sein treuester Gefährte. Noch keine sechzig Jahre zählte er und kam sich doch vor, als wäre er hundert. Dieser verfluchte Granatsplitter hatte sich in seinen Rücken gebohrt und er konnte von Glück sagen, dass er überhaupt heute hier entlangging.
„Ha, entlanggehen!“ Als Nikita die Worte ausspie, zuckte eine alte Frau erschrocken zusammen, die in diesem Moment an ihm vorbeilief.
„Iswiniti, pashalsta!“ Entschuldigend nickte er ihr zu und versuchte sich an einem kleinen Lächeln. Die Grimasse, die dabei entstand, ließ die Frau nur noch verstörter dreinblicken. Schnell setzte sie ihren Weg fort.
Gleichgültig zuckte Nikita mit den Schultern. Er hatte andere Sorgen. Was gingen ihn erschrockene Weiber an.
Als er seinen Gang wieder aufnahm, stöhnte er leise. Noch ein paar Meter, dann hatte er sein Ziel erreicht. Versonnen stand er an der kleinen Mauer, die die Newa begrenzte, und blickte ins trübe Wasser.
Während seine Gedanken in weite Ferne schweiften, schüttelte er immer wieder den Kopf. Ein ums andere Mal nickte er, als wollte er sich seine eigenen Gedanken bestätigen.
Noch immer konnte er nicht fassen, was mit seiner Heimat, seinem Leningrad, passiert war.
„Schon wieder“, murmelte er. Er erinnerte sich an eine Zeit, in der die Stadt Sankt Petersburg geheißen und man Feste gefeiert hatte, die prächtiger nicht hätten sein können. Und seine Gedanken wanderten zu jenem Tag im Oktober 1917, der eine schicksalhafte Wende brachte. Offizier der kaiserlichen Garde war er damals gewesen: jung, ehrgeizig und begierig auf das Leben. Was hatte er nicht alles ins Kalkül gezogen, um seinem Land auch weiterhin dienen zu können.
Erleichtert atmete er auf. Es war ihm gelungen. Die Rote Armee wollte auf seine Dienste nicht verzichten. Wie glücklich und stolz war er gewesen und wie froh, nicht zu denen zu gehören, die er bis dahin so glühend beneidet hatte.
Seine Gedanken flogen zu dem gut begüterten Grafen, mit dem er in der Armee gedient hatte, dann zu dem Baron ohne nennenswertes Vermögen. Wie gerne hätte er selbst mit ihm getauscht! Wie wohl alles gekommen wäre, hätte er einen Titel und einen alten Namen besessen? Ob er bekommen hätte, was er sich damals so sehnlichst gewünscht hatte?
Mit einer fahrigen Handbewegung strich sich Nikita über die Stirn, als könnte er seine unnützen Gedanken damit wegwischen. Du bist ein alter Narr, schalt er sich im Stillen.
Er hatte wieder eine gute Frau gefunden, nachdem seine Ninotschka während der Barrikade Leningrads verhungert war. Keiner seiner beiden Söhne war ihm geblieben. Genau wie er waren sie in den Kampf für Mütterchen Russland gezogen: mutig und siegesgewiss, um dann als Helden begraben zu werden.
Nikita lehnte seinen Stock an die kleine Mauer. Das Stehen bereitete ihm Schwierigkeiten. Mühsam hievte er sich auf die Mauerkrone.
„Puh! Geschafft!“ Er lächelte bitter. Das waren nun seine kleinen Siege. Er war sich gewiss, dass er es auch im Sitzen nicht lange aushalten und der Abstieg genauso mühsam werden würde.
Müde reckte er sein Gesicht der Sonne entgegen, schloss die Augen und genoss die Wärme auf seiner Haut. Nicht mehr lange und der Winter hätte sie wieder fest in seinem eisigen Griff.
Von weit her schlug eine Uhr die zwölfte Stunde. Er sollte langsam an den Heimweg denken, der noch beschwerlicher werden und den Rest seiner Kräfte aufbrauchen würde.
„Ein paar Minuten noch!“ Entsetzt riss er die Augen auf. Wann hatte er sich angewöhnt, Selbstgespräche zu führen? Er musste damit aufhören, bevor man ihn für verrückt hielt. Gleichgültig zog er die Brauen hoch. Und wenn schon! Viele gab es in dieser Stadt nicht mehr, die noch bei gesundem Verstand waren. 871 Tage von der Welt abgeschnitten, mit Brotrationen, an denen selbst die Mäuse verhungert wären – da musste man sich nicht schämen, drehte man durch. Es schien ihm, als wären die, die verhungert waren, die Glücklicheren.
Langsam kam er aus seinen Gedanken zurück. Er musste damit aufhören, sich selbst zu bemitleiden. Seine junge Frau rügte ihn jeden Tag dafür. Zunehmend verlor sie die Geduld mit ihm. Und sie war im Recht! Er wusste es. Zudem verdiente sie es nicht, dass er sich trüben Gedanken hingab, statt sich ihr zu widmen. Sie war zu jung, zu schön, zu lebenslustig, um sich an einen alten Sack zu verschwenden, der ihr nichts als Gejammer und Gezeter bot.
Ein winziges Lächeln huschte über seine Züge, wenn er an ihre großen braunen Augen dachte, in die er gesehen hatte, als er sich schon bei den Engeln glaubte. Seither blickte er jeden Morgen in diese Augen, und jeden Morgen erinnerte er sich dabei an die Schmerzen, die er durchlitten hatte. Er war ein Narr!
Wütend über die eigene Unvernunft stieß er sich mit den Händen ab und rutschte von der Mauer herunter. Unsanft landete er auf seinen Füßen. Ein heftiger Stich im Rücken nahm ihm den Atem. Seine Hände wirbelten durch die Luft, fanden keinen Halt. Noch während er erwartete, im nächsten Moment auf das harte Pflaster zu stürzen, spürte er starke Hände, die ihn packten, hielten und wieder auf die Füße stellten.
„Ochen tikhiy – ganz ruhig“, vernahm er eine Männerstimme, die besänftigend auf ihn einredete. „Es ist alles gut.“
Ein paar Augenblicke vergingen, dann ließ das Zittern in seinen Beinen nach. Aufatmend blickte er seinen Retter an.
„Danke! Haben Sie … vielen … Dank! Sie haben mir …“, er vermochte nicht weiterzusprechen. Verdattert musterte er den jungen Mann, der lächelnd neben ihm stand und noch immer seinen Arm hielt. Er trug die Uniform eines Offiziers der Roten Armee, war schlank und hoch gewachsen, mit vollem schwarzem Haar. Aus glühenden dunklen Augen schaute der Bursche ihn an und lächelte mitfühlend.
„Diese Augen“, murmelte Nikita. „Das kann nicht sein“, sagte er tonlos und wusste, seine Sinne spielten ihm einen bösen Streich.
Eine kurze Weile verging, in der er den jungen Mann unverhohlen anstarrte.
„Ist Ihnen nicht gut? Ich bin Arzt. Lehnen Sie sich noch einen Augenblick gegen die Mauer. Bleiben Sie ganz ruhig. Es ist nur der Kreislauf. Gleich ist es wieder gut!“ Dabei fühlte der Mann seinen Puls.
Nikitas Herz klopfte, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Dann schalt er sich einen alten Esel. Was war nur heute mit ihm los? Es konnte nicht sein, was sein umnebeltes Hirn ihm vortäuschen wollte – und doch: diese Augen, dieses aristokratische Kinn mit der kleinen senkrechten Furche in der Mitte, dieser Blick, in dem er jetzt Spott zu sehen glaubte, wo es nur Mitleid gab. Es bestand nur eine Möglichkeit, das Trugbild zu verscheuchen, das vor seinem geistigen Auge stand. Er musste den Burschen in ein Gespräch verwickeln. Musste erfahren, wer er war. Musste seine Stimme noch einmal hören. „Danke, danke! Es geht schon wieder.“ Er zwang sich zur Ruhe, wenngleich er innerlich bebte.
„Gut! Dann atmen Sie noch ein paar Mal tief durch. Wohin wollen Sie denn? Soll ich Sie ein Stück begleiten?“
Die tiefe angenehme Stimme klang so vertraut an Nikitas Ohr, doch sein Verstand war nicht in der Lage, den Sinn der Worte zu erfassen.
Das ist nicht möglich, nein, es kann nicht sein, schoss es ihm wieder und wieder durch den Kopf. Er zitterte jetzt am ganzen Leib.
„Soll ich Sie doch besser in ein Krankenhaus bringen?“
„Nein, nein! Danke. Es geht schon.“ Er nahm seinen Stock, der neben ihm an der Mauer lehnte, und befreite sich aus dem Griff des jungen Offiziers. „Danke, Genosse …“ Fragend sah er ihn an.
„Nowikow – Nikolai Iwanowitsch.“ Der Offizier schlug die Hacken zusammen und streckte ihm lächelnd die Hand entgegen.
Doch Nikita schlug nicht ein. Er stützte sich auf seinen Stock und ging ohne Gruß, so schnell es ihm möglich war, einfach davon.
Nikolai Iwanowitsch blickte ihm verdutzt hinterher und schüttelte den Kopf. Kriegsverletzung, sinnierte er. Hat wohl nicht nur den Rücken getroffen. Armer Hund! Dann wandte auch er sich ab und setzte seinen Weg fort.
Der Alte blieb nach ein paar Metern stehen, drehte sich nach dem jungen Offizier um und in seinem Kopf hallte ein einziges Wort wider: Iwanowitsch!
Wenngleich er wusste, dass es nicht der war, den er voller Inbrunst hasste, vermochte Nikita den Gedanken an Vergeltung für alles, was man ihm angetan hatte, nicht mehr zu verscheuchen. Bilder aus längst vergangenen, besseren Tagen schoben sich vor seine Augen. Gequält stöhnte er auf. Er war nicht imstande zu vergessen.
Ein irrer Ausdruck lag in seinem Blick.
Blick ins Buch (Leseprobe)
Labels: Annette Hennig, History, Liebe
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