1. Juni 2017

'Bergballett: Aufstieg ins Glück' von Sabine Preisler

Hohe Berggipfel, wildromantische Landschaft und gemütliche Hüttenabende. So stellt sich Kitty ihre Reise nach Kirgistan vor. Vor allem möchte sie dem eintönigen Alltag als Ballettschullehrerin in Wien entfliehen. Um sich auf die Reise vorzubereiten, begibt sich die neunundzwanzigjährige Tänzerin auf eine geführte Bergtour in die österreichischen Alpen. Dort lernt sie Rupert, den Bergführer, kennen und kurz darauf überschlagen sich die Ereignisse. Das Bergsteigen wird für sie zur dramatischen Konfrontation mit ihrer eigenen Vergangenheit.

Bergballett ist ein romantisches Abenteuer, das in jedem von uns die Sehnsucht nach Liebe, Leidenschaft und den Bergen weckt.

Gleich lesen: Bergballett: Aufstieg ins Glück

Leseprobe:
Rachmatilla
"Wir denken selten an das, was wir haben, aber immer an das, was uns fehlt." (Arthur Schopenhauer)

Meine Geduld ist am Ende, so, wie auch der Akku meines Handys. Mit jedem Schritt verliert er ein Prozent an Leistung.
Die Menschenschlange bewegt sich schleppend weiter. Ungeduldig trete ich von einem Fuß auf den anderen und strecke gleichzeitig den Kopf in die Höhe, um zu sehen, weshalb es nicht voran geht.
„Ich sage dir, was wirklich außergewöhnlich wäre.“
Der Mann kommt näher, damit ich ihn besser hören kann.
„Wie bitte?“, frage ich und ahne nichts Gutes.
„Außergewöhnlich wäre, wenn du dir das Autogramm auf deinen Busen geben lässt. Das hat bestimmt noch keine vor dir versucht.“
Während ich nach einer Antwort suche, hypnotisiere ich das Handy in der Hoffnung, die verbleibenden zwei Prozent nicht zu verlieren.
„Das überlasse ich lieber den Frauen, die einen Busen haben“, murmle ich.
Meine Antwort führt dazu, dass sein Blick zu meinem Ausschnitt wandert. Um ihm mein Desinteresse zu zeigen, drehe ich ihm den Rücken zu. Die Frau vor mir schickt mir einen mitfühlenden Blick, und mir fällt auf, dass sie von Natur aus genug Autogramm Material hätte. Ich frage mich, warum er ausgerechnet mich anquatscht, wo ich doch so flach wie eine holländische Landschaft bin.
Der Busen fixierte Mann ist um die sechzig. Ich denke mir, dass auch er sich eine endlose Reihe von Frauen wünscht, die für ihn Schlange stehen, um ein Autogramm oder Foto zu bekommen. Aber dem ist nicht so, dafür müsste er schon ein Mitglied der Rolling Stones sein oder so etwas in der Art. Noch in meine Gedanken verstrickt, bin ich plötzlich an meinem Ziel angelangt. Der Mann, der vor mir steht, ist noch kleiner und zarter, als ich ihn aus dem Fernsehen kenne. Zwei wundervolle, mandelförmige Augen sehen mich fragend an.
„Can I have a Selfie, please?”, presse ich zwischen meinen Lippen hervor.
Er ist einverstanden. “Sure.”
Ich überlege kurz, ob es aufdringlich wäre, wenn ich meinen Arm um ihn legen würde, verwerfe den Gedanken aber gleich wieder, weil mir eh der Mut dazu fehlt. Er hingegen stellt den Körperkontakt überraschend schnell her, indem er sich ohne Scheu an mich schmiegt. Sein Duft steigt mir angenehm in die Nase. Mit der linken Hand, die leicht zittert, halte ich mein Handy vor unsere Gesichter und drücke ab. Geschafft. Die verbliebenen Prozent haben genügt.
Erleichtert drehe ich mich zu ihm und hauche ein „Thank you so much.“ Er nickt und wendet sich der nächsten Frau in der Schlange zu.
In mir breitet sich eine plötzliche Leere aus. Ich möchte noch nicht gehen, kann aber auch nicht stehen bleiben, weil ich sonst die Menschenmenge hinter mir blockiere. Tagelang habe ich auf diesen Moment gewartet und mir alle möglichen Dialoge im Kopf ausgemalt.
Wie betäubt gehe ich langsam zum Ausgang. Mein Handy hat sich vor zwei Sekunden ausgeschaltet, daher kann ich das Foto erst zu Hause ansehen. Ohne nachzudenken, finde ich den Weg zum Bahnhof und steige in den nächsten Zug. Die Fahrt zu mir nach Hause dauert ungefähr dreißig Minuten, ich starre während der gesamten Fahrt nur aus dem Fenster. Draußen ist es dunkel und von der Stadt ist nichts mehr zu erkennen. In mir tut sich ein Vakuum mit einem großen Fragezeichen auf: Was hast du erwartet, Kitty? Ein “Wow, you are so beautiful. Let’s go and have some coffee!”
Ich ärgere mich über meine Naivität. Es ist idiotisch, mit neunundzwanzig Jahren Groupie eines Alpinisten aus Bischkek zu sein. Abgesehen davon habe ich noch keinen Berg bestiegen, der höher als neunhundert Meter liegt. Ich weiß nicht einmal, ob „Berg“ für eine Erhebung unter tausend Metern die richtige Bezeichnung ist. Hügel oder Anhöhe sagen Profis vermutlich dazu.
Rachmatilla hat seit vier Monaten eine wöchentliche Fernsehsendung auf einem österreichischen Sportsender laufen, in dem seine Kletter- und Bergsteige Künste live, oder bereits zusammengeschnitten, dokumentiert werden.
Jeden Mittwoch erfinde ich in der Arbeit eine neue Ausrede, um pünktlich zur Sendezeit vor dem Fernseher zu sitzen. Letztes Mal hatte die Katze meiner Eltern einen Brechreiz und musste vor siebzehn Uhr zum Tierarzt gebracht werden. Was mich an ihm fasziniert, ist, dass er kein Risiko scheut und erst so richtig in Fahrt kommt, wenn das Projekt von anderen als unmöglich bezeichnet wird. Häufig kommt er zwar gar nicht ans Ziel oder bis zum Gipfelsieg, das lässt ihn in meinen Augen aber noch sympathischer erscheinen. Ich habe eine Schwäche dafür, ihm beim Scheitern zuzusehen.
In der Wohnung angekommen, schließe ich als Erstes mein Handy an das Ladegerät an, um in Ruhe das Foto betrachten zu können. Wie ich mich kenne, werde ich jedes Detail analysieren. Zum Beispiel, wie er seinen Kopf hält, ob er lächelt oder einen ernsten Ausdruck hat, oder ob ich ein Leuchten in seinen Augen erkennen kann.
Ich hoffe, mein pubertäres Verhalten löst sich bald in Luft auf. Und damit es schneller geht, gebe ich dem Bedürfnis nach, jedes Detail aus seinem Leben in Erfahrung zu bringen. Quasi, um die Magie aufzulösen.
Bis jetzt hat es nicht funktioniert. Im Gegenteil, ich rutsche immer weiter in das alpine Leben hinein und wünsche mir nichts sehnlicher, als Seite an Seite mit ihm einen Achttausender zu besteigen. Was zweifellos unrealistisch ist.
Endlich leuchtet das Handy auf. Ich öffne die Fotogalerie und bin erleichtert. Das Foto gefällt mir, obwohl Rachmatillas Gesicht Ähnlichkeit mit einer Maske hat. Sein breites Lächeln wirkt wie eingefroren. Die dichten schwarzen Haare vermitteln den Eindruck, als sei er eben erst aufgestanden. Er ist kleiner als ich. Im Internet ist seine Körpergröße mit einem Meter siebzig angegeben, was nicht stimmen kann. Es ist wohl wie mit den Frauen, die bei ihrem Körpergewicht gerne um ein paar Kilo schummeln.
Seine asiatische Hautfarbe ergibt einen schönen Kontrast zu meiner hellen Haut und den hellblonden Haaren. Ich stelle mir unsere gemeinsamen Kinder vor, die seine Gesichtszüge und meine Augen haben, und schüttle gleich darauf den Kopf, um in die Realität zurück zu kommen. Mit einundzwanzig Jahren denkt er bestimmt noch nicht an Nachwuchs, außerdem hatte unsere heutige Begegnung offenbar keinerlei besondere Wirkung auf ihn.
Mein Magen knurrt. Es ist kurz vor Mitternacht. Ich muss etwas essen. Im Kühlschrank finde ich ein Stück Brie und im Brotkasten etwas Schwarzbrot von letzter Woche. Über das Brot gebe ich einen Schuss Kürbiskernöl und setze mich mit der ersten Mahlzeit seit acht Stunden vor den Fernseher. Der Abend war ein Erfolg, auch wenn meine Erwartung zu hoch gewesen ist.

Im Kindle-Shop: Bergballett: Aufstieg ins Glück

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