17. November 2020

'Das schwarze Gold des Südens' von Tara Haigh

Kindle (unlimited) | Taschenbuch
Website Tara Haigh
Die bewegende Geschichte zweier Schwestern eines Lakritzimperiums und das spannende Porträt einer faszinierenden Zeit.

Bamberg 1887: Das Süßholzimperium Imhoff ist in Schwierigkeiten. Nur eine Vernunftehe mit einem Bankier könnte das Familienunternehmen noch retten. Doch die freiheitsliebende jüngere Tochter Elise flieht mit ihrem Geliebten nach Paris. Um jeden Preis will sie ihren Traum von einer eigenen Confiserie verwirklichen – auch wenn sie damit das Verhältnis zu ihrer Schwester Amalie schwer belastet.

Die pflichtbewusste Amalie muss sich fortan in der heißen Ödnis Kalabriens um den Anbau von Süßholz kümmern, aus dem Lakritz gefertigt wird – das schwarze Gold. Bis auch sie sich in den falschen Mann verliebt und diese Liebe ihr ganzes bisheriges Leben infrage stellt …



Anleser:
Bamberg, Juni 1887
Amalie wusste, dass man ihrer Kundschaft nur die allerbeste Ware verkaufen konnte, um den guten Ruf der Firma zu wahren. Gerade in schwierigen Zeiten war das unabdingbar. Die Wurzelschneider scherten sich ja nicht darum, die Ernte sorgsam auszusortieren. Früher, als sie es sich noch hatten leisten können, ganzjährig eigene Arbeiter zu beschäftigen, war es nicht notwendig gewesen, die Ware vor der Auslieferung persönlich in Augenschein zu nehmen. Drei randvoll mit den schwarzen Pfahlwurzeln gefüllte Kisten standen neben dem Fabriktor. In einer Stunde würde sie Franz, ein Kurier, der regelmäßig für sie die Tabakfabriken, Brauereien und Gewürzhändler belieferte, abholen.
Amalie griff tief in eine der Kisten hinein und zog eine etwa fingerdicke Wurzel der kürzlich eingebrachten Frühjahrsernte heraus. Sie fühlte sich verkorkt an. Ihre Rinde ließ sich kaum noch abschälen. Auf den ersten Blick ein sicheres Anzeichen dafür, dass das Süßholz hochwertig war. Dann brach sie es am Wurzelende entzwei. Die Bruchstelle wies nur wenige dunkelgelbe Stellen auf. Das Innenleben war überwiegend schwarz wie Amalies Haar - Vaters treffender, wenngleich augenzwinkernder Vergleich, um festzustellen, ob es sich um beste Qualität handelte. Seiner Ansicht nach gab es aber schlussendlich nur eine Möglichkeit, um sich vom Süßegehalt zu überzeugen. Obwohl Amalie ihre traditionellen Imhoff-Lakritztaler seit Kindesbeinen an mochte und sogar Schokolade oder anderen Süßigkeiten vorzog, scheute sie sich vor dem Biss in das Holz, um dann die Süße mit dem Speichel zu lösen und sie herauszusaugen. Die Rinde mit den Zähnen abzuschaben, verursachte ihr Unbehagen, doch dafür wurde der Gaumen belohnt. Die Süße übertraf bei Weitem die von Zucker, was wiederum auf reichhaltige Inhaltsstoffe schließen ließ. Für die Apotheken war Letzteres naturgemäß am wichtigsten, weil sie kein Naschwerk aus Lakritz daraus fertigten, sondern der Kundschaft aus dem Rohlakritz gefertigte Pastillen insbesondere bei Magenverstimmung und Erkrankungen der Atemwege verabreichten. Eine zweite Lieferung für eine Apotheke lag ebenfalls zur Abholung bereit. Amalie überzeugte sich davon, dass die Lakritzblöcke fein säuberlich in Lorbeerblätter eingewickelt waren, um sie während des Transports vor Feuchtigkeit zu schützen.
War die Wurzel einmal von der Rinde befreit, konnte man gar nicht genug vom Saft der Glycyrrhiza bekommen. Amalie saugte erneut daran, um sich zu stärken. Die zähe Flüssigkeit vertrieb sogar das Hungergefühl eines knurrenden Magens, der noch auf das Frühstück wartete. Lebenssaft nannte Vater ihn. Immerhin hielt er ihre Firma seit Generationen am Leben. So gesehen hatte er recht. Die Vorräte an getrocknetem Süßholz im Lagerraum, der fast ein Drittel ihrer Manufaktur in Anspruch nahm, gingen allerdings wegen der dem Frost geschuldeten mageren letzten Ernte im Frühjahr langsam zur Neige. Die Felder mussten nun ruhen, die Sträucher neue Blätter austreiben, die abgeschnittenen Stalonen wieder nachwachsen. Vom Spätherbst bis zum Frühjahr, wenn die Wurzeln nach und nach aufs Neue schnittreif wurden, zöge hier wieder Leben ein. Dann würden die Wurzelschneider die Fabrik bis zur Decke mit dem schwarzen Gold füllen.
Um die momentan eher düsteren Aussichten gedanklich zu vertreiben, stellte Amalie sich vor, wie die Arbeiter die Wurzeln an den Trögen vor dem Haus wuschen, sie zum Trocknen in die Sonne legten, schnitten und die Mühlsteine sie zerkleinerten. Ein Teil der Wurzeln, der für die Weiterverarbeitung gedacht war, wurde dann in ihren holzbefeuerten Öfen ausgekocht, damit der wertvolle Sud zu Lakritz verdickte und in Formen gegossen werden konnte. Jetzt herrschte hier Totenstille. Sah man von wenigen Hilfsarbeitern, meist Tagelöhner, die ihre Ware zum Bahnhof brachten, ab, war die Zeit nach der Ernte eher besinnlich.
Amalie vernahm Schritte auf dem Kiesweg, der vom Haus zur Manufaktur führte. Sie warf das abgekaute Stück der Süßholzwurzel in einen Bottich neben der Tür und trat hinaus. Elise kam wie ein blonder Rauschgoldengel daher. Sie brachte es doch glatt fertig, im Morgenrock das Haus zu verlassen. Das geziemte sich nicht für eine junge Dame.
»Guten Morgen, Amalie. Kann Franz mich heute zum Seminar fahren? Mutter meinte, er müsse sowieso in die Stadt, zur Apotheke«, rief sie ihr vom Vorgarten aus zu. Es überraschte Amalie nicht, dass sie dank ihrer Schwester wieder einmal alle Pläne über den Haufen werfen durfte. Und das würde in Zukunft vermutlich öfters passieren, denn von nun an war Elise ja jeden Tag hier. Mit der Besinnlichkeit war es dann wohl vorbei.
»Er nimmt dich sicher mit.«
Elise wirkte erleichtert.
Wenigstens ein Gutes hatte es. Sie würden sich fortan die täglichen und nicht gerade kostengünstigen Kutschfahrten zum und vom Stephansberg zurück nach Hause sparen.
»Kann ich mir deine goldene Haarnadel ausleihen?«, wollte Elise dann noch wissen.
»Ist in der zweiten Schublade im Spind«, rief sie ihrer Schwester zu.
Gold? Nun ja, das würde wohl dem Anlass Rechnung tragen. Ob es an Elise, die sich nichts aus feiner Robe machte, auch glänzte, stand auf einem anderen Blatt.
»Danke, Schwesterherz«, antwortete Elise fröhlich, machte auf dem Absatz kehrt und huschte zurück ins Haus.
Amalie inhalierte die kühle Morgenluft und seufzte. Ja, Besinnlichkeit und Ruhe, zumindest tagsüber, das war einmal.

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