'Wellenglanz und Inselträume' von Christine Jaeggi
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Die ehrgeizige Aurélie rechnet fest damit, zur Vizedirektorin ihres Traumhotels befördert zu werden. Stattdessen wird sie in das älteste und heruntergekommenste Hotel der Kette versetzt und bekommt den Auftrag, es wieder auf Vordermann zu bringen. Doch das ist alles andere als leicht.
Die Mitarbeiter sind faul, unmotiviert und nicht gewillt, Aurélie als neue Vorgesetzte zu akzeptieren. Allen voran der zynische Engländer und Golflehrer Jasper, der zwar attraktiv ist, aber Aurélie fast in den Wahnsinn treibt. Dann sorgt auch noch eine trächtige Riesenschildkröte für Aufregung. Bei ihren nächtlichen Besuchen der Schildkröte kommen sich Aurélie und Jasper näher. Auch im Hotel geht es langsam bergauf. Schließlich erhält Aurélie ein verlockendes Angebot. Doch um ihren Traum zu verwirklichen, muss sie sich zwischen Karriere und Liebe entscheiden …
Anleser:
Wie jeden Morgen bei Tagesanbruch ging Aurélie am Strand entlang und genoss es, ihn noch so unberührt und in seiner vollen Schönheit erleben zu können. Keine Sonnenanbeter, keine Schnorchler, keine Kite- oder Windsurfer. Nur ein Fischerboot am Horizont und Möwen, die ihre Runden drehten. Es war fast halb sieben, und allmählich ging die Sonne auf, färbte den Himmel in den unterschiedlichsten Orange- und Gelbtönen. Die Luft war erfüllt von Salz und Seetang, und Aurélie fühlte sich durch diesen Duftcocktail wie gestärkt, vergaß sogar für einen Moment das deprimierende Gespräch mit dem General Manager von gestern Abend. Sie ließ den gepflegten Hotelstrand mit seinen Strohschirmen und Liegestühlen hinter sich. Anstelle von Kokospalmen – die nur gepflanzt worden waren, weil sie der Idealvorstellung eines Paradieses entsprachen – säumten nun Filaos den Strand. Ihre benadelten Zweige wippten im Wind. Aurélie wusste, dass Touristen die Filaos, die auch Kasuarinenbäume genannt wurden, oft mit Pinien oder Lärchen verglichen.
Sie blieb stehen und atmete tief durch. Ein Gefühl tiefen Friedens breitete sich in ihr aus. Hier kam das wahre Mauritius zum Vorschein, sogar der Sand war rauer und wilder durch das vermehrte Schwemmholz und Korallengestein. Sie setzte sich in den Sand und betrachtete das Meer, dessen schäumendes Wasser über das Ufer und wieder zurück schwappte und unzählige Muscheln und Gestein zurückließ.
Plötzlich überfiel sie wieder eine bleierne Schwere, und auch wenn sie sich noch so sehr dagegen wehrte, kreisten ihre Gedanken erneut um das Gespräch von gestern Abend. Enttäuschung, aber auch Wut überkamen sie. Sie hätte diesen Posten als Vizedirektorin bekommen sollen, sie! Als sie erfahren hatte, dass Divash Gungaphul in Rente gehen würde, hatte sie sich gleich beworben und war zuversichtlich gewesen, als seine Nachfolgerin auserwählt zu werden. Tja, so konnte man sich täuschen.
Energisch ergriff sie etwas Sand und warf ihn weg. Dann sprang sie auf, zog ihre Tunika über den Kopf und rannte ins Meer hinein, tauchte ins Wasser und kraulte hinaus. Sie liebte dieses Gefühl der Schwerelosigkeit und Befreiung, wie wenn alles Negative von ihr abgewischt würde.
Als sie sich mit den sanften Wellen wieder ans Land spülen ließ wie eine gestrandete Meerjungfrau, sah sie drei Jeeps mit Surfbrettern auf den Dächern heranfahren, die hinter den Bäumen parkten und mehrere Leute in Neoprenanzügen ausspuckten. Aurélie seufzte. Die Windsurfer kamen auch immer früher. Aber kein Wunder, denn der Le Morne Public Beach gehörte zu den beliebtesten Surf Hotspots der Welt. Eigentlich umgab ein Korallengürtel die Insel – bis auf den Süden – und hielt Wellen und gefährliche Fische von den Stränden fern. Hinter dem Riff jedoch befand sich ein Surferparadies, welches sich von der Flachwasserlagune über das Little Reef entlang des Platin Rouge bis nach Manawa, Chameau und den berühmten Wellenspot »One Eye« erstreckte.
Aurélie hatte es auch schon versucht, aber leider war sie mehr im Wasser gewesen als auf dem Brett und musste irgendwann aufgeben. Bis auf das Schwimmen war sie leider vollkommen unsportlich.
Sie beobachtete, wie die Surfer mit erwartungsvollen Gesichtern auf das Meer schauten, und entschied sich zu gehen. Auf dem Weg zurück fiel ihr auf, dass über den Le Morne Brabant ein paar orange gefärbte Wölkchen zogen, die aussahen wie eine Schäfchenfamilie. Der 556 Meter hohe Berg, zu dessen Fuße die weißen Korallenstrände lagen und um den herum sich viele Hotels angesiedelt hatten, war das Wahrzeichen der Halbinsel Le Morne im Südwesten der Insel, wenn nicht sogar von ganz Mauritius. Seine Vergangenheit war jedoch überschattet von einem Drama, über das Aurélies Großvater oft sprach. Nach der Abschaffung der Sklaverei 1835 schickten die Briten eine Armee auf den Berg, um die versteckten Sklaven von ihrer neu gewonnenen Freiheit in Kenntnis zu setzen. Die Sklaven jedoch – überzeugt, man würde sie zurückholen – stürzten sich den Berg hinunter in den Tod, um einer erneuten Versklavung zu entgehen. Aurélies Großvater erzählte jeweils von einem Vorfahren namens Nouel, der den Tod gewählt hatte und seine schwangere Frau Gaelle zurückließ. Es existierte sogar eine Aufzeichnung von Gaelle, die Aurélies Großvater hütete wie einen Schatz. Trotz dieser Tragödie fühlte sich Aurélie durch Le Morne Brabant auf eine besondere Art beschützt, und für die Kreolen war er ein heiliger Berg.
Blick ins Buch (Leseprobe)
Labels: Christine Jaeggi, Familie, Liebe
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