'Das Lied der Toten' von Pascal Wokan
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Nach jahrhundertelanger Herrschaft hat das Land Amdra seinen Kaiser durch ein Attentat verloren und ein Bürgerkrieg droht, alles in den Abgrund zu stürzen. Rysana, Vorsitzende des kaiserlichen Rates, obliegt die Suche nach dem einzigen Thronerben. Ihr bleiben nur dreißig Tage Zeit, um das Land vor dem Zerfall zu bewahren.
Hilfe erhält sie von einem zwielichtigen Mann, einem Vagabunden und Nekromanten namens Taar Wax, der die Fähigkeit besitzt, die Grenze zwischen Leben und Tod zu überqueren. Ihre Suche führt die beiden in den Schlund, das Gefängnis ohne Wiederkehr, in dem die Insassen nach eigenen Gesetzen leben und furchterregende Kreaturen hausen. Ein Wettlauf mit der Zeit beginnt …
Anleser:
Hätte auch schlimmer kommen können, dachte Taar.
Die Gittertüren knallten zu.
Er beäugte die viel zu kleine Zelle, klopfte den Staub von der Kleidung und warf sich auf die Pritsche, die zwar hart, aber nicht unangenehm war. Wenn es eines gab, was er nicht ausstehen konnte, dann war es, in einem Raum zu übernachten, der nach Verwesung stank. Er war an den Tod gewöhnt, das musste aber nicht zwangsläufig bedeuten, dass er einen Leichnam als Zellengenossen haben wollte. Seine Zelle war zweckmäßig, ein dünner Schlitz am oberen Ende einer Wand ließ Licht herein, über die bemoosten Steinmauern tropfte Wasser und ein Haufen dreckiges Stroh faulte in der Ecke vor sich hin. An der gegenüberliegenden Wand hingen hinter den Wärtern einige Talgkerzen in rostigen Halterungen und warfen schummrige Lichtkegel an die Decke. Die Luft war schwer und drückend, das war aber in den meisten Kerkertrakten der Fall – und Taar hatte zu seinem Leidwesen schon viele von innen betrachten können.
Er gähnte herzhaft und versuchte, sich etwas zu entspannen. Es war ein langer Tag gewesen und er wollte nicht länger als nötig an dem Ort verweilen. Das Gefängnis, das ihn halten konnte, musste erst noch gebaut werden.
Die Wärter, zwei grobschlächtige Kerle, die offensichtlich zu keiner anderen Aufgabe taugten, waren damit beschäftigt, seine Habseligkeiten zu durchwühlen. Außer unbedeutendem Plunder würden sie nicht viel finden, denn er wäre nicht Taar Wax, wenn er seinen wichtigsten Besitz bei sich tragen würde. Dabei fiel ihm ein …
»He, ist der Branntwein noch in einem Stück?«, fragte er.
Einer der Wärter wühlte in den Taschen des zerfetzten, dunkelbraunen Mantels und förderte eine kleine Flasche mit braunem Inhalt hervor.
»Ja, genau die. Würde es so vortrefflichen und pflichtbewussten Wärtern wie euch etwas ausmachen, mir die Flasche zu geben?«
Einer der Wärter zog den Korken heraus und setzte das Gefäß an die Lippen. »Meinst du etwa die hier?«
»Würde ich an deiner Stelle nicht tun, Mann.«
»Warum? Kommst du dann raus und verprügelst mich?« Der andere Wärter lachte schallend.
»Nein, aber das Zeug war verdammt teuer. Also nicht für mich, aber für denjenigen, den ich um seinen Beutel erleichtert habe. Beste Qualität und so weiter. Hab es eine ganze Zeit aufgehoben.«
Der Wärter kippte den Inhalt in einem Zug hinunter.
Was für ein Dummkopf. Taar seufzte, erhob sich von seiner Pritsche und zog sein viel zu weites Hemd aus, das an vielen Stellen in lange Fetzen gerissen war. »Tatsächlich wollte ich nur eine Nacht in Ruhe meinen Rausch ausschlafen«, murmelte er und zog auch das zweite Hemd aus, das sich darunter befand. Zuletzt trug er nur noch sein Unterhemd und ihn fröstelte leicht. Er wickelte die beiden Hemden um die Arme und seufzte noch einmal. »Aber es gibt heutzutage einfach kein Benehmen mehr. Wisst ihr denn nicht, wer ich bin?«
»Ist das wichtig, du kleiner Wicht?«
»Weiß nicht. Es hätte euch jedenfalls eine Warnung sein können.«
»Und jetzt? Was gedenkst du zu tun?«
»Hm, als erstes werde ich die Gitterstäbe aufbiegen. Danach werde ich euch beide erwürgen und unbehelligt hinausmarschieren. Ich würde es aber gern vermeiden.«
Der linke Wärter legte seinen Knüppel lässig über die Schulter und lachte wie ein Wahnsinniger. »Das willst du wirklich tun? Dann bin ich ja mal gespannt, wie du das anstellst!«
»Immer wieder das Gleiche. Kennt ihr die Verliese von Nandoc?«
Die Wärter sahen ihn stumm an.
»Auch gut. Jedenfalls habe ich dort zwei Nächte verbracht, bis ich beschlossen habe, dass ich nicht länger bleiben will. Die Sonne ist nicht so angenehm für meine empfindliche Haut. Klar soweit?«
»Du willst uns wirklich erzählen, dass du aus den Verliesen von Nandoc ausgebrochen bist?«
Taar griff in seine Hosentasche und förderte einen kleinen Holzwürfel zutage. Der Würfel sah nicht sonderlich beeindruckend aus, war an den Außenkanten stark abgegriffen und wies sogar einige tiefe Risse auf. Für ihn nahm dieser Gegenstand aber einen ganz besonderen Stellenwert ein, denn es war sein Anker.
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Labels: Fantasy, Pascal Wokan
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