2. Dezember 2020

'Wenn es Liebe schneit' von Lisa Torberg

Kindle (unlimited) | Taschenbuch
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Sie waren jung, verliebt, das Traumpaar schlechthin – bis er spurlos verschwand. Dreizehn Jahre später ist er plötzlich wieder da … aber er ist nicht allein.

Liam Cranford ist zu allem bereit, um das Versprechen einzulösen, das er seinem Freund gegeben hat. Hals über Kopf verlässt er mit der kleinen Maisie Labrador City. Sein Weg durch das winterliche Kanada führt ihn auf die Insel Neufundland, die er vor vielen Jahren verlassen hat.

Scarlett Winter traut ihren Augen nicht, als sie den Mann erkennt, der mit einem verletzten Mädchen in ihre Praxis stürmt. Unter anderen Umständen würde sie Liam sofort wegschicken – aber sie lebt für ihren Beruf. Schon während sie Maisie verarztet, erobert die Kleine ihr Herz im Sturm. Oder rast es wegen Liam so aufgeregt in ihrer Brust, den sie trotz allem nie vergessen hat?

Ein bezaubernder Liebesroman mit Happy-End-Garantie aus dem verschneiten Kanada.

Anleser:
Mit beiden Händen umfasst Scarlett Winter die Tasse, schließt die Augen und atmet tief ein. Der aromatische Duft nach schwarzem Tee, Honig und Zitrone verdrängt für einen Moment den Gedanken an das immer noch nicht leere Wartezimmer. Nicht jedoch den an Stephens Anruf, der weitere vier Hausbesuche zu erledigen hat, bevor er heimkommt. Sie arbeiten zu viel. Alle beide. Zum Glück hat July es schon immer vorgezogen, allein zu lernen, sonst hätten sie jetzt ein Problem. Aber zwölf ist nicht zwei, und die Zeiten, als sie ein Problemkind war, liegen lang zurück. Dennoch wünscht sich Scarlett seit Wochen immer öfter, am Rad der Zeit drehen zu können. Anfangs hat sie sich nur ein Jahr zurückgesehnt, an den Tag, an dem sie den Vertrag mit der Organisation Ärzte ohne Grenzen unterschreiben wollte – und es nicht getan hatte. Hätte sie nur! Dann wäre sie bei Ausbruch der weltweiten Pandemie in Uganda gewesen und nicht in Mount Pearl.
Ein Anflug von Wut erfasst sie. Sie reißt die Augen auf und schüttelt den Kopf. Was für ein idiotischer Gedanke!
Sie hebt die Tasse an, setzt sie vorsichtig an die Lippen und trinkt einen ersten Schluck. Das heiße Getränk erfüllt sie mit Wärme und vertreibt das Gefühl der Kälte, das sie bereits seit dem Aufstehen verspürt. Als ob sie nicht in ihrem wohltemperierten Zimmer unter der Daunendecke geschlafen hätte. Ein Schauer erfasst sie, dabei liegen die Temperaturen für Ende November im Durchschnitt, und es ist normal, dass sie nachts unter den Gefrierpunkt sinken. Neufundland ist nun einmal nicht am Äquator, sondern nicht weit vom nördlichen Polarkreis entfernt. Doch die Gänsehaut auf ihren Armen, die von dem dunkelblauen Wollpulli bedeckt ist, dessen Bündchen aus den Ärmeln des weißen Kittels hervorblitzen, hat nichts mit Kälte zu tun. Vielmehr ist es dieses Gefühl, für das sie immer nach wie vor keinen Namen gefunden hat.
Nostalgie nach Afrika kann es nicht sein, weil sie noch nie dort war, obwohl sie schon mit sechzehn ihren Lebensplan klar skizziert hatte. Highschoolabschluss mit siebzehn, College, Studium, Approbation, unmittelbar danach ein Jahr Afrika als frischgebackene Ärztin, um den Ärmsten der Armen zu helfen, gefolgt vom Eintritt in die Familienpraxis. Im Grunde genommen hat sie die ersten drei und den letzten Schritt durchgezogen. Das sind immerhin vier von fünf, sprich achtzig Prozent – und sie ist gerade erst dreißig geworden.
Ein Klopfen an der Verbindungstür zu Stephens Praxisraum, die zugleich aufschwingt, unterbricht ihre Grübelei.
»Hast du ausgetrunken?« Lizzie schiebt sich eine vorwitzige Haarsträhne hinters Ohr und schaut sie besorgt an.
Scarlett hebt die Tasse an die Lippen, leert sie, setzt sie ab und nickt mit einem erzwungenen Lächeln. »Jetzt schon.«
Ihre Stimme klingt so müde, wie sie sich fühlt.
»Du arbeitest zu viel, schläfst zu wenig, vor allem aber grübelst du zu viel. Hör auf damit, Scarlett. Du trägst nicht das Schicksal der ganzen Welt auf deinen Schultern.«
Nein, zum Glück nicht, sie hat mit ihrem eigenen schon genug zu tun. Nur braucht sie niemanden, der sie auch noch darauf hinweist, dass einfach nichts so läuft, wie es sollte. Oder wie sie es sich wünscht. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, ihre beste Freundin einzustellen, als die langjährige Mitarbeiterin ihres Vaters in den Ruhestand gegangen war. Sie hätte sich damals gegen Stephen durchsetzen sollen.
»Überlegst du schon wieder, mich rauszuschmeißen?« Lizzie fixiert sie und legt dabei die Stirn in Falten. Nur das Zucken ihrer Mundwinkel verrät ihre Erheiterung.
»Aber nein, wie kommst du denn darauf?« Scarlett verdreht die Augen.
»Ich sehe es dir an.« Lizzie grinst, nähert sich ihrem Schreibtisch und greift nach der Tasse. Dann macht sie kehrt und geht ein paar Schritte, bevor sie im Türrahmen stehen bleibt und sich zu ihr umdreht. »Du solltest versuchen, endlich einmal durchzuschlafen.«
»Und wie soll das gehen?«
»Das fragst du mich, Frau Doktor? Du hast Medizin studiert und kennst all die Mittelchen gegen Schlaflosigkeit. Aber da du mich schon um Rat bittest ...«
Scarlett schüttelt seufzend den Kopf. Lizzie hat diese Art von Kommunikation, mit der sie ihr Gegenüber zwingt, sie zum Weitersprechen aufzufordern, bereits mit sechs beherrscht. Möglicherweise bereits, als sie noch im Kindergarten waren. So genau kann Scarlett sich nicht erinnern.
»Jetzt sag schon!« Genervt greift sie nach einem der Plastikkugelschreiber, die sie als Gadgets an ihre Patienten verschenken, und wirft ihn Richtung Tür. Er trifft zwar nicht Lizzie, da er einen halben Meter vor ihr zu Boden fällt, aber das improvisierte Wurfgeschoss erfüllt seinen Zweck.
»Sex soll helfen, habe ich gehört. Das solltest du vielleicht wieder einmal ausprobieren.«
»Raus!« Scarlett greift blitzschnell nach dem nächsten Kuli, holt aus – und trifft wieder nicht. »Und lass den Nächsten rein«, ruft sie ihrer Freundin nach, die lachend die Tür zu Stephens Praxisraum hinter sich zuzieht.
Kurz darauf öffnet Lizzie nach einem kurzen Klopfen die andere Tür, hinter der sich der Eingangsbereich mit dem Warteraum der Praxis befinden, und lässt Lorna Peddle eintreten. Die ist schon seit Jahrzehnten Patientin der Winters, früher bei Scarletts Großvater, später bei ihrem Vater, jetzt bei ihr und Stephen.
»Sie müssen bei dem Wetter doch nicht herkommen, Lorna.« Scarlett geht ihr entgegen und reicht ihr die Hand zum Gruß.
Die alte Frau, die in der Grundschule ihre erste Lehrerin gewesen ist, lächelt sie an. »Solange ich gehen kann, werde ich doch Stephen nicht zwingen, auch noch bei mir einen Hausbesuch zu machen. Der hat ohnehin genug mit all diesen Hypochondern zu tun.«
Scarlett verbeißt sich die Bemerkung, die ihr auf der Zunge liegt. Manche Menschen wollen einfach nicht begreifen, dass es den Coronavirus tatsächlich gibt und es sich dabei nicht um die fantasievolle Erfindung irgendwelcher Staatsfeinde handelt. Andererseits kann sie derartige Meinungen auch irgendwie verstehen, denn in der ganzen Provinz Neufundland und Labrador wurden seit Beginn der Pandemie insgesamt nur wenige Hundert Infektionen verzeichnet, und hier bei ihnen, auf der Insel Neufundland, gibt es schon seit vielen Wochen keinen einzigen neuen Fall mehr. Aber Lorna Peddle gehört nicht zu denjenigen, die diesen pandemischen Virus als Lappalie abtun. Sie kann nur nicht verstehen, weshalb manche ihrer Altersgenossen ihre Häuser so gut wie nie verlassen, ständig ihre Wehwehchen beklagen und ihren Hausarzt bei jeder Kleinigkeit anrufen, damit er bei ihnen vorbeischaut. Die bezeichnet Lorna als Hypochonder. Damit hat sie nicht unrecht. Stephen legt jeden Tag viele Kilometer für Hausbesuche zurück, die eigentlich nicht nötig sind. Zumindest nicht, um körperliche Schmerzen zu lindern. Doch sie beide sind Ärzte und unterschätzen die Einsamkeit mancher ihrer Patienten als psychosomatische Ursache von Krankheitssymptomen nicht. Das ist es, was Lorna Peddle nicht versteht – sie leidet ja wahrlich nicht unter dem Alleinsein, aber sie ist störrisch und vergisst gern, dass sie die siebzig bereits überschritten hat.
»Darum geht es nicht, Lorna, das wissen Sie doch. Bei diesen Temperaturen besteht die Gefahr, dass es schneit, und der Schnee bleibt liegen und wird zu Eis, auf dem man ausrutschen kann.«
Lorna legt den Kopf mit den silberfarbenen Löckchen schräg und schaut sie nachdenklich an. »Kindchen, seit wann bist du denn heute schon hier eingesperrt?«
Scarlett verkneift sich ein tiefes Aufseufzen. Je älter Menschen werden, umso mehr ähneln sie kleinen Kindern. Konzentrationsdefizit, plötzliche Themenwechsel, manche brauchen Windeln. Bis dato hat Lorna aufgrund ihres Diabetes nur an unkontrollierbarem nächtlichem Harndrang gelitten, jetzt kommen offenbar auch die anderen Symptome dazu.
»Ich bin freiwillig hier, Lorna, nicht eingesperrt«, erklärt sie geduldig.
»Was aber nichts daran ändert, dass du offenbar nicht einmal beim Fenster hinaussiehst, denn sonst hättest du bemerkt, dass es schon seit Mittag schneit.«
Entgeistert wendet Scarlett den Kopf zum Fenster. Zwar schützt die Halbgardine vor unliebsamen Blicken von draußen, dennoch sind die großen Schneeflocken darüber nicht zu übersehen, noch weniger der riesige feuerwehrrote Pick-up, der soeben mit quietschenden Bremsen unmittelbar vor dem Haus hält. Sie kann zwar nur noch einen Teil des Hecks sehen, aber sie ahnt, dass es sich um einen Notfall handelte, noch bevor sie schwere Schritte und lautes Weinen aus dem Wartezimmer hört.
»Lorna, macht es Ihnen etwas aus, noch ein wenig zu warten?«
Die alte Frau schüttelt den Kopf und steht eilig auf. »Die Zuckerwerte und den Blutdruck kann Lizzie doch auch messen.« Sie deutet auf die Tür zu Stephens Praxisraum und ist bereits hindurch, als Scarlett die Klinke der anderen umfasst und sie weit öffnet.
Unmittelbar vor sich sieht sie ein Kind, ein kleines Mädchen mit weizenblonden lockigen Haaren, das von zwei starken Armen gehalten wird. Ihre Augen sind geschlossen und große Tränen kullern über ihre Wangen. Sie hält sich eine Hand mit der anderen.
Zumindest kein Blut, denkt Scarlett dankbar, tritt einen Schritt zur Seite und sagt, ohne aufzusehen: »Legen Sie Ihre Tochter da drüben auf die Liege.«
Noch während sie spricht, geht der Mann an ihr vorbei und sie hält den Atem an. Keine Jacke. Breite Schultern, schmale Hüften, enge Jeans, Boots. Sie inhaliert seinen Anblick wie ein Junkie das erste Dope am Ende einer langen Dürreperiode. Im Hintergrund hört sie das leise Wimmern des Mädchens – und kommt wieder zu sich. Resolut schließt sie die Tür hinter sich und geht zur Liege, wo der heiße Kerl das Kind ablegt.
»Sagen Sie mir bitte, was passiert ist?«
Sie hat die Frage noch nicht beendet, als ein Ruck durch den Körper des Mannes geht. Er versteift sich, dann richtet er sich auf und wendet sich langsam um.
Scarlett hebt den Kopf – und erstarrt.
Der Wahnsinnstyp ist nicht irgendeiner, sondern Liam Cranford. Derjenige, der ihr vor dreizehn Jahren das Herz gebrochen hat, als er von einem Tag auf den anderen mit seiner Familie aus Mount Pearl verschwunden ist.

Blick ins Buch (Leseprobe)

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